Rattensommer -  Juliane Pickel

Rattensommer (eBook)

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2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-75700-5 (ISBN)
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Seit Wochen ist es mörderisch heiß. Lou und Sonny, 15, beste Freundinnen, vertreiben sich die Zeit in ihrem verlassenen Schwimmbad - und kommen sich näher. Aber mit der Hitze ist auch ein Schatten aus Sonnys Vergangenheit in die Kleinstadt eingezogen: Hagen Bender, der Mörder ihrer Mutter. Sonny will Rache - und Lou soll ihr helfen. Doch je mehr Lou über Bender erfährt, desto mehr Zweifel kommen ihr. Sie ist zwischen Liebe und Angst, Vertrauen und Eifersucht hin- und hergerissen. Darf sie zulassen, dass Sonny Schuld auf sich lädt - oder rettet sie sich selbst?

Juliane Pickel, geboren 1971, studierte Erziehungswissenschaften in Münster und Hamburg und arbeitet in der Online-Redaktion des NDR. Für 'Krummer Hund' erhielt sie bereits 2018 den Förderpreis für Literatur der Stadt Hamburg und 2021den Peter-Härtling-Preis.

IM TIEFEN


Jetzt fängt dieser Sommer auch noch an zu stinken.

Als ich über den Schulparkplatz zu meinem Fahrrad gehe, steigt mir der Geruch in die Nase. Ich bleibe stehen und ziehe die Luft ein. Es riecht, als würde darin irgendetwas Unsichtbares vermodern. Es riecht nach Tod.

Ich steige auf mein Rad und fahre los. Fahre trotz der Hitze immer schneller, als könnte ich den Gestank auf diese Weise abschütteln.

Dieser Sommer ist schon ohne diesen Gestank völlig irre. Es ist so heiß, wie es noch nie zuvor war, und trotzdem wird es jeden Tag noch heißer. Die Luft fühlt sich seltsam an, ganz anders als in anderen Sommern. Sie legt sich in einem aufdringlichen klebrigen Film auf unsere Haut, den man auch unter der Dusche nicht wieder loswird. Und dann sind da noch diese Massen an Insekten, viel mehr als sonst. Sie hängen in der Luft wie lebendige schwarze Wolken, man muss ständig aufpassen, dass sie einem nicht in den Mund fliegen.

Auch die Leute benehmen sich seltsam. Frau Urbanow von nebenan hat nach dreiundsechzig Jahren Ehe plötzlich ihren Mann rausgeworfen. Er ist vor ein paar Tagen mit einem Koffer die Straße hinuntergelaufen, und sie stand im Bademantel an der Haustür und sah ihm nach, und dann hat sie seine Kleidung im Vorgarten aufgetürmt und angezündet. Sie hat in die Flammen gesehen, bis die Feuerwehr kam.

Solche Sachen machen die Leute in diesem Sommer.

Und jetzt noch dieser seltsame Gestank.

Als ich endlich an unserem Schwimmbad ankomme, klebt mir mein Shirt schweißnass am Rücken. Ich lasse mein Fahrrad ins Gras fallen und zwänge mich durch das Loch im Zaun, dann laufe ich an dem verlassenen Kiosk vorbei über den vertrockneten Rasen, der früher mal die Liegewiese war.

Sonny sitzt unten im Tiefen und raucht, der Qualm kriecht aus dem Becken wie Rauchzeichen, ich sehe ihn schon von Weitem.

Sie war heute nicht in der Schule. Zeugnisausgabe ist nicht so ihr Ding.

Ich gehe bis zum Beckenrand und sehe auf sie herunter. Sie hat sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen, lehnt im Schneidersitz an der Wand und raucht mit geschlossenen Augen. Sie sieht schon ziemlich nach Ferien aus.

Und ich weiß nicht, warum, aber statt zu ihr runterzugehen, bleibe ich einfach stehen, mitten in dieser gnadenlosen Sonne, und sehe sie an, wie sie da unten in dem türkisblauen Kachelmeer sitzt mit ihren neongelben Boxershorts und dem löchrigen schwarzen Feinripp-Unterhemd, die Beine sommerbraun, die Haare sonnengebleicht. Ich sehe sie an, und ich denke, wie lässig sie aussieht.

Und wie schön.

Und ich habe absolut keine Ahnung, warum mir das plötzlich auffällt.

Als sie mich bemerkt und zu mir hochgrinst, schießt mir so ein Gefühl durch den Magen. Als würde ich irgendwo runterfallen.

Das muss dieser Sommer sein.

»Willst du dich da oben grillen lassen?«, fragt Sonny, und ich zucke zusammen und lache ein komisches Lachen, das gar nicht nach mir klingt. Es ist ziemlich sicher das uncoolste Lachen, das die Welt bisher gehört hat.

»Beweg deinen Hintern hier runter, Lou Marinko. Wir haben Ferien.« Sonny zieht zwei Fläschchen Jägermeister aus der Tasche und schwenkt sie hin und her. Und ich lache noch mal, diesmal wie immer.

Mein Handy klingelt – es ist mein Vater. Ich drücke ihn weg, lasse mich an der Leiter runter ins Becken und setze mich neben Sonny in den Schatten. Dann krame ich ihr Zeugnis aus meinem Rucksack und lege es ihr auf den Schoß. »Ich glaube, das gehört dir.«

»Oh, das wäre aber doch nicht nötig gewesen.« Sonny drückt das Zeugnis an sich wie ein großartiges Geschenk. »Sind denn Überraschungen dabei?«

»Religion«, sage ich.

