Glasscherbeninsel -  Ingrid Maria Lang

Glasscherbeninsel (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
300 Seiten
Verlagshaus Hernals
978-3-903442-32-0 (ISBN)
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„Die Glasscherbeninsel ist kein Ort für dich!“
Felicitas Bariello, von allen Fee genannt, wächst in den 1960er-Jahren sorglos in der Geborgenheit ihrer wohlhabenden und einflussreichen Familie auf.
Sie ist zehn, als sie zum ersten Mal das Verbot missachtet, die „Glasscherbeninsel“, jenen verrufenen Ort am Rande der beschaulichen Provinzstadt Rainbruck, zu betreten.
Die Begegnung mit dem zwölfjährigen Jannis, der dort mit seiner Familie wohnt, wird von nun an nicht nur das Leben von Fee bestimmen; mechanisch, wie bei Zahnrädern, wenn Zacke um Zacke greift, vollzieht sich von nun an das Schicksal der Bariellos:
Liebe, missbrauchtes Vertrauen, Verrat und Tod begleiten die Familie, gefährden ihre Existenz und es scheint, als würden sie die Schrecken der Vergangenheit nie mehr vergessen können.
Ingrid Maria Langs neuer Roman ist genauso poetisch, wie ihr 2010 erschienener und mit dem Erstveröffentlichungspreis des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur ausgezeichneter Debütroman „Wassermoleküle“.

LORENZO

„Ich werde Ihnen die heilige Wahrheit sagen.“ Durch ein rasches Aufheben der rechten Hand versicherte er sich des göttlichen Beistandes.

F. Scott Fitzgerald, „Der große Gatsby“

Es scheint meine Bestimmung zu sein, dass immer ich derjenige sein muss, der in das Gesicht eines Toten blickt. Nein, das ist nicht ganz richtig – Adas Gesicht hatte ich nicht gesehen, dafür ein Bein, das auf groteske Weise aus einem schwarzen Nylonsack herausragte, am Fuß noch ein mit Schlamm beschmierter roter Lackpumps mit Schleife; aber vielleicht lebt dieses Bild auch nur in meiner Einbildung, ist irgendwann in einem Traum aufgetaucht, denn wie hätten die Träger nicht bemerken sollen, dass der Zipp der Plastikhülle nur zur Hälfte geschlossen war? Sie brachten sie mit dem Boot, trugen sie über den Flussdamm, legten sie in einen Blechsarg und schoben sie in den Leichenwagen.

Ich stand in unmittelbarer Nähe, wo genau, kann ich nicht sagen. Es war irgendwann am frühen Abend, daran erinnere ich mich genau; das Licht der tief stehenden Sonne färbte das Wasser ölig braun, Windstöße touchierten die Oberfläche zu schaumigen Wellen, die gegen die Ufersteine leckten.

Am späten Nachmittag, gegen fünf, hatten Armin und Herr Wenzel, der Pächter vom Bootsverleih, Ada gefunden.

Herr Wenzel erklärte gegenüber der Polizei – und später ausführlich und wortreich auch dem Reporter vom Rainbrucker Tagesspiegel – dass Armin zwei Stunden vorher aufgekreuzt war und sich erkundigt hatte, ob das Boot, das er und Ada den Sommer über gemietet hatten, während der letzten Stunden gesehen worden wäre: Er hätte seine Schwester am Vormittag mit der Vespa zu der Anlegestelle am Ulmendamm, wo sie das Boot immer vertäuten, gebracht; sie wollte sich mit einem Freund treffen und ein paar Stunden mit ihm am Fluss verbringen und gegen zwei sollte Armin sie wieder am Ulmendamm abholen. Gemeinsam wollten sie dann nach Hollersheim zum Maria Himmelfahrt– Jahrmarkt fahren.

Um die Mittagszeit waren plötzlich wie aus dem Nichts schwarze Wolken aufgezogen, Wind schüttelte die Äste der Bäume, Blitze zuckten über dem Fluss und der Regen prasselte in harten Tropfen. Aber schon eine Viertelstunde später war der Spuk wieder vorbei.

