Waraka (eBook)
304 Seiten
Thienemann Verlag GmbH
978-3-522-62184-7 (ISBN)
Tobias Goldfarb hat Internationalen Journalismus in London studiert und als Journalist und Hörspielautor unter anderem für den WDR und das Deutschlandradio gearbeitet. Als Autor und Regisseur hat er Theaterstücke für zahlreiche Bühnen verfasst und inszeniert. Auf der Jagd nach neuen Geschichten wandert er gerne durch die schottischen Highlands, die Brandenburger Lowlands und andere Gegenden mit möglichst weiten und spektakulären Himmeln. Tobias Goldfarb lebt mit seiner Familie in Berlin. »Niemandsstadt«, sein erster Roman für Jugendliche, wurde mit dem Rattenfänger-Literaturpreis 2022 ausgezeichnet.
KAPITEL 1
Heute ist der Tag, an dem ich sterben werde.
Mein Mörder liegt vor mir, nur durch hölzerne Gitterstäbe von mir getrennt. Mein Mörder ist ein Tier. Ein Smilo, eine der wilden Kreaturen, die außerhalb der Mauern der Stadt in den Wäldern leben. Mein Mörder schläft.
Das erste Sonnenlicht, das durch die Gitterstäbe fällt, malt helle Streifen auf sein geflecktes Fell. Es wird wieder ein heißer Tag werden, heiß und feucht. Kühle Tage kenne ich nur aus Skarfs Erzählungen. Hier in Kuri ist es immer heiß, Tag für Tag, Jahr für Jahr.
Das Tier sieht friedlich aus, wie es dort schläft, aber das täuscht. Ein Smilo kann einem Menschen mit einem Biss ein Bein abreißen, oder auch den Kopf. Die Muskeln unter dem kurzen Fell zucken. Die Schatten der beiden langen Säbelzähne sind bösartige, gekrümmte Dreiecke auf dem Boden aus Stein. Das Tier ist wunderschön in seiner schlafenden Wildheit, die auch die Gefangenschaft nicht bezwingen kann.
Am Nachmittag werde ich gegen diesen Smilo kämpfen. Es ist ein Ritual, Skarf nennt es Hier und Jetzt. Der Smilo ist mein Seelentier, und die zukünftigen Herrscher Warakas müssen ihr Seelentier töten, damit seine Kraft auf sie übergeht. Alle sollen sehen, dass ich, Arkyn, noch gefährlicher bin als die Bestien aus den Wäldern.
Aber ich werde mich weigern zu kämpfen. Ich werde meine Kehle diesen langen Zähnen anbieten. Und deshalb wird dieses Tier, mein Seelentier, zu meinem Mörder werden.
»Was spukt dir durch den Kopf, Prinz Arkyn?« Ich habe Skarf nicht kommen hören. Der Hüter der Großen Schlange bewegt sich vollkommen lautlos, als sei er selbst eine Schlange.
Ich drehe mich langsam zu ihm um. »Ich will das nicht.«
»Deine Angst ist verständlich. Doch dir wird nichts geschehen.«
»Warum schläft das Tier so lang?«
Als Skarf nicht antwortet, gehe ich noch näher an die Stäbe des Käfigs heran. Ich spüre einen dumpfen Schmerz zwischen den Schläfen, und ich weiß, dass es der Schmerz des Smilo ist. Traumbilder huschen durch mein Bewusstsein, und ich begreife, was geschehen ist. »Ihr habt ihn betäubt. Ihr habt seine Zähne stumpf gemacht.«
Skarf legt eine Hand auf meine Schulter. »Um dich zu schützen.«
»Ich will nicht geschützt werden. Und ich will den Smilo nicht töten.«
»Du musst es tun. Es ist dein Hier und Jetzt.«
»Ich werde es nicht tun.«
Ein Funkeln in den Augen des alten Mannes. »Fürchtest du dich?«
Natürlich fürchte ich mich. Aber das muss Skarf nicht erfahren. »Nein«, antworte ich mit einer Stimme, die fest und unerschütterlich klingen soll. »Selbst, wenn ihr das Tier nicht verstümmelt hättet, würde ich mich nicht fürchten. Ich habe nichts gegen den Tod. Er ist viel besser als alles, was mich hier erwartet.«
»Du bist undankbar, Arkyn. Vergiss nicht: Heute ist der Tag der Dankbarkeit.«
»Wofür sollte ich dankbar sein? Ich darf mit niemandem reden, außer mit dir und meiner Mutter. Ich spreche nicht einmal die Sprache meines Volkes. Ich darf nichts sehen, nichts erleben, nichts entscheiden. Ich bin eingesperrt hinter den Mauern Kuris. Das soll das Leben eines Königs sein? Chturri!«
Skarf stößt mir heftig, unerwartet, zwei Finger gegen das Schlüsselbein. Es schmerzt und unwillkürlich stolpere ich zwei Schritte zurück.
