Die letzte Erzählerin (eBook)

All Age Sci-Fi-Abenteuer mit märchenhaften Elementen der zentralamerikanischen Mythologie | Science Fiction für Kinder ab 11 Jahren und Erwachsene

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2023 | 1. Auflage
320 Seiten
Dragonfly (Verlag)
978-3-7488-0244-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die letzte Erzählerin - Donna Barba Higuera
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Donna Barba Higuera wuchs in einer kleinen Wüstenstadt in Zentralkalifornien auf, umgeben von Landwirtschaft und Ölfeldern. Zu ihren Lieblingsbeschäftigungen als Kind zählte es, immer wieder in der Bibliothek anzurufen oder sich auf den Friedhof zu schleichen, um sich von den bröckelnden Grabsteinen zu eigenen Gruselgeschichten inspirieren zu lassen. In ihren Kinder- und Bilderbüchern verarbeitet Donna Geschichtliches, Folklore und ihre eigenen Lebenserfahrungen zu fesselnden Geschichten. Donna lebt mit ihrer Familie, drei alten Hunden und einem Frosch im Bundesstaat Washington.

2


Die Fahrt von Santa Fe bis zum Startplatz im San Juan National Forest in der Nähe von Durango dauert weniger als zwei Stunden. Eine halbe Stunde davon durften Javier und ich uns von Dad einen Vortrag darüber anhören, dass wir nett und fleißig sein und uns nicht mehr streiten sollen.

Ich habe nie richtig verstanden, warum die Regierung statt irgendeiner Militärbasis diesen Wald in Colorado gewählt hat. Aber als ich jetzt die einsamen Straßen sehe und sonst kilometerweit nur Bäume, ist es offensichtlich. Hier draußen fallen die drei gigantischen interstellaren Raumschiffe, mit denen wir von der Erde flüchten, kaum auf.

Die Luxusliner wurden von der Plejaden Corporation gestaltet, um reiche Leute möglichst komfortabel durch die Galaxis zu befördern. Die Werbung mit der Fünf-Sterne-Einrichtung flimmert schon länger über die Riesenleinwände entlang der Hoverways. Darin erhellt das firmentypische royalviolette Licht der Kronleuchter die lächelnden Gesichter von Schauspielenden, die in edler Kleidung und mit Martinigläsern in den Händen gefakten kosmischen Nebel bestaunen. Über leisem Klaviergeklimper erhebt sich die Stimme eines Mannes, so schmeichelnd, als würde er jeden Morgen mit Avocadoöl gurgeln: »Plejaden Corporation. Interstellare Raumfahrt neu gedacht. Ein luxuriöser Lebensstil in den Sternen – für eine abenteuerlustige Elite.«

Die Menschen auf den überdimensionierten Leinwänden mit ihrem strahlend weißen Lächeln haben nichts mit denen gemein, die heute an Bord der Schiffe gehen: Wissenschaftlerinnen, Terraformer und Führungspersönlichkeiten, deren Überleben der Regierung wichtiger ist als das anderer Leute. Wie konnte die Wahl auf meine Familie fallen? Was, wenn Mom und Dad älter wären? Nach welchen Kriterien haben die Machthabenden entschieden? Und wie viele von denen haben ein VIP-Ticket bekommen?

Es fühlt sich falsch an, sich klammheimlich von der Erde zu verdrücken und so viele andere zurückzulassen. Bis gestern wussten auch meine Eltern nicht, wohin wir eigentlich fliegen. Dad meint, dass die Plejaden Corporation die Schiffe die ganze Zeit unterhalb des ehemaligen Flughafens in Denver geparkt hatte und sie die Erde eigentlich frühestens in zwei Jahren für ihren Jungfernflug verlassen sollten. Die Testläufe vor ein paar Monaten innerhalb unseres Sonnensystems waren zwar erfolgreich, aber weil wir jetzt so plötzlich aufbrechen müssen, wird es die erste Raumfahrt in eine ferne Galaxie.

Hätte nicht vor einer Woche eine Sonneneruption den Kometen aus seiner Flugbahn geworfen, würde Feuerschlange in wenigen Tagen wie eh und je harmlos an der Erde vorbeiziehen.

