Eckstein (eBook)
480 Seiten
Atlantis Kinderbuch (Verlag)
978-3-7152-7004-3 (ISBN)
Pascale Quiviger, 1969 in Montreal geboren, hat als Kind häufig gehört, dass sie sich zwischen dem Schreiben und dem Malen entscheiden müsse. Doch das hat sie bis heute nicht getan. Nach ihrem Studium der Philosophie und bildenden Künste zog sie zunächst nach Italien, wo sie Zeichenkurse gab. Ihre visuellen Arbeiten wurden in Kanada und Italien ausgestellt. Heute lebt sie mit ihrer Familie im englischen Nottingham. Ihre literarischen Werke wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter auch die vierteilige phantastische Abenteuersaga Eckstein.
Pascale Quiviger, 1969 in Montreal geboren, hat als Kind häufig gehört, dass sie sich zwischen dem Schreiben und dem Malen entscheiden müsse. Doch das hat sie bis heute nicht getan. Nach ihrem Studium der Philosophie und bildenden Künste zog sie zunächst nach Italien, wo sie Zeichenkurse gab. Ihre visuellen Arbeiten wurden in Kanada und Italien ausgestellt. Heute lebt sie mit ihrer Familie im englischen Nottingham. Ihre literarischen Werke wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter auch die vierteilige phantastische Abenteuersaga Eckstein.
1
Die Woge sah aus wie ein schneebedeckter Gipfel. Das Schiff rollte auf sie zu, und sie rollte auf das Schiff zu. Dies war das Ende, vielleicht, vielleicht auch nicht.
Zwei Stunden zuvor hatten die Seeleute sich den Bauch mit trockenen Keksen und kaltem Reis vollgeschlagen, denn ein gut gefüllter Magen rebelliert nicht. Doch Reis hin oder her, der jüngste Schiffsjunge erbrach sich über die Reling hinweg die Seele aus dem Leib, der Wäscher war froschgrün im Gesicht, und Felix, der hünenhafte Rudergänger, klammerte sich an das Steuerrad.
Wie das Jüngste Gericht brach die Welle über die Isabelle herein. Fast wäre der Schiffsjunge über Bord gespült worden, doch Felix konnte ihn im letzten Moment am Knöchel packen. Die Matrosen, die im Kielraum Wasser pumpten, hörten die Wurzel des Großmasts knarren, und die Männer, die an Deck arbeiteten, hielten sich an den Tauen fest. Es war nicht das erste Mal, dass ihre letzte Stunde schlug. Sie nahmen das Unheil geduldig hin und konzentrierten sich auf die Befehle von Admiral Dorec, der gegen das Donnern anbrüllte. Nur ein einziger Mann an Bord war so mächtig, seine Befehle zu missachten.
»Prinz Tibald!«, rief der Admiral. »Kehrt in Eure Kajüte zurück, ich flehe Euch an!«
Prinz Tibald zog sich nicht gern in seine Kajüte zurück. Genau genommen waren die Isabelle sein Schiff, die Expedition seine Idee und die zweiunddreißig Seeleute seine Mannschaft. Doch wenn man ihn jetzt sah, wie er an Deck mit einem Kessel Wasser schöpfte, die Wachshosen zu den Waden hochgerollt und einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf, aus dem es triefte wie aus einer Regenrinne, dann erkannte man keinen Unterschied zwischen dem Thronfolger des Königreichs Eckstein und dem einfachsten Matrosen.
Die Wellen türmten sich so hoch, dass sie dreifach den Großmast überragten. Ihr Kamm brach sich schäumend, ihre smaragdgrün schillernden Hänge waren von seltsamen Figuren durchzogen – schwebenden Pottwalen, fliegenden Delfinen. Bei jedem Unwetter war es das Gleiche: Ein flüssiger Himmel, schwer gewordene Kleider, gerötete Finger, verworrene Taue, erloschene Lampen, grelle Blitze; die Isabelle eine Nussschale auf einem bodenlos tiefen Meer, die Männer bedeutungslose Staubkörnchen auf der Nussschale.
Ihre Not bewirkte, dass die Stunden schnell verstrichen, ihre Erschöpfung, dass sie sich hinzogen. Der Tag ging unverändert in die Nacht über, und als man es am wenigsten erwartete, gab die dichte Wolkendecke plötzlich einen Stern frei, dann zwei, dann ein ganzes Sternbild.
Es war vorüber. Das Gewitter beruhigte sich so schnell, wie es gekommen war.
