Luftmaschentage (eBook)
173 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-75760-9 (ISBN)
Anne Becker studierte Sonderpädagogik in Heidelberg. Sie arbeitet als Förderschullehrerin und lebt mit ihrer Familie im Ruhrgebiet. Mit ihrem ersten Roman ('Die beste Bahn meines Lebens') war sie für den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis und den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Zuletzt erschien von bei Beltz & Gelberg ihr Roman 'Luftmaschentage'.
1. Tag mit Ricci
Irgendwie lief nichts nach Plan.
Meine Finger waren steif gefroren. Meine Hose klebte feucht an meinem Hintern. Und ich hatte schon vier Mal versucht, in dem mickrigen Licht der Straßenlaterne einen neuen Faden einzufädeln. Aber das Schlimmste war: Der Brockner konnte jederzeit nach Hause kommen. Von seinem Wohnzimmerfenster aus hatte er einen prächtigen Blick auf den Baum, in dem ich saß.
Also höchste Zeit, fertig zu werden. Ich lutschte den Faden an. Eklige Wollfussel blieben in meinem Mund hängen, aber wenigstens rutschte das feuchte Ding jetzt endlich durch die Nadel. Mit zwei Fingern versuchte ich, die Fussel aus meinem Mund zu fischen.
»Was zur Hölle machst du da?«, fragte plötzlich jemand von unten.
Ich zuckte zusammen. Die Nadel fiel mir aus der Hand und verschwand irgendwo im Gras unter dem Baum.
Schnell klammerte ich mich am Ast über mir fest, beugte mich vor und starrte in die Dunkelheit. Direkt unter dem Baum stand eine schwarze Gestalt, aber erst, als ihre Kapuze ein bisschen verrutschte, erkannte ich sie: Riccarda. Die komische Neue aus meiner Klasse.
»Ziehst du dem Baum ’nen Pulli an? Damit er nicht friert oder was?«
Ich antwortete nicht. Natürlich nicht. Das lag an Madame Schüchtern, der Tiefseekrake in meinem Bauch. Sie hatte sich vor Schreck zu einem großen, harten Ball zusammengerollt. Schon klar, dass es die nicht in echt gab. Aber der riesige Kloß, der von unten gegen meinen Hals drückte, fühlte sich genau so an - Antworten unmöglich. Und außerdem war das eine total bescheuerte Frage.
Langsam rutschte ich auf dem Ast Richtung Stamm und versuchte dabei, von oben in dem kurzen, halb gefrorenen Gras den roten Wollfaden zu finden, an dem die Nadel hing.
»Suchst du vielleicht die hier?« Die Nadel blitzte in Riccardas Hand auf. Ich streckte mich nach der Nadel aus, aber Riccarda grinste und zog ihre Hand wieder zurück. Dann holte sie aus und wollte die Nadel gerade in hohem Bogen ins Nirgendwo schmeißen, als der Brockner durch die Dunkelheit brüllte: »Hey! Ich seh dich! Raus aus dem Garten!!«
Ich presste mich mit dem Rücken gegen den Stamm und machte mich ganz klein.
Haub ab!, schrie ich in meinem Kopf Riccarda zu. Verschwinde!
Manchmal klappte das. Bei Charlotte zum Beispiel. Dann guckte sie mich an und wusste einfach, was ich dachte, aber nicht sagen konnte.
Bei Riccarda funktionierte das definitiv nicht. Oder vielleicht doch und sie machte deshalb genau das Gegenteil.
»Hier!«, flüsterte sie. »Nimm das blöde Ding. Ich lenk ihn ab.« Sie hielt mir die Nadel hin.
Kaum hatte ich sie, marschierte Riccarda direkt auf den Brockner zu.
»Tut mir leid«, sagte sie, und ihre Stimme hörte sich dabei ganz fremd an, höflich und vorsichtig. »Ich dachte, das hier wäre öffentlich.«
»Ist es auch«, grunzte der Brockner. »Aber bei der Kirche rumgammeln ist trotzdem nicht drin.«
»Ach so. Dann sind Sie der Kirchen-Hausmeister?«
»Küster heißt das.«
Riccarda nickte. »Stimmt. Küster.« Dann seufzte sie theatralisch. »Ich such meinen Kater. Sie haben ihn nicht zufällig gesehen? Ronny, schwarz, rotes Halsband?«
»’ne Katze?«
»Ein Kater. Er ist gestern Morgen nicht nach Hause gekommen.« Riccarda zog die Nase hoch. Heulte die etwa?
»Hier war kein Kater.«
»Okay.« Sie schniefte wieder.
»Aber Kopf hoch. Der taucht schon wieder auf.«
»Okay.« Sogar ihre Stimme zitterte. »Sorry nochmal.«
Sie war wirklich gut. Es hörte sich voll echt an. Sogar Madame Schüchtern genoss Riccardas Show. Sie saß auf ihrem Sofa, alle Tentakeln entspannt von sich gestreckt.
»Das geht schon in Ordnung. Viel Glück noch bei der Suche.« Der Brockner drehte sich um und lief zu seinem Haus zurück.
Erleichtert atmete ich aus und lehnte meinen Kopf gegen den Stamm.