Der Startplatz ist nicht mehr als eine alte, für diesen Zweck umgebaute und durch Tore gesicherte Rangerstation in einem Nationalpark. An der Station weist man uns an, mit anderen Passagieren einem Pfad in den Wald zu folgen. Hinter uns versammeln sich immer mehr Familien, die auch endlich zum Schiff aufbrechen wollen.

Die Pappeln und Kiefern um uns herum filtern das Sonnenlicht wie das Buntglasfenster von Jona und dem Wal in der Kirche. Ich zucke zusammen, als über uns plötzlich wildes Vogelgezwitscher ausbricht. Beim Aufschauen entdecke ich eine ausgewachsene Rauchschwalbe, die aus ihrem Nest hopst, um nach Nahrung zu suchen. Sofort verstummen ihre Babys. Woher soll die Mutter auch wissen, dass ihre Bemühungen reine Zeitverschwendung sind? Mit meiner eingeschränkten Sicht konzentriere ich mich auf die kleinen Köpfchen, die aus dem Nest ragen. Sie sind so winzig und hilflos, dass sie mir irgendwie leidtun. Bis mir klar wird, wie froh sie sein können. Sie werden nie erfahren, was auf sie zukommt.

Wir gehen weiter den völlig unscheinbaren Wanderweg entlang zum Schiff. Es ist die unspektakulärste Flucht von der Erde, die man sich vorstellen kann. Meine Eltern haben mir erzählt, dass laut Gesprächsüberwachung schon viel zu viele Splittergruppen und Verschwörungstheoretiker Verdacht geschöpft haben und glauben, hier draußen wäre etwas im Gange. Womit sie ja auch nicht falschliegen. Als wir aus dem Schutz einiger Zedern auf eine grüne Lichtung treten, bleibt mein kleiner Bruder Javier schlagartig stehen. Ein Monster von einem Raumschiff erhebt sich vor uns wie eine Gottesanbeterin aus blitzendem Glas und Stahl.

»Petra …?« Er umklammert meine Hand.

Am anderen Ende der Wiese steht ein identisches Schiff. Es ist so weit weg, dass es nur halb so groß wirkt wie der Koloss direkt vor uns. Das dritte Schiff ist bereits losgeflogen. Dad meinte, nach dem letzten Signal irgendwo in der Nähe von Alpha Centauri sei der Kontakt abgebrochen.

»Alles okay.« Ich schiebe Javier weiter, obwohl ich selbst lieber wieder zurück in den Wald rennen würde.

Ich denke an Lita, meine Schulklasse und die Lehrenden und frage mich, was sie wohl gerade machen. Ich will mir gar nicht vorstellen, dass sie sich aus lauter Angst vor etwas verstecken, vor dem sie sich nicht verstecken können.

Stattdessen male ich mir aus, wie Lita und tía Berta unter der ausgefransten rot-schwarzen Decke liegen und sich einen Kaffee mit der »Geheimcreme« gönnen, während sie Feuerschlanges Heimreise beobachten.

»Berta! Geizen lohnt nicht mehr.« Mit diesen Worten kippt Lita die kostbare braune Flüssigkeit aus der gleichfarbigen Flasche in ihren Kaffee.

»Stimmt wahrscheinlich. Ein nächstes Weihnachten, für das wir es aufsparen könnten, erleben wir nicht mehr«, antwortet tía Berta, woraufhin Lita ihr noch großzügiger einschenkt. Und dann stoßen sie mit ihren Tonbechern an, trinken einen großen Schluck und lehnen sich Schulter an Schulter wieder an tía Bertas einhundert Jahre alten Pekannussbaum.

Genau so will ich mich an sie erinnern.

Schon bevor meine Eltern ausgewählt worden sind, haben die Menschen überall mit dem Plündern angefangen. Als ich gefragt habe, was das soll, wenn der ganze Kram doch eh bald nicht mehr existiert, sind Mom die Tränen gekommen.

»Die Leute haben Angst. Ein paar von ihnen werden Dinge tun, die sie sich selbst nie zugetraut hätten. Wir haben nicht das Recht, sie dafür zu verurteilen.«

Ich verstehe einfach nicht, warum manche so ruhig bleiben und andere durchdrehen. Ich sollte zum Beispiel glücklich darüber sein, dass ich mit meinen Eltern die Reise zum neuen Planeten Sagan antreten darf. Stattdessen habe ich das Gefühl, als hätte man mir das letzte Glas Wasser auf der Erde gegeben, das ich jetzt gequält runterwürge, während mir alle dabei zusehen.