»Woher kennst du dieses Wort, Arkyn?«
»Die Leute auf der Straße benutzen es.«
»Und was hast du mit den Leuten auf der Straße zu schaffen? Du redest kein Wort mit ihnen, hörst du? Kein Wort.«
»Ja, Skarf.«
»Warak ist eine schmutzige Sprache. Eine Sprache für die Ängstlichen. Du wirst einmal König dieses Landes sein. Du sprichst ausschließlich die Sprache derer, die keine Angst kennen. Die Sprache derer, die in der Gunst der Großen Schlange stehen. Möchtest du für einen der Ängstlichen gehalten werden?«
»Nein, Skarf.«
Der Hüter lächelt wieder, er legt mir die Hand, die mich eben gestoßen hat, auf die Schulter. »Ich sehe deine Ungeduld, Arkyn. Du möchtest nach draußen, in die Welt. Du möchtest dich ins Leben stürzen.« Er deutet auf den schlafenden Smilo. »Aber schau dir an, welche Wesen außerhalb der Mauern Kuris leben. Die Smilos sind nicht einmal die schlimmsten. Ich kann dich nicht nach draußen lassen. Außerhalb der Stadt würdest du nicht einen Tag überleben. Aber du hast mich, Arkyn. Du hast meine Augen, um mit ihnen zu sehen. Ich habe viel erlebt, also frag mich. Wenn ich dir erzähle, schließe deine Augen, und es wird sein, als würdest du selbst alles erleben.«
Ich schließe die Augen. Der Schmerz, den ich vom Smilo empfangen habe, hallt in mir nach. Es hilft, an etwas anderes zu denken. »Erzähl mir vom Meer.«
»Schon wieder?«
»Ich bitte dich darum, Skarf.«
»Das Meer ist unendlich. Deshalb kann dein endlicher Geist es sich nicht vorstellen. Das, was du vom Meer siehst, ist nur ein kleiner Teil. Doch schon dieser Teil kommt dir ewig vor. Eine ewige Fläche aus Wasser, und die Luft dort schmeckt nach Salz. Ein leichter Wind kräuselt die Oberfläche. Das Licht der Sonne spiegelt sich darin. Du stehst im Sand, und es gibt eine Bewegung im Wasser, vor und wieder zurück und wieder vor und wieder zurück. Man nennt es Wellen. Ein wenig Schaum ganz am Rand. Siehst du es in deinen Gedanken?«
»Ja, Skarf. Ich sehe es.«
»Dann siehst du es, wie ich es gesehen habe. Völlig sinnlos, selbst dorthin zu gehen. Sinnlos und gefährlich. Habe ich nicht recht?«
»Ja, Skarf.«
»Dann sage es mir.«
»Ich werde das Meer niemals sehen, weil ich es nicht sehen muss.«
»Gut, Arkyn. So ist es gut.«
Ich weiß, dass das Meer in Wirklichkeit anders ist, als ich es mir vorstelle. Vielleicht ist es nicht großartiger, aber es ist sicherlich anders. Ich würde es gerne mit Augen sehen, die meine eigenen sind. Doch dazu müsste ich den heutigen Tag überleben, und das werde ich wohl nicht. Heute werde ich sterben. Ein wenig schade ist es schon, dass die Zähne des Smilo mich zermalmen werden. Ich hätte das Meer gerne gesehen, und vieles andere auch.
