Exilium (eBook)
336 Seiten
Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
978-3-522-65530-9 (ISBN)
Colin Hadler wurde 2001 in Graz geboren. Schon im Alter von 12 Jahren spielte er in Schauspielhäusern Theater - manchmal durfte er sogar mehr als nur einen Baum verkörpern. Der 2019 erschienene Debütroman Hinterm Hasen lauert er schlug große Wellen. Hadler lebt in Wien. Der Autor steht für Lesungen zur Verfügung.
1
»Ich bin mir nie sicher, ob deine Katze überfahren wurde oder ob das dein normaler Gesichtsausdruck ist«, sagt Dorian und wischt sich mit einer Serviette den Mund ab. »Aber wie man es auch dreht und wendet, dein Burger wird trotzdem kalt.«
Ich blinzle mehrmals. Dann richte ich mich auf, strecke mich, um meinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen. »Du weißt doch, dass ich keine Katze habe«, murmle ich und nehme einen Schluck von meinem Softdrink.
»Keine Katze, keine Nerven, keinen Appetit«, ergänzt Dorian. »Nenn mir lieber eine Sache, die du hast.«
Kopfschmerzen, denke ich und werfe einen Blick zu den anderen Tischen. Die gestressten Familien mit ihren schreienden Babys sind kaum auszuhalten.
Faszinierend hingegen ist die Bulldogge neben uns. Seelenruhig sabbert sie vor sich hin, so auch die Frau, die den Hund an der Leine hat. Der ältere Mann am Schalter erkundigt sich seit einer halben Stunde nach einem Mädchen namens Claudia – und der Mitarbeiter entgegnet ihm zum hundertsten Mal, dass er zwar keine Claudia, aber eine große Cola und einen Cheeseburger haben kann. Das ganze Einkaufscenter ist der Inbegriff von Belanglosigkeit.
»Ich bin einfach ein bisschen neben der Spur«, verteidige ich mich.
»Ein bisschen?« Dorian schmunzelt. »Du fährst gerade mit einem Dreirad über die Autobahn. Deine Spur ist nicht einmal in Sichtweite.«
»Okay, gut. Du hast ja recht.« Ich nehme einen Bissen von meinem Burger, der noch schlechter schmeckt, als er aussieht. »Ich musste bloß an Nia denken.« Und an den Traum von letzter Nacht. Nur den erwähne ich nicht.
»Freu dich doch! Sie will sich mit dir treffen. Das ist kein Grund, traurig zu sein.« Dorians Gesichtsausdruck verändert sich schlagartig. »Du bist traurig. Das ist es, oder?« Er sieht mich besorgt, geradezu mitfühlend an. »Soll ich dich umarmen?«
»Nein!« Ich schüttle den Kopf. »Nein, nein, nein!«
»Du brauchst eine lange, feste Umarmung.«
»Auf keinen Fall!«, wiederhole ich. »Ich brauche –«
»Liebe von deinem besten Freund!«
Ich verdrehe die Augen. »Eine Kopfschmerztablette würde reichen. Ich brauche keine …« Dorian fängt an, sich über den Tisch hinweg zu mir zu strecken. »Hey! Lass das«, fauche ich, doch er hat mich schon halb umschlossen.
»Pscht«, flüstert er mir mütterlich ins Ohr. »Ich bin hier.« Dorian tätschelt mir den Rücken. »Alles ist gut.«
»Alles war gut«, erwidere ich. »Jetzt ist es einer der schlimmsten Momente meines Lebens.«
»Ich weiß«, antwortet Dorian. »Das weiß ich. Deswegen bin ich für dich da.«
»Nein, ich … Ach, vergiss es.«
Nach einigen schier endlos wirkenden Sekunden lässt er von mir ab und widmet sich seinem Essen.
Dass sich Nia mit mir treffen will, macht mich nicht traurig – ganz im Gegenteil. Ich verliere mich nur manchmal in meinen Gedanken. Vor allem hier, zwischen rot-weiß gestreiften Sitzbänken und leuchtenden Anzeigetafeln, auf denen Salatblätter und Tomatenscheiben durch die Gegend sausen. Wenn ich mit meinem Kopf woanders bin, kann das selbst Dodo nicht ändern.
Ja, Dodo.
So nenne ich Dorian ab und zu, wenn er sich verhält, als könnte er im nächsten Moment aussterben.
Warum Dorian und ich beste Freunde sind, ist schwer zu sagen. Manche Dinge passieren eben einfach. An dem einen Tag rutscht man in der Dusche aus, am anderen donnert man gegen eine Straßenlaterne – und ja, ich hatte plötzlich Dodo an der Backe.
Wir hängen gemeinsam ab, lästern über unsere Mitschüler und … tun noch andere Dinge, die von einer Freundschaft erwartet werden. Auf seine geliebten Partys begleite ich ihn jedoch nicht.
Dorian liebt das Feiern. Wenn er gut drauf ist, kuschelt er mit jedem, der ihn nicht mit einer Pistole bedroht. Er hat mexikanische Wurzeln – und die freundliche Mentalität seiner Eltern spiegelt sich bedauerlicherweise in seinem Charakter wider. Aber auch das Temperament. Dodo ist ein Klischee auf zwei Beinen. Während andere in den sozialen Medien unterwegs sind, ist er in irgendwelchen Clubs und tanzt sich die Seele aus dem Leib. Bei einem seiner letzten Ausflüge ist er sogar mit einem selbst gestochenen Ohrring aus einer Bar getorkelt.
Immerhin besser als mit einer Geschlechtskrankheit!
»Hast du den Zettel behalten?«, fragt mich Dorian schmatzend.