Armin hatte Herrn Wenzel erklärt, dass weder das Boot, noch seine Schwester zu sehen gewesen waren, als er um zwei zum Ulmendamm kam. „Der Junge war sehr aufgeregt, hat mir gesagt, dass seine Schwester nicht besonders gut mit dem Boot umgehen kann“, erzählte Herr Wenzel. Zwar hätte sie ihrem Bruder versichert, dass „der Freund“ ein guter Ruderer sei, aber wer dieser Freund war, wollte sie nicht verraten. Herr Wenzel kannte die Tücken der Rainach, wusste Bescheid über die Gefahren, die drohten, wenn man auf dem Fluss von einem Unwetter überrascht wurde. War man zu weit vom Ufer entfernt und kein kräftiger, geübter Ruderer, konnte man sehr schnell abgetrieben werden, in die Stromschnellen an der großen Kehre geraten und gegen die Betonpfeiler der Heiligengeistbrücke geschleudert werden.

Herr Wenzel fuhr mit der Zille hinaus, hatte auch das Stechruder dabei, weil er die Nebenarme durchkreuzen wollte; eine richtige Entscheidung wie sich herausstellen sollte. Sie fanden das Boot bei der Mühldorfer Schlinge vor einer schmalen Schotterinsel, wo es zwischen Schilf und Sumpfgras, lose festgebunden an Weidensträuchern, im Wasser schaukelte.

Nach dem Bericht im Tagesspiegel hatten Armin und der Bootsverleiher Ada „halb bekleidet“ im Boot liegend gefunden, die Beine über dem Sitzsteg, der Kopf seitlich unter der Ruderdolle an die Bootswand gelehnt. Ihre rechte Seite, ihr Hals, ihre Schulter, ihr Arm, ihre Hand, waren rot vom Blut, das aus einer Wunde am Hinterkopf ausgetreten war. „Das arme Ding war mausetot. Sie muss mit dem Kopf gegen die Dolle gestürzt sein, das Ruder steuerbord hat ja gefehlt, anscheinend ist sie mitten hinein in das Unwetter geraten, hat die Kontrolle über das Boot verloren und dabei ist es zu dem Unfall gekommen. Für so ein zartes Mädchen war das Boot ja viel zu schwer“, so Herrn Wenzels Erklärung.

Armin blieb bei seiner Version, dass sich Ada mit einem Freund habe treffen wollen.

Am nächsten Morgen erschienen Herr und Frau Holländer zusammen mit Armin auf der Polizeiwache und tätigten eine Aussage. Armin hatte seinen Eltern gegenüber Vermutungen geäußert, wer der unbekannte Freund Adas gewesen sein könnte.

Wo ich mich an diesem 15. August 1967 aufgehalten, was ich getrieben hatte während der Stunden zwischen zehn und zwei, mit wem ich zusammen gewesen war, all das hatte ich oft genug wiederholen müssen, nicht nur bei der Polizei, auch meinem Vater und Mama gegenüber, die an diesem Tag nicht zu Hause gewesen waren: Mama verbrachte das lange Wochenende mit Tante Karo am Wörthersee und Vater hatte eine Einladung nach Wien; ein Geschäftsfreund feierte seinen fünfzigsten Geburtstag. Fee war bei Onkel Carlo in Zürich, Frau Zlata hatte ihren freien Tag – Großvater und ich waren allein im Haus.

Ein paar Tage zuvor hatte Ada mit mir Schluss gemacht und ich, noch immer gefangen in Liebeskummer, hatte mich in meinem Zimmer verkrochen. Mittags hörte ich, wie Großvater den Mercedes aus der Garage fuhr; gegen drei Uhr klopfte er an meine Zimmertür und fragte, ob ich mit ihm und Frau Horn – seit Großmutters Tod seine ständige Begleiterin – Kaffee trinken wolle.

„Was wollten Sie an dem Abend da draußen bei der Schotterbank?“, wurde ich gefragt und ich konnte nichts anderes sagen, als dass ich den ganzen Tag im Haus verbracht und danach das Bedürfnis nach Bewegung und frischer Luft gehabt hatte. Und deshalb mit dem Rad am Fluss entlang gefahren war, dann die Feuerwehr- und Polizeiautos entdeckt und, neugierig geworden durch die Ansammlung von Schaulustigen, hinter dem gelben Absperrungsband angehalten und mich nach dem Grund des Einsatzes erkundigt hatte.

