Was, wenn wir genug sind? (eBook)

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2023 | 1., Auflage
464 Seiten
Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
978-3-522-65517-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was, wenn wir genug sind? - Erin Stewart
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Poetischer Schrei nach Hilfe In Lilys Kopf sammeln sich die Worte, die sie nicht sagen kann. Worte über die Nacht der blutigen Badfliesen. Worte über ihre psychisch kranke Schwester. Aber auch die Worte über ihre eigenen Gefühle und Sorgen. Während ihre Probleme so immer mehr zu ausgewachsenen Monstern in ihrem Kopf werden, wächst der Druck auf sie. Um ein Stipendium zu bekommen, muss sie gemeinsam mit Micah ein Kunstprojekt anfertigen. Doch kein Gedanke und kein Vers will auf das Blatt wandern. Micah verspricht ihr Hilfe - aber kann sie jemand aus ihrer Abwärtsspirale retten, der selbst mit seinen eigenen Monstern kämpft? *Trigger-Warnung* Schonungslos ehrlich beschreibt 'Was, wenn wir genug sind?' nicht nur das Innenleben seiner komplexen Protagonistin Lily, sondern auch die Selbstzerstörung, die ihre Zweifel und Ängste in ihr auslösen. Selbstverletzung, Depressionen und suizidale Gedanken werden eindringlich thematisiert, so dass dieses Buch noch lange nachhallt und zum Nachdenken anregt. Auch der Suizidversuch ihrer bipolaren Schwester Alice, dessen Auswirkungen auf die Familie sowiedas Stigma, das Mental Health Themen begleitet,wird Leser*innen nachhaltig beschäftigen. 

Erin Stewarts 'Was, wenn wir genug sind?' wurde vom renommierten Kirkus Reviews ausgezeichnet. Im Herzen eine Virginierin lebt Erin mittlerweile mit ihrem Mann und ihren drei Kindern im Schatten der Rocky Mountains. Ihren journalistischen Background nutzt sie am liebsten dafür, realitätsnahe Geschichten zu erzählen. Eins weiß sie dabei genau: Dass uns bestimmte Menschen begegnen und Stolpersteine unseren Weg kreuzen, hat immer einen Grund. Mehr Infos unter: www.erinstewartbooks.com

Kapitel 1

Zwei Monate nach der Nacht der Badezimmerfliesen fällt mir auf, dass ich dabei bin, in beängstigender Geschwindigkeit meinen Verstand zu verlieren.

Verlieren ist hier natürlich nur metaphorisch zu verstehen, weil ich zu der Erkenntnis gelangt bin, dass Verrücktwerden ein Prozess ist, kein einmaliges Ereignis, auch wenn eine Vielzahl bunter Redewendungen es anders erscheinen lässt.

Durchgeknallt.

Nervenzusammenbruch.

Einen Sprung in der Schüssel haben.

Aber Verrücktwerden trifft einen nicht wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Es ist eher wie ein feiner Regenschauer, den man nicht bemerkt, bis man eines Tages nach Luft ringt, weil man plötzlich und unwiderruflich feststellt, dass man in seinen eigenen Gedanken untergegangen ist.

Manchmal frage ich mich, ob es sich für Alice auch so angefühlt hat. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit ihr darüber zu reden, seit Dad mitten in der Nacht mit ihr davongefahren ist und sie im Fairview-Therapiezentrum abgesetzt hat. Gut, ich könnte ihr eine der zehn Milliarden E-Mails schicken, die ich seitdem angefangen und wieder gelöscht habe, oder ich könnte Dad und meine kleine Schwester Margot zu den wöchentlichen Besuchsterminen begleiten, aber nein, danke.

Dabei ist es nicht so, dass ich sie nicht sehen will, ich will sie bloß nicht so sehen, inmitten all der anderen ›Jugendlichen mit Problemen‹, wie es auf der Website heißt, die verspricht, meine große Schwester durch Reiten und Vertrauensübungen im grünen Gras wieder hinzubekommen.

Also bleibe ich bis nächsten Monat, wenn Alice aus ihrem Ferienlager für Psychiatriefälle heimkommt, im Ungewissen, ob wir im selben Zug nach Klapsenhausen sitzen. Alles, was ich weiß, ist, dass ich, Lily Larkin, im reifen Alter von sechzehn Jahren dabei bin, meinen verdammten Verstand zu verlieren.

