Die Kunst zu fallen (eBook)
288 Seiten
Woow Books (Verlag)
978-3-96177-029-8 (ISBN)
Sally Engelfried arbeitet als Kinderbibliothekarin in Oakland, Kalifornien, wo sie mit ihrem Mann, zwei Katzen und einem Hund, der gerne Hausschuhe stiehlt, lebt. Die Kunst zu fallen ist ihr Debüt als Autorin.
Sally Engelfried arbeitet als Kinderbibliothekarin in Oakland, Kalifornien, wo sie mit ihrem Mann, zwei Katzen und einem Hund, der gerne Hausschuhe stiehlt, lebt. Die Kunst zu fallen ist ihr Debüt als Autorin.
Kapitel 1
Wo war er?
ANKUNFT stand auf dem Schild über meinem Kopf, also wusste ich, dass ich am richtigen Ort war. Ich konnte es einfach nicht fassen. Es passierte tatsächlich wieder.
Jedes Mal, wenn jemand in ein Auto einstieg, wurde ich noch angespannter als sowieso schon. Und das mulmige Gefühl in meinem Bauch, das ich schon den ganzen Morgen hatte, wurde immer schlimmer. Hatte Mom wirklich gedacht, wir könnten darauf vertrauen, dass er auftaucht? Ich war schon vor einer halben Stunde gelandet. Ich zog mein Handy aus der hinteren Hosentasche, aber dann fiel mir ein, dass Mom bestimmt noch im Flugzeug auf dem Weg nach Prag saß. Es würde nichts bringen, sie anzurufen.
Zum tausendsten Mal blickte ich die Haltezone auf und ab. Ob ich meine Großeltern anrufen sollte? Mom hatte mir gesagt, ich könnte mich im Notfall immer bei ihnen melden. Am Oakland Airport gestrandet zu sein, war doch wohl ein Notfall, oder? Ich fing an, durch meine Kontakte zu scrollen. Gerade als ich ihre Telefonnummer gefunden hatte, hupte jemand, und ein ramponierter blauer Toyota kam mit quietschenden Reifen genau neben mir zum Stehen. Mit einem breiten Grinsen sprang mein Vater aus dem Auto.
Langsam schob ich mein Handy zurück in die Hosentasche und starrte ihn an. Es war ewig her, dass ich ihn zuletzt gesehen hatte. Er sah genauso aus wie früher, abgesehen davon, dass der ungepflegte Bart fehlte.
»Daphne!«, rief er über das Autodach und winkte wie wild, als würde ich ihn sonst nicht bemerken.
Irgendwie konnte ich mich nicht bewegen.
Er knallte die Autotür zu, rannte zu mir rüber und nahm mich einfach so in die Arme. »Daf!«, murmelte er in mein Haar. »Es ist so schön, dich zu sehen.« Ich stand mit herabhängenden Armen da, während er mich drückte.
Und sagte kein einziges Wort.
Schließlich ließ er mich los, und ich trat einen Schritt zurück, um ein bisschen Abstand von ihm zu bekommen. »Ich kann nicht glauben, dass du schon zwölf Jahre alt bist«, sagte er mit einem Lächeln.
Wollte er damit Eindruck schinden, nur weil er wusste, wie alt ich war? Ich versuchte es mit dem Kalten Fisch. Dazu neigt man den Kopf etwas zur Seite, hebt die Augenbrauen ein wenig an und guckt so ausdruckslos wie möglich. Doch er sah mich mit so weit aufgerissenen, leuchtenden Augen an, als wäre mein Anblick das Beste auf der Welt überhaupt. Das löste etwas in mir aus, was ich schon lange nicht mehr gespürt hatte.
Ich wandte mich ab, betrachtete das Meer von Autos auf dem Parkplatz und blinzelte ein paarmal. Drei Jahre, sagte ich mir. Drei Jahre, und er ist nur hier, weil Mom einen Babysitter braucht.