»So ein Idiot«, meinte Riccarda. Sie stand wieder unter meinem Baum und verdrehte die Augen. Das konnte sie ziemlich gut. Man sah nur noch das Weiße.
Ich kicherte. Unhörbar. Nur für mich.
Und dann sagte ich: »Er ist eigentlich ganz nett.«
Laut. Zu Riccarda. Einfach so. Fünf Worte. Eine absolute Sensation.
Auch Madame kniff kurz verwundert die Augen zusammen, dann kramte sie unter ihrem Sofa eine Konfettikanone raus und zündete sie in Lichtgeschwindigkeit. Die rosa Glitzerschnipsel kribbelten durch meinen ganzen Körper. Ich fühlte mich mutig. Und stark. Und unbesiegbar. Ich …
»Whatever«, meinte da Riccarda gelangweilt und setzte sich die Kapuze wieder auf. Natürlich hatte sie von meiner Sensation überhaupt nichts mitgekriegt. »Du bist mir auf jeden Fall was schuldig.«
Sie grinste und das winzige Steinchen, das auf ihrem Schneidezahn klebte, blitzte auf. Dann verschwand sie Richtung Straße. Ich schaute ihr nach. Das letzte Fitzelchen Konfetti trudelte zu Boden. Madame ließ sich erschöpft von der kurzen Party aufs Sofa fallen, und beim Brockner im Wohnzimmer ging das Licht an.
Schnell nähte ich mit vier, fünf großen Stichen den Rest fest, verknotete die Fadenenden und rutschte vom Baum. Geduckt sprintete ich quer über die Wiese zur Straße. Mein Hintern war mindestens so kalt wie meine Finger. Leider konnte ich nicht sofort nach Hause: Ich musste noch Brot holen.
Brot holen war in Ordnung. Für mich und für Madame. Ich mochte die Bäckerei. Die Wärme dort. Den Geruch nach Brot und Gebäck. Die immer gleichen Wörter: »Einmal das Roggenglück bitte.«
»Geschnitten?«
»Am Stück.«
Zwei Monate üben. Mit Aaron. Zuerst musste er noch mit mir reinkommen. Später reichte es, wenn er vor dem Geschäft auf mich wartete. Und irgendwann fing Madame an, die Bäckerei zu verschlafen. Seitdem war »Einmal das Roggenglück bitte« und »am Stück« kein Problem mehr für mich. Sechs Wörter. Laut.
»Alles gut?«, fragte meine Mutter, als ich das Brot auf den Küchentisch legte.
»Klar.« Ich zog die Jacke aus. »Wie immer.«
»Du hast so lange gebraucht.« Meine Mutter nahm das Brot aus der Tüte und klemmte es direkt in die Brotschneidemaschine. »Hab schon versucht, dich anzurufen.«
»Mein Handy liegt oben. Lädt gerade.«
»Aber Probleme gab es nicht, oder?«
»Mama!«
»Schon gut! Ich freu mich halt, wenn’s klappt. Und es dir dabei gut geht.«
»Wow!«, meinte ich. »Deine Tochter spricht mit der Bäckereifachverkäuferin!«
»Das ist doch erst der Anfang.«
Meine Mutter fing an, Brot zu schneiden, hörte aber nach zwei Scheiben schon wieder auf, seufzte und drehte sich zu mir um.
»Du weißt, dass du genau so bleiben kannst, wie du bist, oder, Mats? Auch wenn du da draußen nur beim Bäcker sprichst, ist für mich alles in Ordnung.«
Ich verdrehte die Augen. Nicht ganz so professionell wie Riccarda. Aber trotzdem. »Schon gut, Mama. Ist das Essen bald fertig? Ich verhungere.«
»Ich bleib auch, wie ich bin«, behauptete plötzlich Aaron hinter mir, ließ seine Sporttasche mitten in der Küche fallen, riss den Kühlschrank auf, trank den Orangensaft direkt aus der Packung, rülpste ultralaut und grinste zufrieden.
»Ich befürchte es«, stöhnte meine Mutter.
»Meinst du damit etwa, du bleibst für immer ungeduscht?«, fragte ich. »Stinkend?«
»Ich wünschte, du würdest auch bei uns einfach mal die Klappe halten.« Er schloss schwungvoll die Kühlschranktür.
Ich streckte ihm die Zunge raus. Pech für ihn, dass Madame Schüchtern zu Hause immer in den Tiefschlaf fiel und ich so viel reden konnte, wie ich wollte.
»Wie gut, dass nicht alle unsere Wünsche erfüllt werden«, sagte meine Mutter und wedelte sich mit der Hand vor der Nase rum. »Also geh einfach duschen, Aaron.«
»Du liebst mich doch auch stinkend!«, rief Aaron, als er aus der Küche ging. In der Tür drehte er sich noch einmal um und warf meiner Mutter einen Luftkuss zu. Dann zeigte er auf mich. »Was ist eigentlich mit deiner Hose passiert? Sieht aus, als hättest du …?«
Schnell bedeckte ich meinen Hintern mit beiden Händen.
»Hab mich...
Erscheint lt. Verlag | 19.7.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-407-75760-3 / 3407757603 |
ISBN-13 | 978-3-407-75760-9 / 9783407757609 |
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