»Entspann dich mal.« Sam schwingt ihren Geigenkasten auf das Pult neben mir, während sie mir den gleichen Ratschlag gibt, den ich seit der Neunten von ihr höre. »Die kleine Ader auf deiner Stirn wird schon wieder zornig.«

»Entspannung hilft mir hierbei aber nicht«, erwidere ich, ohne von meinen Karteikarten aufzusehen, auf denen ich jeden Vers meines Gedichts für den heutigen Vortrag aufgeschrieben habe.

Sam rupft mir die Karten aus der Hand. »Als deine beste Freundin ist es meine oberste Pflicht, dich vor dir selbst zu schützen.«

Ich versuche, danach zu greifen, doch sie haut mir mit einem Karateschlag auf den Arm und schiebt die Karten in die Gesäßtasche ihrer Jeans.

»Es ist bloß eine Note. Also chill, Lil.«

»Es ist nie bloß eine Note.« Ich massiere mir die Schläfe, um für einen Moment den Druck zu lösen, der meinen Kopf umschließt. Notiz an mich: Ich muss dringend mehr schlafen. »Nicht alle verfügen über dein angeborenes musikalisches Talent.«

Sam öffnet entrüstet den Mund und hält mir ihre Finger vor die Nase, von denen drei mit Pflastern umwickelt sind.

»Hallo? Die erste Geige hat auch ihren Preis, kapiert?«

»Dann komm mir nicht mit: Es ist bloß eine Note oder ein Solo oder sonst ein Irgendwas. Der Weg zum Erfolg ist eine niemals endende Reihe aus Dominosteinen und ein kleiner Fehler, eine winzige Unachtsamkeit reicht und alles geht den Bach runter.«

Sam verzieht das Gesicht. »Wie deprimierend.«

»Stimmt aber.«

Was es nicht besser macht, ist, dass wir der Begabtenklasse angehören, wo die Dominosteine in einem noch höheren Tempo fallen. Es gibt keine Pausen. Kein Durchatmen. Nur Stein nach Stein, der im perfekten Winkel kippen muss. Oh, und natürlich muss man sich bis spätestens zum Ende der Grundschule auf irgendein »Spezialgebiet« wie Geige oder Schwimmen festgelegt haben, denn was will man sonst mit seinem Leben anfangen?

»Dann schalte halt mal einen Gang runter«, rät Sam. »Oder siehst du hier sonst noch jemanden durchdrehen?«

Wie aufs Stichwort lässt sich Kali mit ihrem eigenen Stapel Karteikarten neben mich plumpsen. Es war einmal vor langer Zeit, irgendwann, als wir noch Kinder waren, da war Kali meine beste Freundin für alles. Das hielt jedoch nur bis zur Middleschool, wo sich immer deutlicher abzeichnete, dass wir besser darin waren, Rivalinnen zu sein. Schließlich sind wir beide Nerds, wenn es um Wörter und Sprachen geht, und stehen in sämtlichen Schreibwettbewerben und Klassenranglisten in direkter Konkurrenz zueinander. Befreundet sind wir zwar immer noch, aber inzwischen mehr so im Sinne von: Du musst den Feind kennen, um ihn besiegen zu können.

»Bereit?«, fragt Kali, ohne aufzusehen.

Als wäre ich nicht bis zwei Uhr morgens aufgeblieben, um an diesen Gedichten zu feilen. Jedes Mal, wenn ich dachte, ich sei fertig, war da ein kleiner Fleck oder ein unschöner Wortabstand oder irgendein anderer von einer Million Gründen, noch mal von vorne anzufangen – wieder und wieder und wieder, bis alles perfekt war.

»Und ob sie bereit ist«, ruft Sam. »Sie hat immer ihr Spitzen-Extraklasse-Material dabei.«

Sam drückt aufmunternd meinen Arm, als eine Gruppe von Schülern und Schülerinnen in Begleitung eines bärtigen Lehrers, den ich noch nie zuvor gesehen habe, hereinkommen und in der letzten Reihe Platz nehmen. Der Lehrer winkt sie näher, bis sie murrend in die erste Reihe umziehen.

Während Sam die Eindringlinge einer genauen Musterung unterzieht, fische ich meine Karteikarten aus ihrer Hosentasche. Sie wirft entnervt die Arme in die Luft und bedenkt mich mit ihrem besten Ich-bin-enttäuscht-von-dir-Blick, doch ich bin schon wieder bei meinen Worten, die ich in wenigen Minuten vor aller Augen vortragen muss. Allein bei der Vorstellung krampft sich mein Magen zusammen. Wobei: Wenn ich ehrlich bin, ist er sowieso dauerverkrampft.