Ich drehte mich wieder zu ihm hin, als er den Griff meines Rollkoffers nahm. »Lass mich das machen«, sagte er. Er sah auf meine Hände runter und dann in mein Gesicht. »Dein Board hast du nicht dabei, hm?«
»Nö.« Diesmal gelang es mir besser, den Kalten Fisch hinzukriegen. »Ich skate nicht mehr.«
»Oh.« Jetzt leuchteten seine Augen nicht mehr ganz so hell. Dann ließ er sein Grübchen aufblitzen, dasselbe, das sich auch auf meinem Gesicht zeigte, wenn ich lächelte. »Zu Hause habe ich noch ein extra Skateboard, vielleicht hast du ja doch wieder Lust.« Er hievte meinen Koffer hinten ins Auto. »Was meinst du?«
Ich zuckte mit den Schultern, den Blick auf den Boden gerichtet. Mein Vater räusperte sich. »Na, dann steig mal ein. In zwanzig Minuten sind wir zu Hause.«
Im Auto trommelte er mit den Händen auf dem Lenkrad rum, während er darauf wartete, dass die Ampel an der Flughafenausfahrt auf Grün schaltete. »Dann bist du also nicht die Königin des Skateparks? Machst keine Tricks?«
»Nö.« Ausdruckslos und dumpf presste ich das Wort hervor. »Keine Tricks.«
Ich starrte aus dem Fenster, aber er ließ nicht locker. »Oma und Opa freuen sich schon sehr darauf, dich zu sehen.«
»Oh.« An meine Großeltern hatte ich bei dieser Reise gar nicht gedacht, erst als Mom ihre Telefonnummer in mein Handy eingab. Ich sollte sie sofort anrufen, wenn ich meinen Vater auch nur einen Schluck Alkohol trinken sah, »selbst wenn es nur ein Schlückchen Bier ist«, hatte Mom beharrt.
»Morgen Abend gehen wir zu ihnen zum Abendessen.«
»Okay.« Vielleicht war ich nicht gerade begeistert davon, hier bei meinem Vater zu sein, aber es würde bestimmt nett sein, meine Großeltern mal wieder zu sehen. Das letzte Mal war so lange her, dass ich schon gar nicht mehr wusste, wie sie aussahen. Doch jedes Jahr an Weihnachten und zu jedem Geburtstag schickten sie mir eine Karte mit einem druckfrischen Fünfzig-Dollar-Schein. »Nur weil sie dir Geld schicken, bedeutet das nicht, dass du ihnen irgendetwas schuldest«, erinnerte mich Mom gerne, aber das hieß wohl, sie machten sich doch irgendwie etwas aus mir, wenigstens ein bisschen.
»Also, zu Hause ist es etwas chaotisch. Ich bin noch dabei, alles herzurichten.« Mein Vater gab sich Mühe, das Gespräch weiter am Laufen zu halten.
»Alles gut.« Ich spürte, wie er mich ansah, starrte aber weiter aus dem Fenster. Ich hätte nicht gedacht, dass es in Oakland so viel anders sein würde als in Los Angeles. Der Himmel hier hatte eine andere Farbe – weiße Wolkenfetzen ließen das Blau noch blauer aussehen, verglichen mit der grellen Helligkeit von L.A. Wäre Mom jetzt hier, würden wir versuchen herauszufinden, was sonst noch anders war: Standen die Häuser enger zusammen? Waren die Bäume grüner? Aber neben mir saß nur mein Vater, also guckte ich weiter aus dem Fenster und machte mir allein Gedanken darüber, bis er vor einem kleinen Haus mit einer breiten Veranda und abblätternder grüner Farbe hielt.
»Ja«, mühte er sich weiter. »Ich glaube, das wird hier irgendwann richtig schön werden. Deine Großeltern waren so froh, als ich endlich … Na, jedenfalls haben sie mir mit dem Haus geholfen. Ohne sie hätte ich es mir nie leisten können, hier zu wohnen.«
»Nicht schlecht«, murmelte ich. Sie haben ihm ein Haus geschenkt? Wusste er nicht, wie oft Mom unsere Mitbewohner wegen der Miete anbettelte oder dass wir mal vor ein paar Jahren bei ihrer Freundin Sheri zwei Monate auf dem Gästesofa schlafen mussten?
