Fräulein Dezember und die Mondscheinbande (eBook)
192 Seiten
Knesebeck Verlag
978-3-95728-740-3 (ISBN)
Antonia Murgo arbeitet als Journalistin. Sie berichtet vor allem über Serien sowie Kino- und Animationsfilme. Sie beschreibt sich selbst als launisch, aber noch lange nicht so launisch wie ihre Figuren. Bei einer Sache ändert sie jedoch nie ihre Meinung: magische Kindergeschichten, die sie leidenschaftlich gern liest, schreibt und illustriert. Fräulein Dezember und die Mondscheinbande ist ihr Debüt.
Antonia Murgo arbeitet als Journalistin. Sie berichtet vor allem über Serien sowie Kino- und Animationsfilme. Sie beschreibt sich selbst als launisch, aber noch lange nicht so launisch wie ihre Figuren. Bei einer Sache ändert sie jedoch nie ihre Meinung: magische Kindergeschichten, die sie leidenschaftlich gern liest, schreibt und illustriert. Fräulein Dezember und die Mondscheinbande ist ihr Debüt.
1
IM SCHORNSTEIN
Fräulein Dezember blieb der Mund offen stehen. Sie rieb sich die Augen. Im Schornstein des Hauses saß ein Kind. Sie hatte schon Kinder in Wiegen und Wagen, in Briefkästen und Wäschekörben, in Kanonen und Tigerkäfigen gesehen, aber noch nie in einem Schornstein! Sein Kopf schaute wie eine Rauchwolke aus dem Mauerwerk, die rabenschwarzen Haare vom Wind zerzaust. Vielleicht hatte auch eine Amsel ein Nest zwischen seinen Ohren gebaut. Wer weiß … Was sie wusste, war, dass sie beobachtet wurde.
Niemand sonst war in der Auffahrt. Niemand sonst stand vor dem Zaun, der die Villa umgab. Das Haus war aus roten Ziegelsteinen gebaut und von einem kleinen Turm gekrönt. Knorrige Bäume standen um die Villa herum. Im Garten verstreut lagen ihre gelben Blätter und vor den Fenstern rankten Kletterpflanzen in die Höhe, als ob der Winter dort noch nicht angekommen wäre.
Fräulein Dezember zog den Zeitungssauschnitt mit der Stellenanzeige heraus und lief die Auffahrt entlang. Vor dem Haus angekommen, verglich sie die Adresse mit der Hausnummer an der Wand vor sich. Sie stimmte. Noch bevor Fräulein Dezember ihre Hand zum Klopfen heben konnte, öffnete sich die Tür.
»Sind Sie wegen des Vorstellungsgesprächs hier?«, fragte die Haushälterin. »Ich habe Sie durchs Fenster gesehen.«
Fräulein Dezember nickte und näherte sich vorsichtig.
»Da sitzt ein Kind im Schornstein«, flüsterte sie mit sorgenvoller Stimme.
»Wo soll es sonst sein?«, antwortete die Frau und klopfte sich Asche von der Schürze. »Folgen Sie mir, Herr Mondschein erwartet Sie.«
Fräulein Dezember zögerte. Sie warf einen letzten Blick zum Schornstein: Der Junge war verschwunden.
Langsam folgte sie der Haushälterin in eine breite Halle. Die Wände und das Geländer waren in einem warmen Kastanienbraun gehalten. Eine Treppe aus Kirschholz führte an der Wand in Richtung Westen nach oben. Auf der anderen Seite, hinter einer Reihe von verzierten Säulen, lag ein herrliches Speisezimmer.
Die Haushälterin ging weiter geradeaus und blieb vor einer zweiflügeligen Tür stehen, durch deren wabenförmige Fensterchen man bereits eine Bibliothek erahnen konnte. Der Raum war gleichzeitig ein einladender Salon: Ein Feuer brannte im Kamin, ein halbmondförmiges Sofa stand an der ebenfalls geschwungenen Wand, davor ein niedriger Couchtisch.