Ich schaue zu dem Kometen auf, und mir wird flau im Magen. Ich hasse dich.

Geordnet wie die Ameisen zu ihrem Bau trippeln wir über die Wiese, meine Familie und ich, mehrere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und eine zweite Familie mit einem größeren blonden Jungen. Das Raumschiff steht nicht auf einem betonierten Startplatz, wie ich erwartet habe, sondern bloß auf einer frisch gemähten Fläche Gras.

Leise sagt Mom: »Da oben wirst du gar nicht merken, wie viel Zeit vergangen ist. Kein Grund, nervös zu sein.« Aber als ich sie angucke, kneift sie die Augen zusammen und schüttelt den Kopf, als würde sie so aus diesem Albtraum aufwachen. »Sobald wir auf dem Sagan sind, starten wir in ein neues Leben«, fährt sie fort. »Wie auf einer Farm. Dort werden noch andere Kinder in deinem Alter sein.«

Das macht es auch nicht besser. Ich will keine neuen Freunde. Selbst Rápido musste ich hinter Litas Haus aussetzen. Wenn sich meine Schildkröte tief genug in der Erde einbuddelt, überlebt sie vielleicht den Kometeneinschlag. Und verbringt den Rest ihres Lebens ohne mich.

»Das ist ätzend«, murmle ich. »Ich kann ihnen ja das mit meinen Augen verraten. Dann lassen sie uns gar nicht erst an Bord.«

Mom und Dad wechseln einen Blick, woraufhin Mom mich am Arm packt und zur Seite zieht. Sie lächelt der anderen Familie zu, die gerade an uns vorbeigeht.

»Was soll denn das, Petra?«

Tränen verschleiern mir die Sicht. »Was ist mit Lita? Du tust so, als wäre dir alles total egal.«

Mom schließt die Augen. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie schwer auch uns das fällt.« Sie stößt Luft aus und sieht mich an. »Es tut mir leid, dass dich das so mitnimmt, aber für so was ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt.«

»Und wann ist der?«, frage ich laut. »In Hunderten von Jahren, wenn sie tot ist?«

Der blonde Junge vor uns schaut zurück. Aber als sein Dad ihm mit dem Ellbogen in die Seite knufft, wendet er sich wieder ab.

»Petra, wir können nicht genau wissen, was passiert.« Mom schielt zu der anderen Familie und zwirbelt das Ende ihres geflochtenen Zopfs um die Finger.

»Du lügst doch«, sage ich.

Sie wirft Dad einen Blick zu und legt mir eine Hand auf den Arm. »Hast du mal überlegt, wie sich alle anderen gerade fühlen, Petra? Die Welt dreht sich nicht nur um dich.«

Mir liegt schon die Antwort auf der Zunge, dass die Welt sich bald gar nicht mehr dreht, da spüre ich ein Zittern. Es ist Mom.

Sie deutet in die Richtung, aus der wir gekommen sind. »Hast du die Menschen gesehen, die vor den Toren warten?«

Ich drehe den Kopf weg. Ich will mich nicht daran erinnern, wie eine Frau sich den Ehering vom Finger gerissen und ihr kleines Kind vorwärts geschoben hat, direkt vor einen bewaffneten Wachmann. Die ganze Zeit hat sie mit den Lippen die Worte »Bitte, bitte« geformt, während wir einfach durch das Tor gefahren sind. Was die Gesprächsüberwachung ergeben hat, war richtig. Diese junge Familie und viele andere haben...

Erscheint lt. Verlag 21.3.2023
Sprache deutsch
Original-Titel The Last Cuentista
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Kinderbücher bis 11 Jahre
Schlagworte Diversität • Dogmen • Hüter der Erinnerung • Individualität • kinderbuch diversität • Kraft des Erzählens • Lois Lowry • Macht der Erzählung • Menschlichkeit • Mitgefühl • Newbery Medal • Schullektüre • Zukunft
ISBN-10 3-7488-0244-7 / 3748802447
ISBN-13 978-3-7488-0244-0 / 9783748802440
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