Mein Vater redete weiter. »Es ist sehr renovierungsbedürftig, nichts Besonderes. Mein Freund Gus ist Bauunternehmer und wohnt nebenan. Wir haben eine Abmachung: Ich helfe ihm zuerst bei seinem Haus, und dann hilft er mir bei meinem. Aber als ich vor ein paar Monaten erfahren habe, dass du kommst, haben wir die Reihenfolge umgedreht, damit wir dein Zimmer fertig machen konnten. Und wir haben es geschafft.«
»Vor ein paar Monaten?«, sagte ich und war so überrascht, dass ich vollkommen vergaß, weiter den Kalten Fisch zu geben. »Aber Mom hat die Rolle doch gerade erst bekommen.«
»Stimmt.« Wieder trommelte er mit den Fingern auf dem Lenkrad rum, warf mir einen kurzen Blick zu und guckte dann schnell wieder weg. »Na ja, ich habe einfach gehofft, dass sie sie bekommt.«
»Oh.« Das war seltsam. Seit zwei Jahren führten mein Vater und ich einmal im Monat ein peinliches Telefongespräch, und soweit ich wusste, redeten Mom und er nur in der Minute miteinander, bevor sie mir das Telefon weiterreichte. Wieder hatte ich so ein komisches Gefühl im Bauch, weil ich Mom und unser Zuhause plötzlich total vermisste. Es fühlte sich falsch an, diesen Vater zu besuchen, den ich kaum kannte, in einem Zimmer zu wohnen, das mir gehörte, aber das ich noch nie gesehen hatte, mit Großeltern zu Abend zu essen, an die ich mich kaum erinnern konnte.
Aber es spielte keine Rolle, wie sehr ich Mom oder unsere kleine Wohnung vermisste. Sie war nicht zu Hause, und wir hatten die Wohnung an einen befreundeten Schauspieler untervermietet. Und so wütend ich auch auf sie war, weil sie mich weggeschickt hatte, wusste ich schon, um was es hier ging: Dass sie diese Filmrolle bekommen hatte, war eine große Sache. Es würde unser Leben verändern, hatte sie gesagt.
Und außerdem würde ich bald bei Mom in Prag sein, und dann konnte mir mein Vater egal sein.
Mein Vater sagte nichts mehr, als er die Treppenstufen zur Veranda hochging. Er fummelte mit seinem Schlüsselbund rum und ließ ihn zweimal fallen. Als er endlich die Tür aufgeschlossen hatte, blickte er über die Schulter und lächelte. Ich folgte ihm nach drinnen, als mir etwas klar wurde. Ich war nie irgendwo gewesen, wo mein Vater wohnte. Er hatte mich immer abgeholt. Oder Mom hatte mich zu irgendeinem Treffpunkt gefahren. Das machte diese ganze Situation noch merkwürdiger.
Meine schwarzen Vans hinterließen Spuren auf dem Holzfußboden in dem kleinen Wohnzimmer. Alles wirkte etwas unfertig – es gab ein abgewetztes braunes Sofa und ein Bücherregal, in einer Ecke standen noch Kartons, und an der Wand lehnte ein Stapel Bilderrahmen. Mein Vater lachte ein bisschen verlegen, als er mir die Küche zeigte, die klein und dunkel war, mit einem hässlichen gelblich grünen Herd. »Die renoviere ich auch noch irgendwann. So oft koche ich zwar nicht, aber sogar ich kann sehen, wie scheußlich es hier aussieht.« Als ich nicht antwortete, verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. Er führte mich den Flur hinunter und zeigte auf eine Tür. »Badezimmer.« Dann auf die nächste Tür. »Mein Zimmer.« Und dann öffnete er am Ende des Flurs eine Tür. »Und hier ist dein Zimmer.«
Mir blieb vor Staunen der Mund offen stehen.
Es war riesig.
Noch nie hatte ich ein eigenes Zimmer gehabt. Mom und ich zogen oft um. Bis vor Kurzem hatten wir immer ein Haus mit anderen Leuten geteilt; als wir also letztes Jahr in unsere eigene Einzimmerwohnung gezogen waren,...
Erscheint lt. Verlag | 18.5.2023 |
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Illustrationen | Chris Danger |
Übersetzer | Barbara König |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Familie • Familienchaos • Familiengeheimnis • Freunde • Freundschaft • Lebenserfahrungen • Skateboard • Skaten • Sommerferien • starkes Mädchen • Streit • Vater • Vater-Tochter • Vater und Kind • Versöhnung |
ISBN-10 | 3-96177-029-8 / 3961770298 |
ISBN-13 | 978-3-96177-029-8 / 9783961770298 |
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