»Lassen Sie Ihre Sachen hier«, sagte sie und deutete auf eine Garderobe zwischen den Regalen. Dann fuhr sie sich noch einmal über die Schürze und ging davon.
Fräulein Dezember blieb allein zurück. Sie stellte ihren mit Tapetenresten beklebten Koffer auf den Boden, hängte den Mantel mit der Kapuze und den rot-gelben Hut in Form eines Wackelpuddings an den Haken und setzte sich dann auf das Halbmondsofa.
Sie betrachtete die zugezogenen Vorhänge, auf denen Buchfinken und Rotkehlchen abgebildet waren, die gemütlich auf Ästen herumsaßen. Außerdem bemerkte sie eine Stehlampe, einen vergoldeten Globus und einen gepolsterten Fußschemel mit Quasten. Nur den Mann, der direkt vor ihr saß, hätte sie fast übersehen.
»Herr Mondschein?«, fragte sie überrumpelt. »Wo kommen Sie denn plötzlich her?«
Der Mann nickte, würdigte sie aber keines Blickes. Er trug einen eleganten nachtblauen Anzug. Die Haare seines dichten grauen Barts standen von den Schläfen ab und sahen dabei aus wie aus einer Pfeife aufsteigende Rauchwolken. Mit seinem knochigen Zeigefinger fuhr er über ein Blatt Papier, das wie eine Ziehharmonika gefaltet war.
»Ohne Zweifel ist Ihr Lebenslauf der längste, den ich jemals gesehen habe, Fräulein Dezember«, sagte Herr Mondschein.
»Oh, danke.«
»Ich fürchte, das ist kein Kompliment.«
Fräulein Dezember biss sich erst auf die Lippen und krümmte sich dann zusammen, in der Hoffnung, auf diese Weise ein bisschen zu schrumpfen.
»Ich sehe, dass Sie in den letzten zwei Jahren zwar zahlreiche Arbeitsstellen hatten, die meisten aber nur für eine … sagen wir, sehr begrenzte Zeit.« Nachdenklich strich er sich über den Rauchwolkenbart.
»Es gab unvorhergesehene Zwischenfälle, ich meine … Hindernisse«, murmelte sie und versuchte, sich zu konzentrieren. Herr Mondschein hob abwehrend die Hand.
»Fahrscheinverkäuferin bei der Straßenbahn von drei bis fünf Uhr nachmittags. Für einen einzigen Tag.«
»Die Rolle mit den Fahrkarten hatte sich verklemmt und rollte weg, als …«
»Schuhputzerin für zwei Tage«, unterbrach sie Herr Mondschein.
»Niemand hat mir gesagt, dass man die Schuhcreme zuerst auf die Bürste geben muss, wenn ich das …«
»Blumenverkäuferin, drei Tage lang.«
»Das war ungerecht, die Blumen sahen noch frisch …«
»Von einigen Berufen wusste ich gar nicht, dass es sie überhaupt gibt: Erdbeerverkäuferin, Spitzenklöpplerin in einem Kaufhaus für Schmetterlinge, Musikautomatenstimmerin, Buchbinderin für Opernlibretti, Landkartenfälscherin. Letzteres macht mich neugierig. Worum geht es dabei?«
Fräulein Dezember beugte sich nach vorne und winkte ihn zu sich heran. »Den Windböweg gibt es eigentlich nicht«, flüsterte sie.
Herr Mondschein verzog das Gesicht. Dann begutachtete er weiter Dezembers Lebenslauf.
»Ich lese hier, dass Sie in einem Zirkus aufgewachsen sind. Jetzt sind Sie fünfzehn und seit zwei Jahren in der Stadt, um eine Stelle zu finden.«
Dezember nickte.
»Ich muss Ihnen leider sagen, dass Sie weder genug Erfahrung noch gute Empfehlungen haben. Und Sie sind sehr, sehr jung. Kennen Sie wenigstens die goldene Regel für Kindermädchen?«
Dezember dachte einen Moment nach. Kochen vielleicht? Nein, dafür gab es Köchinnen oder Haushälterinnen. Geschichten erzählen? Das konnten Eltern oder ältere Geschwister übernehmen, wenn man das Glück hatte, welche zu haben. Das Alphabet beibringen? Ach nein, dafür gab es Lehrer.
