Ohne euch wär's echt scheiße -  Jörg Bernardy,  Lisa Krusche

Ohne euch wär's echt scheiße (eBook)

Von Freundschaften, Netzwerken und politischen Bewegungen
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
154 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-75697-8 (ISBN)
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Der beste Freund, die Besitzerin des Stammcafés, gleichgesinnte Mitstreiterinnen oder Leidensgenossen: Freundschaften brauchen wir zum Leben! Gibt es so etwas wie wahre Freundschaft? Werden Freundschaften zu Ware, wenn wir sie in sozialen Netzwerken sammeln? Kann man trotz vieler Kontakte einsam sein? Und woher kommt die Kraft politischer Bewegungen, die nur durch eine gemeinsame Idee zusammenfinden? Jörg Bernardy und Lisa Krusche ergründen die Kraft menschlicher Beziehungen: Von besten Freund_innen über Freundschaft mit Künstlicher Intelligenz bis zur Freundschaft zwischen Staaten.

Jörg Bernardy, geboren 1982, hat in Philosophie promoviert und beschäftigt sich mit dem kreativen Potenzial von philosophischen Ideen zwischen Theorie und Praxis. Er ist seit mehreren Jahre für DIE ZEIT und die 'Maus zum Hören' tätig, ist Juror der LUCHS-Jury und lebt als freier Autor in Hamburg.

Freundschaft & soziales Kapital

Bestimmt unser Netzwerk, wie beliebt und erfolgreich wir sind?


Wer viele Freund:innen und ein großes Netzwerk hat, ist erfolgreicher im Leben und hat mehr Möglichkeiten. Das zumindest ist eine der Hauptthesen von Dale Carnegie, einem US-amerikanischen Autor und Redner, der 1936 einen berühmten Ratgeber unter dem Titel Wie man Freunde gewinnt veröffentlichte und damit bis heute ein Millionenpublikum erreicht. Ursprünglich hatte Dale Carnegie Wie man Freunde gewinnt als Lehrbuch für seine Kurse geschrieben. Mehr als 40 Jahre lang, von 1912 bis zu seinem Tod im Jahr 1955, hat Carnegie Seminare gegeben, in denen man freies Sprechen und einen besseren Umgang mit anderen Menschen lernen konnte.

Sein Ratgeber ist voller Glücksversprechen für ein erfolgreiches Leben, womit Carnegie (nicht nur) damals einen Nerv trifft. In einer Zeit, die geprägt ist von Wirtschaftskrisen, Armut, politischen Unruhen und nicht zuletzt dem heraufziehenden Zweiten Weltkrieg, wächst die Sehnsucht der Menschen nach Erfolg, Beliebtheit und Glück. Mit einfachen Mitteln ein erfolgreiches und glückliches Leben führen, indem man andere Menschen für sich einnimmt – diese Vorstellung wirkt bis heute auf viele Menschen sehr verlockend. Indem wir unser eigenes Verhalten anpassen und verändern, so will Carnegie es seinen Leser:innen verkaufen, können wir Freund:innen gewinnen und Menschen beeinflussen. Bekannte, Freund:innen und Kolleg:innen werden damit zu einer Ware oder zu einer Währung, die uns dabei helfen soll, erfolgreich, beliebt und einflussreich zu werden.

Wie man Freunde gewinnt ist voller Grundregeln für den Umgang mit Menschen, wie zum Beispiel: »Kritisieren, verurteilen und klagen Sie nicht«, »Geben Sie ehrliche und aufrichtige Anerkennung« und »Wecken Sie in andern lebhafte Wünsche«. Wer nach diesen Regeln lebt, kann laut Carnegie die eigene Beliebtheit steigern. Damit aber nicht genug. Eine der wichtigsten Grundregeln für einen großen Freund:innenkreis und für ein dauerhaftes Glücksgefühl lautet folgendermaßen: »Bestärke den andern immer in seinem Selbstgefühl.« Man kann sich mit Recht fragen, wie das überhaupt möglich sein soll, andere permanent zu bestärken. Außerdem führt dieses Verhalten im Extremfall dazu, dass wir nur noch Dinge sagen und tun, um anderen zu gefallen. Die Regel klingt letztlich eher nach Manipulation und Berechnung als nach Glück, denn man kann andere ja auch einzig aus dem Grund bestärken, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Das wäre dann wiederum sehr anstrengend und würde wohl kaum dauerhaft glücklich machen.

Trotzdem ist die Perspektive von Dale Carnegie äußerst spannend und wegweisend für die Soziologie des 20. Jahrhunderts. Er ist nämlich einer der ersten Autor:innen, die Freundschaft und soziale Netzwerke systematisch als Ressource und Kapital betrachten. In der sozialwissenschaftlichen Erforschung von Netzwerken ist diese Betrachtungsweise mittlerweile Standard. Laut der Kapitaltheorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930–2002) gibt es neben dem ökonomischen Vermögen wie Geld auch kulturelles und soziales Kapital. Während kulturelles Kapital Bildung, soziale Kompetenzen und Allgemeinwissen umfasst, versteht Bourdieu unter sozialem Kapital vor allem den Zugang zu Freizeitbeschäftigungen, Chancen, Informationen und sozialen Kreisen. Konkret bedeutet das: Man verschafft sich über soziale Beziehungen Möglichkeiten, die ohne diese Beziehungen nicht oder nicht so einfach möglich wären. Zum Beispiel, wenn uns die Kollegin unseres Vaters einen Praktikumsplatz besorgt, obwohl im Unternehmen eigentlich keine Plätze vergeben werden. Oder wenn wir über Bekannte einen großzügigen Freundschaftsrabatt auf bestimmte Produkte erhalten, der normalerweise nur für Firmenangestellte gilt.