Während der nächsten Tage mussten mein Vater und auch Mama mehrmals zu Fragen der Polizei Auskunft geben; die Wiener Freunde meines Vaters wurden angerufen und sollten die Richtigkeit seiner Angaben bestätigen – Armin hatte einen Stein ins Wasser geworfen und nun breiteten sich Kreise aus, die keiner von uns beeinflussen konnte.

Der Stein hatte einen Namen – Bariello.

Nachts lag ich wach, versuchte mich an bestimmte Sätze, an Bilder, die ich von Armin und Ada gehört und gesehen hatte, zu erinnern, fühlte mich wie in einem Rhönrad gefangen, die Gedanken kreisend und wann immer ich meinte, den Funken der Wahrheit entdeckt zu haben, hing ich schon wieder kopfüber in einer wahnwitzigen Drehung und alles versank in Schwindel. Aber eines wusste ich am nächsten Morgen genau: Ich hätte Armin gerne gefragt, wo er gewesen war an diesem Vormittag.

Eine Woche später verließ uns Mama.

In wenigen Tagen war alles, was ihr Leben mit Sinn und Wert gefüllt hatte, alles, was ihr wichtig gewesen war – ihre Familie, ihre Ehre, ihr Ansehen – beschmutzt worden, hatte ihr Name in den Zeitungsberichten als Beispiel einer belogenen und betrogenen Ehefrau und Mutter herhalten müssen, war sie zum Mittelpunkt trivialer Klatschgeschichten geworden.

Nach Adas Tod entfaltete sich vor Mamas Augen das ganze Drama, in das mein Vater und ich während der vergangenen Monate verwickelt gewesen waren, ohne zu wissen, dass wir im gleichen Netz hingen. Ihre einzige Vertraute während dieser Tage war meine Tante Karo gewesen. Mit meinem Vater gab es zwei oder dreimal heftige Auseinandersetzungen, aber dann schien auf einmal alles gesagt zu sein. Sie mied strikt seine Gegenwart, hielt sich tagsüber nur mehr in ihrem Zimmer auf und am Abend ging sie hinüber zu ihrer Schwägerin und tauchte erst am nächsten Morgen wieder bei uns auf. Von Fee, die natürlich kaltblütig genug war, um an den Türen zu lauschen, erfuhr ich später einiges, worüber sie gesprochen hatten. Heute, reflektiert durch den zeitlichen Abstand und die Erfahrungen meines vierzigjährigen Lebens, würde ich sagen, was Mama in diesen Tagen, bevor sie uns verließ, erlebte, war nichts weniger als die Vertreibung aus ihrem Paradies gewesen.

Mit mir sprach Mama nur zwei Mal über das Geschehene. Das erste Mal, als ich von einer Einvernahme auf der Polizeiwache zurückkam. Sie fragte mich, ob ich über das Verhältnis meines Vaters Bescheid gewusst hatte und als ich verneinte, sagte sie nur, „Warum lügst du? Schämst du dich denn gar nicht? Ich dachte immer, du hättest Charakter. Aber du bist genau so übel wie dein Vater.“ Sie hatte meinen Beteuerungen nicht geglaubt, war vielmehr überzeugt, ihr Ehemann und ihr Sohn hätten sie schamlos hintergangen, verraten, was ihr Liebe und Zusammengehörigkeit bedeutet hatten. Dass auch der Sohn ein Betrogener war, machte ihn nicht glaubwürdiger.

Das zweite Gespräch fand in meinem Zimmer statt; sie trug ihr graues Etuikleid, dazu schwarze Lackpumps mit Bleistiftabsätzen. Alles an ihr war makellos wie immer, nur ihre Haut um die Augen und um den Mund schien dünner geworden zu sein, durchsichtiger. „Hör zu, Lorenzo“, sagte sie, „Ich verlasse dieses Haus. Du musst nun...

Erscheint lt. Verlag 9.6.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-903442-32-1 / 3903442321
ISBN-13 978-3-903442-32-0 / 9783903442320
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