»Nun, ich …«
»Alles in allem denke ich nicht, dass Sie die Person sind, die ich suche. Ich danke Ihnen trotzdem für Ihre Zeit«, sagte Herr Mondschein. Als er aufstand, löste er seinen Zeigefinger von ihrem gefalteten Lebenslauf und deutete damit auf die Tür. Dann drehte er sich um, setzte sich hinter einen Mahagonischreibtisch am Ende des Raumes und widmete sich seinen Geschäften.
Fräulein Dezember stand enttäuscht auf, sie hatte ihre Finger so fest in den Stoff gebohrt, dass sie fast ein Loch hineingedrückt hatte. Würdevoll marschierte sie in Richtung Tür, nahm ihren Koffer auf und den Mantel von der Garderobe. Ihr rot-gelber Hut in Form eines Wackelpuddings aber war spurlos verschwunden.
Als sie ihn auf dem obersten Brett des Bücherregals erblickte, zuckte sie zusammen. Wie war er dort hingekommen? Die Holzleiter reichte nicht mal bis zur Mitte des Regals, und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, stand sie auch eingeklemmt zwischen dem Fußschemel, der Stehlampe und dem goldenen Globus.
»Sind Sie immer noch da?«, fragte Herr Mondschein, während er etwas auf einen Papierstapel kritzelte.
»Mein Hut«, antwortete Dezember und deutete auf das Regal.
Herr Mondschein sagte nur: »Holen Sie ihn sich ruhig.«
Wenn es der rote Hut mit den Wachspilzen oder der gelbe mit den Sonnenblumen gewesen wäre, hätte sie ihn dort zwischen den Büchern vermodern lassen. Aber dieser war ihr Lieblingshut.
Dezember raffte ihren Rock, nahm Anlauf und sprang. Mit dem rechten Fuß landete sie auf dem Schemel, lehnte sich zur Seite und sprang noch einmal. Dieses Mal landete sie mit dem linken Fuß auf der Leiter und stützte sich mit der rechten Hand auf der Stehlampe ab. Ein letzter Satz und sie erreichte den Globus, stellte sich auf die Zehenspitzen, drehte sich einmal herum, bis ihre Finger den Hut greifen konnten. Dann sprang sie nach unten ins Leere. Ihr Rock bauschte sich wie eine Wolke um ihre Hüften, und Dezember landete mit den Füßen sanft am Fuße des Schranks.
»Einen schönen Tag«, rief sie zufrieden und stülpte sich den Hut auf den Kopf.
»Sie haben die Stelle.«
»Wie bitte?«
Herr Mondschein sprang auf, lief um den Schreibtisch auf Dezember zu. »Möchten Sie hier immer noch anfangen?«, fragte er und musterte sie mit seinen großen grauen Augen.
Vielleicht hatten ihre guten Manieren ihn beeindruckt oder die Entschiedenheit, mit der sie ihm einen schönen Tag gewünscht hatte. Oder ihr guter Geschmack: Der rotgelbe Wackelpuddinghut war einfach einzigartig. Dezember nickte ungläubig.
»Gut, Fräulein Honig wird Ihnen Ihr...
Erscheint lt. Verlag | 19.1.2023 |
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Übersetzer | Ingrid Ickler |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Abenteuer • Abenteuergeschichte • Buch für Mädchen • Duftapotheke • Fantasy • Frau Honig • Geschenk für Kinder • Geschenk für Mädchen • Gestaltwandler • Kinder ab 8 Jahren • Kindermädchen • lustiges Kinderbuch • Mädchen-Buch • Magie • magisch • Mary Poppins • Nanny • Witzige Geschichte • Zauberei |
ISBN-10 | 3-95728-740-5 / 3957287405 |
ISBN-13 | 978-3-95728-740-3 / 9783957287403 |
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