»Klar«, sage ich und ziehe demonstrativ das Stück Papier aus meiner Hosentasche, das mir Nia heute Vormittag in den Spind geworfen hat.
Verträumt mustere ich ihre Handschrift:
Morgen. 11 Uhr 30.
Café Zentral.
Wehe, du kommst zu spät.
Nia.
»Darf ich mal sehen?«
Schnell packe ich den Zettel wieder weg. »Du würdest es nicht verstehen.«
»Nicht verstehen?« Dorian verschluckt sich fast vor Lachen. Er hustet, ein weiterer Griff zur Serviette. »Du hast noch nie mit Nia geredet und jetzt willst du mir weismachen, ihr hättet schon eure eigenen Insider?«
»Nein.«
»Denkst du etwa, ich bin dumm?«
Ich schnalze mit der Zunge, sage: »Jetzt kommen wir der Sache schon näher.« Mein bester Freund grinst, als wolle er mich für meinen guten Konter belohnen. »Sie hat nicht viel geschrieben«, gestehe ich ihm schließlich. »Die Uhrzeit, wo wir uns treffen …«
»Und?«
Selbstsicher lehne ich mich zurück. »Und geflirtet hat sie auch mit mir. Aber eher … zwischen den Zeilen. Wie gesagt, du würdest es nicht verstehen.«
Dodo seufzt. »Ich wünschte, ich könnte dir auch nur ein Wort glauben.«
Wenn ich ehrlich bin, kann ich es noch nicht einmal selbst glauben. Nia muss meine vernarrten Blicke in den Pausen bemerkt haben. Meine Nervosität, wenn ich in ihrer Nähe bin. Ich kann es nicht richtig beschreiben, aber dieses Mädchen … Nia ist einfach …
»Wirst du es ihr sagen?«, hakt er nach.
»Was denn?«
Dorian deutet auf meinen rechten Arm, der vollständig von einem Handschuh verdeckt wird. Als ich nicht antworte, sagt er: »Du solltest stolz darauf sein. Ehrlich! Mit deinen 17 Jahren hast du mehr Ahnung von Technik als meine Großeltern vom Leben.«
Ich hole meinen Laptop aus meiner Tasche und klappe ihn auf. »Apropos. Mir ist gestern Abend eine Idee gekommen.«
»Oh Gott.« Dodo versinkt förmlich in seinem Stuhl. »Ich habe die Büchse der Pandora geöffnet.«
»So schlimm wird es nicht«, nuschle ich und tippe etwas in meine Tastatur.
»Das sagst du immer«, erwidert er und fängt beiläufig damit an, seine Sachen zu packen. »Bitte lass nicht das ganze Einkaufscenter in die Luft fliegen.«
Ich fokussiere mich auf das Display. »Keine Sorge. Ich mische den Laden nur ein wenig auf. Sonst versauern wir hier noch.« Als ich meinen Blick hebe, verspüre ich eine Vorfreude, die nicht wirklich auf Dorian überzugehen scheint. »Ich finde, auf den Bildschirmen und Anzeigetafeln waren genug Salatblätter zu sehen.«
Dorian kneift die Augen zusammen. »Du willst etwas abspielen? Auf allen Monitoren?« Er schnauft, schluckt die letzten Reste seines Burgers hinunter. »Stimmt. Meine Sorgen sind absolut unbegründet.«
Jeder, der in dieses überfüllte Einkaufscenter trottet, kauft und kauft, isst und trinkt, wartet und wartet – aber auf was eigentlich? Im Grunde wollen wir die Erlebnisse doch gar nicht in uns aufnehmen, die wir hier erleben. Wir konsumieren einen Reiz nach dem anderen, sodass wir den ersten schon vergessen haben, ehe der neue in unser Visier gerät. Scheinheiligkeit, wohin man auch blickt.
Deswegen habe ich es mir als Aufgabe gesetzt, den Menschen etwas zu geben, das sie ausnahmsweise mal nicht vergessen. Etwas, auf das sie schon die ganze Zeit gewartet haben. Sie wissen es nur noch nicht.
Mit dem Hacken habe ich angefangen, da war ich sieben. Die virtuelle Welt war mein Stofftier, mein sicherer Hafen, an dem ich anlegen konnte, wenn mich die Realität erdrückt hat. Im Laufe der Jahre habe ich allerdings gelernt, dass ich vor der Wirklichkeit nicht fliehen muss – wo ich sie doch nach Belieben steuern kann. Hacken ist für mich Kunst.
Unsere Spezies ist vom Affen zum Menschen und vom Menschen zu Glas geworden. Ich weiß, was jemand spricht, textet, aufnimmt und tut. Wo jemand ist, was er mag und wie oft er sein digitales Ich infrage stellt, aber nichts daran ändert. Der Mensch kann sein Smartphone gar nicht besitzen, wo er doch selbst zu ebenjenem geworden ist.
Bei meinen Freunden bin ich etwas gehemmter. Was den Suchverlauf angeht, übermannt mich aber auch hier öfter mal die Neugierde. In Dorians Fall habe ich viele Bilder entdeckt. Nackte Männerbeine, nackte Männerbrüste, nackte Männerköpfe, nackte … nun ja, irgendwann hatte er jedes Körperteil durch. Soll er mir doch einfach sagen, dass er schwul...
Erscheint lt. Verlag | 24.2.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | action • Digitale Welt • Erste Liebe • Freundschaft • Future Fiction • Jugendthriller • Manipulation • Mobbing • Nahe Zukunft • Nanobots • Selbstjustiz • Spannung • Thriller • Totale Überwachung • Überwachung • Unzuverlässiger Erzähler • Verschwörung |
ISBN-10 | 3-522-65530-3 / 3522655303 |
ISBN-13 | 978-3-522-65530-9 / 9783522655309 |
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