Sonnys Zeugnis ist ziemlich mies, lauter Vieren, eine Fünf in Physik. Sogar in Sport hat sie nur eine Vier, weil sie das Turnen auf dem Schwebebalken als unter ihrer Würde erachtet hat. Nur in Religion hat sie eine Zwei. Ich deute darauf. »Was war denn da los?«

»Gott hat eben schon immer an mich geglaubt«, sagt Sonny und brennt mit der Zigarettenglut ein Loch in das Gut.

Sie tut immer, als wären Noten ihr egal, aber eigentlich wäre sie gerne besser in der Schule. Zugeben würde sie das aber nie, nicht einmal mir gegenüber, wieso auch? In der Schule denken sowieso alle, dass sie nichts auf die Reihe kriegt. Weil diese Sache mit ihrer Mutter damals passiert ist und sie jetzt ein Trauma hat.

Sonnys Mutter ist tot. Aber nicht, weil sie krank war oder so etwas. Sonnys Mutter wurde getötet.

Und das Schlimmste daran ist, dass der Grund dafür genau genommen einfach nur ein Cheeseburger war. Ein Cheeseburger, auf dem kein Käse war.

Das Ganze ist ziemlich genau fünf Jahre her.

Der, der das getan hat, sitzt im Knast. Seinen Namen würde Sonny niemals in den Mund nehmen und das darf auch sonst in ihrer Gegenwart keiner tun. Er ist der Lord Voldemort in Sonnys Geschichte.

Der Name ist Hagen Bender.

Mein Handy klingelt wieder. Ich drücke meinen Vater noch mal weg. Er will bestimmt nur wissen, wie der letzte Schultag war.

Sonny hält ihre Zigarette jetzt an eine Ecke ihres Zeugnisses, bis es Feuer fängt, und lässt es zur Seite fallen. Es segelt ein Stück durch die Luft, dann schweben die verbrannten Reste langsam zu Boden und bleiben auf den Kacheln liegen. »Ruhe in Frieden«, sagt Sonny und bekreuzigt sich.

Sie öffnet die beiden Fläschchen und hält mir eins davon hin, aber ich winke ab. Schnaps ist nicht so mein Ding. Sie zuckt die Achseln und prostet sich selbst zu, dann lehnen wir uns in einer synchronen Bewegung an die Beckenwand.

»Riechst du das eigentlich?«, frage ich. »Diesen Gestank? Was ist das?«

Sonny zieht die Luft ein und zuckt die Achseln. »Im Zweifel meine Zukunft. Oder Ruben Wenger hat extra krass gefurzt.«

Ruben Wenger sitzt in Physik vor uns. Er ist ein Klugscheißer mit Laktoseintoleranz. Ich verziehe das Gesicht und betrachte das Zeugnis. »Du könntest Pastorin werden«, sage ich dann.

»Nee.« Sonny winkt ab. »Dann muss ich sonntags früh aufstehen und hässliche Umhänge tragen. Und Sex haben darf ich dann auch nicht.« Sie sieht mich an. »Stimmt’s?«

»Doch, darfst du«, sage ich, und dann ist da schon wieder so ein komischer Moment. Sonny wirft ihre Zigarettenkippe dem Zeugnis hinterher, und dabei streift ihr Arm meinen, eine kurze, schwebende Berührung, kaum der Rede wert, aber ich zucke zurück, als hätte ich an einen Stromzaun gefasst.

Was zur Hölle.

»Shit«, sage ich, es rutscht mir so raus.

Unauffällig befühle ich meine Haut. Sie kribbelt, so ähnlich wie nach einer leichten Verbrennung, aber gar nicht mal unangenehm. Nur seltsam.

»Was ist los?«, fragt Sonny, und dann huscht ein Grinsen über ihr Gesicht, aber ich weiß nicht, was das für ein Grinsen ist, dabei weiß ich das eigentlich immer. Weil ich ihr Gesicht in- und auswendig kenne. Weil ich Sonny in- und auswendig kenne.

Unsere Eltern haben früher nebeneinander gewohnt, deshalb kennen wir uns schon, seit wir Babys waren. Ich bin mir aber sicher, dass sich unsere Seelen schon getroffen haben, bevor sie sich unsere Körper ausgesucht haben. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Sonnys Blut durch meine Venen fließt. Und oft spricht sie aus, was ich gerade denke. Dabei sind wir so unterschiedlich, als wären wir in zwei verschiedenen Galaxien aufgewachsen.

Sonny und ich, das funktioniert ungefähr so:

Sonny: dicke Hose – ich: Kaninchen vor Schlange.

Sonny: Was kostet die Welt? – ich: Wann geht sie unter?

Sonny wirft einen Stein – ich bezahle die kaputte Scheibe.

Auch optisch sind wir zwei Welten – Sonny schwedenblond und groß, ihr Körper sehnig, ihr Rücken gerade, der Blick immer nach vorne. Und daneben ich, kleiner, breiter, dunkler, immer leicht geduckt, man weiß ja nie.

Wir sind immer zusammen. Die anderen in der Schule nennen uns die Zwillinge. Aber sie verstehen das nicht. Sonny und ich, wir sind nicht zwei Gleiche. Sonny und ich, wir sind zwei Hälften eines Ganzen.

Wir sitzen eine Weile so da, ohne zu reden. Die Sonne ist gerade hinter der...

Erscheint lt. Verlag 19.7.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-407-75700-X / 340775700X
ISBN-13 978-3-407-75700-5 / 9783407757005
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