»Denkst du immer noch an das Meer?«, fragt Skarf mich sanft.
»Ja.«
»Dafür ist später noch Zeit. Jetzt musst du dich auf deine wichtige Aufgabe vorbereiten. Du wirst diesen Smilo besiegen. Sein Blut wird in den Sand rinnen, bis alles Leben aus ihm gewichen ist. Es wird ein heldenhafter Kampf sein. Die Menschen werden dich bewundern, dir zujubeln, und wenn die Kraft deines Seelentiers auf dich übergegangen ist, werden sie dich noch mehr fürchten als zuvor. Vergiss nie: Ihre Furcht ist deine Macht.«
»Ja, Skarf.«
»Sage es mir.«
»Ihre Furcht ist meine Macht. Ihre Angst ist meine Kraft. Ihr Zittern ist meine Lust.«
»Gut, Arkyn. Vergiss nie: Es ist egal, ob sie dich lieben oder hassen. Wichtig ist nur, dass sie dich fürchten.«
»Ja, Skarf.«
»Was ist nun mit deinem Ich werde es nicht tun? Ich habe nichts gegen den Tod.«
Ich senke den Blick und schweige.
Skarf nickt zufrieden. »Schön, dass du wieder zur Vernunft gekommen bist, Prinz Arkyn. Am Ende kommst du doch immer zur Vernunft, nicht wahr? Es ist ganz natürlich, dass du dich fürchtest. Es ist auch ganz normal, dass du das nicht zugibst. Wer würde sich nicht vor einem Smilo fürchten? Es ist wichtig, dass du den Geschmack der Angst kennenlernst. Damit du Furcht verbreiten kannst, musst du selbst von dieser Frucht gekostet haben. Auch das ist die Aufgabe des Hier und Jetzt. Säe Angst, tränke die Saat mit Blut und ernte später die reifen Früchte der Furcht.«
»Gibt es etwas, wovor du dich fürchtest, Skarf?«
»Sei nicht albern, Prinz Arkyn. Du weißt, dass ich mich niemals fürchte. Ich bin ein Gormkin. Die Gormkin kennen keine Furcht. Deshalb können wir euch vor der Großen Schlange schützen. Nur wir können ihren Zorn im Zaum halten. Wir sind die Hüter ihres Zorns. Deshalb sind die Menschen dankbar. Wir halten alles im Gleichgewicht, in der göttlichen Balance aus Angst und Zorn.«
»Und warum herrscht kein Gormkin über Waraka?«
»Aus deiner Familie kommen die Königinnen und Könige dieses Landes, seit Jahrhunderten. Schon lange bevor es Gormkin hier gab. Dich respektieren und fürchten die Ängstlichen. Uns fürchten sie bloß. Wer wären wir, den Warak ihren König wegzunehmen? Ich lasse dich nun allein. Ich muss mich um die Morgenopfer kümmern. Was für ein schönes Zusammenspiel, dass der Tag der Dankbarkeit und dein Hier und Jetzt auf denselben Tag fallen. Die Sterne meinen es gut mit dir, Prinz Arkyn von Waraka.«
Skarf zieht sich so lautlos...
Erscheint lt. Verlag | 24.3.2023 |
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Illustrationen | Lev Kaplan |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Abenteuer • action • Befreiung • Coming-of-age • Epos • Fantasy • Fantasyroman • Freundschaft • Gefährliche Tiere • Geheimis • Gold • Hellsehen • Inka • Jugendbuch • Königskinder • Maya • Meer • Mut • Prinz • Rattenfänger-Literaturpreis • Säbelzahntiger • Schiff • Seelentier • Wikinger |
ISBN-10 | 3-522-62184-0 / 3522621840 |
ISBN-13 | 978-3-522-62184-7 / 9783522621847 |
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