In seinem Werk Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft definiert Pierre Bourdieu soziales Kapital als »die Gesamtheit der aktuellen und potenziellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen«. Und hier wird auch bereits die politische Dimension deutlich. Wir kommen nicht alle mit dem gleichen sozialen Kapital auf die Welt. Die Möglichkeiten unserer Zugehörigkeit werden am Anfang unseres Lebens maßgeblich bestimmt von unserer sozialen Herkunft, also von unserer Familie und der sozialen Schicht, in der wir aufwachsen. Soziales Kapital und Bildung werden laut Bourdieu daher von Generation zu Generation häufig einfach vererbt.

Den Einfluss des Elternhauses kann man zum Beispiel an der 18. Shell Jugendstudie aus dem Jahr 2019 ablesen. In Deutschland strebten etwa 81 Prozent der jungen Erwachsenen und Jugendlichen das Abitur an, wenn der eigene Vater selbst einen höheren Schulabschluss besaß. Bei Eltern mit einem mittleren Schulabschluss machten 55 % der Jugendlichen Abitur. Bei Eltern mit einem einfachen oder gar keinem Abschluss waren es nur noch 39 %. Die Tendenz der Daten ist ziemlich eindeutig: Je geringer die Bildung der Eltern, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder einen höheren Bildungsabschluss machen. Was wiederum bedeutet, dass sich die Aufstiegschancen und die Möglichkeit auf ein Hochschulstudium verringern, wenn die Eltern wenig soziales Kapital und Bildung haben. Eine ähnliche Entwicklung gibt es übrigens auch bei der sozialen Vererbung von Armut. Laut einer Langzeitumfrage der AWO (Arbeiterwohlfahrt) aus dem Jahr 2019 lebt jedes dritte Kind, das in einer einkommensarmen Familie aufwächst, auch 20 Jahre später als junger Erwachsener noch in materieller Armut.

Je größer das Netzwerk, desto größer die Erfolgswahrscheinlichkeit

Aber wie genau können Beziehungen für uns nun soziales Kapital sein? Inwiefern lassen sich Bekanntschaften und Beziehungen »als Währung nutzen«? In der Diskussion um das Sozialkapital machen Forscher:innen eine interessante Unterscheidung. Während sie bei Freundschaften und engen Beziehungen vor allem von »sozialer Unterstützung« sprechen, sieht man das Sozialkapital im Sinne einer Währung vielmehr im Zusammenhang mit sozialen Netzwerken aus losen Bekanntschaften. In engen Freundschaften geht es also vor allem um gegenseitige Unterstützung und Vertrauen. Über soziales Kapital hingegen verfügen wir, wenn wir zu einer Party eingeladen werden, wenn unsere Eltern eine solide Allgemeinbildung und Freund:innen mit einem Hochschulstudium haben. Oder wenn wir in den Wohnungen von Freund:innen an teuren Orten dieser Welt übernachten und dort Urlaub machen können. Genauso handelt es sich um soziales Kapital, wenn wir Verwandte oder Bekannte im Ausland haben. Und nicht zuletzt helfen uns soziale Netzwerke dabei, einen gut bezahlten Ferienjob zu bekommen. Natürlich gibt es hier Überschneidungen und auch die Eltern unserer besten Freund:innen können uns einen coolen Ferienjob vermitteln oder uns mit in den Urlaub nehmen. Statistisch betrachtet kommt das allerdings seltener vor, als man vielleicht denkt.

So hat der amerikanische Soziologe Mark Granovetter in einer berühmten Studie aus dem Jahr 1973 herausgefunden, dass die zahlreichen losen Kontakte in unserem Netzwerk, also die Menschen, die wir nur flüchtig kennen, manchmal wichtiger sein können als unsere engen Kontakte. In der Forschung läuft dies unter dem Schlagwort »strength of weak ties« (Stärke der schwachen Kontakte). Vor allem für beruflichen Erfolg und für berufliche Netzwerke gilt laut Granovetter: Viele Chancen, Angebote und Möglichkeiten kommen häufig nicht durch unsere engen Freund:innen, sondern es sind unsere sogenannten »schwachen Kontakte«, die uns in unserer beruflichen Laufbahn, sei es in der Wirtschaft oder in politischen Organisationen, weiterbringen.

Zugespitzt könnte man sagen, dass das Netzwerk ab einem bestimmten Punkt wichtiger wird als die Leistungen und Fähigkeiten, die man mitbringt. In der Forschung spricht man hierbei auch vom Matthäus-Effekt, der auf einen Satz aus dem Matthäusevangelium anspielt: »Denn wer da hat, dem wird gegeben.« Heißt auf das soziale Kapital angewendet: Wer Freund:innen hat, die beliebt sind, ist selbst angesehener. Wer Freund:innen mit vielen Followern hat, die Posts liken und featuren, hat bald selbst auch mehr Follower. Besonders stark trifft der Matthäus-Effekt daher auf sehr erfolgreiche Unternehmen, bekannte Influencer:innen und politische Bewegungen zu. Wer einmal einen großen Erfolg feiert und über die persönlichen Netzwerke hinaus Bekanntheit erlangt, kann darauf aufbauen und wird auch in Zukunft davon...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-407-75697-6 / 3407756976
ISBN-13 978-3-407-75697-8 / 9783407756978
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