Mrs Gifford klatscht in die Hände, um auf sich aufmerksam zu machen. Ihr Blick und ihr krauses rotes Haar sind noch wilder als sonst. Sie stellt uns die Neuankömmlinge als Kunstklasse vor und den bärtigen Mann als Mr Friedman, den Kunstlehrer. Kein Wunder, dass ich ihn nicht kenne. Ich war noch nie im Kunstraum, weil (1) ich über ungefähr null zeichnerische Fähigkeiten verfüge und (2) mein Stundenplan mit all meinen Kursen und dem Lauftraining schon so vollgepackt ist, dass für außerzeitplanmäßige Kunstversuche kein Platz mehr ist.

Gifford erklärt uns, dass die Kunstleute »wegen etwas ganz Tollem« hier sind, und gibt uns dann noch etwas Zeit, unsere Gedichte einzuüben, auch wenn ich den starken Verdacht habe, dass sie das nur macht, weil sie ihre tägliche Dosis Cola Light noch nicht ausgetrunken hat. Sie bekommt nicht mal mit, dass sich Damon, wie immer zu spät, auf den Stuhl hinter mir zwängt.

»Habt ihr ihn gesehen?«, fragt er und beugt sich vor, als wären wir bereits mitten im Gespräch.

»Wen?«, haucht Kali mit einem leicht säuselnden Unterton in der Stimme, denn OMG! Das ist Damon!, in den sie seit der fünften Klasse verknallt ist. Sie hat mir nie vergeben, dass ich in der Neunten einen bedauerlichen Monat lang mit ihm zusammen war. Damals hatte ich geglaubt, dass sich hinter seiner Arschlochhaftigkeit vielleicht doch ein liebenswerter Kern verstecken könnte. Spoiler: Ich lag falsch.

Dahinter ist er einfach auch eine Riesenpissnelke.

»Den Psycho«, raunt er mit kehliger Stimme, die er wohl aus einem Horrorfilm geklaut hat. Er nimmt einen tiefen Schluck von seinem Energydrink (dem offiziellen Letzte-Stunde-Wachmacher der Elften) und deutet mit einem Kopfnicken auf einen Jungen, der zusammen mit den Kunstleuten reingekommen ist. Eine neongelbe Sonnenbrille steckt in seinen dicken schwarzen Haaren und wackelt im Takt seiner Handbewegungen, während er etwas auf einen Block kritzelt.

»Ich bin überrascht, dass sie ihn überhaupt reingelassen haben«, meint Kali.

»Dass sie wen reingelassen haben?«, frage ich.

»Micah Mendez. Ist von seiner alten Schule geflogen. Ich hab gehört, jemand hat ihn oben auf Deadman’s Cliff gefunden, wo er, ihr wisst schon …« Damon fährt sich mit dem Daumen über die Kehle.

Kali beugt sich vor und flüstert: »Ich hab im Underground gelesen«, damit meint sie die Schlangengrube von Online-Klatschseite, wo die Leute den neuesten Tratsch der Ridgeline High posten, »dass er in seiner letzten Schule komplett durchgedreht ist. Also, so schlimm, dass sie die Bullen rufen mussten.«

»Ich hab gehört«, Damons Stimme ist laut genug, dass der Junge mit der Sonnenbrille ihn garantiert hören kann, »dass er unzurechnungsfähig ist. Hat das komplette letzte Jahr in der Klapse verbracht.«

Mein Magen krampft sich so fest zusammen, dass ich fast vom Stuhl kippe.

»Das nennt man Therapiezentrum, du Arsch«, weist Sam ihn zurecht. Sie wirft mir einen wissenden Blick zu, doch ich sehe schnell weg, weil ich Angst habe, dass Damon unseren heimlichen Austausch auffangen könnte. Sam ist die Einzige, die das mit Alice weiß, und so soll es gefälligst auch bleiben. Ich habe keinen Bock darauf, dass die Abgründe meiner Familie in der...

Erscheint lt. Verlag 28.9.2023
Übersetzer Ulrike Köbele
Sprache deutsch
Original-Titel The Words We Keep
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte All Age • Angst • Bipolar • Coming of Age • Depression • Gedichte • Gefühle • Hilfe • Hoffnung • Identität • Kunst • Liebe • Liebesgeschichte • Mental Health • perfektionistisch • poetisch • Psychische Probleme • Ritzen • Selbstverletzung • Suizid • Therapie • Trigger
ISBN-10 3-522-65517-6 / 3522655176
ISBN-13 978-3-522-65517-0 / 9783522655170
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