»Positionsbestimmung!«, schrie Admiral Dorec.
Peupel, der Navigator, kletterte in den Ausguck an der Spitze des Großmasts und rief die überraschende Antwort herab:
»Land in Sicht!«
»Ist es Khyriol, Admiral?«, fragte Prinz Tibald, der sich das tropfnasse blonde Haar aus dem Gesicht strich.
Admiral Dorec gab die Frage an den Mann im Ausguck weiter.
»Ist es Khyriol, Peupel?«
Der Navigator stützte dort oben seine Ellbogen auf den Mastkorb, um das Gleichgewicht zu bewahren, und erforschte das Stück Himmel mithilfe seines Kompasses. »Ja, Admiral!«
»Hm«, machte Dorec.
»Schon Khyriol?«, ertönte eine wohlklingende Stimme hinter ihnen.
Es war Willem Schöne, der Steuermann, der mit hochgekrempelten Ärmeln auf sie zukam. Ihm war die vergangene Anspannung noch anzusehen, doch seine dunklen Augen funkelten wie eh und je. Sein kurz geschorenes graues Haar bildete einen auffälligen Kontrast zu seinem jungen, sonnengebräunten Gesicht.
»Hm«, machte der Admiral wieder.
»Großartig«, freute sich Tibald, »so können wir bei Tagesanbruch im Hafen sein.«
Er hatte der Mannschaft einen wohlverdienten Landgang versprochen und das Gewitter verflucht, das sie aufzuhalten drohte.
»O nein, mein Prinz«, widersprach Admiral Dorec. »Wir werfen sofort den Anker.«
»Aber Admiral …«, begann Willem Schöne, der sich müde die Augen rieb.
Admiral Dorec bedachte ihn mit einem strengen Blick. Er pfiff seinen Steuermann so oft wie möglich zurück, weil er ihn beneidete. Willem war jemand, dem alles gelang. Seine klangvolle Stimme verlieh ihm Autorität, sein gerechtes und großzügiges Urteil flößte jedermann Respekt ein: Ehe man sich’s versah, würde er noch Kapitän werden. Es boten sich nur selten Anlässe, ihn zurechtzuweisen, und die kostete der Admiral genüsslich aus.
»Was der Navigator gesehen hat, Willem Schöne, war ein Leuchtturm«, erklärte er herablassend und formte seine Hände zu einem Trichter: »Nicht wahr, Peupel? Ein Leuchtturm?«
»Mehrere Leuchttürme, Admiral«, bestätigte der Navigator. »Ein regelrechter Leitweg.«
»Genau, wie ich dachte. Komm herunter, Peupel.«
Dorec wandte sich an zwei Männer, die gerade vorüberkamen.
»Felix! Ovid! Den Anker werfen, sofort!«
Der riesige Rudergänger und der dicke Schiffsküfer gehorchten, ohne zu murren.
»Ich verstehe immer noch nicht, Admiral …«, sagte Tibald.
»Ach, viele fallen darauf herein, Hoheit. Es ist eine perfekte Täuschung. Man legt niemals nachts in Khyriol an. Niemals. Nicht, wenn einem an seinem Schiff gelegen ist. An der Mannschaft. An der Fracht.«
»Was für eine Täuschung denn? Ein Leuchtturm ist ein Leuchtturm, oder etwa nicht?«
»Nicht, wenn er im Landesinneren steht, Hoheit.«
»Im Landesinneren!«, rief der Steuermann, was ihm einen weiteren tadelnden Blick einbrachte.
»Es ist eine allseits bekannte Tatsache, Willem Schöne. Die Schiffe, die sich von Khyriols Leuchttürmen leiten lassen, laufen unweigerlich nahe dem Ufer auf Grund. Ganz gleich, ob Ebbe oder Flut herrscht. Selbstverständlich eilt man ihnen sofort zu Hilfe, und wie gerne! Backbords hilft man der Besatzung an Land, und steuerbords leert man derweil den Frachtraum. Pah, das ist Piratenpack, das sich nicht einmal die Mühe macht, in See zu stechen! Ich hasse Khyriol.«
»Nun, dies habt Ihr schon hundertmal erwähnt«, bemerkte Tibald.
»Tausendmal«, bekräftigte Willem.
»Und ich scheue mich nicht, es ein weiteres Mal zu sagen. Ich hasse Khyriol.«
Ein langes Schweigen setzte ein, das nur vom Quietschen der Ankerkette begleitet wurde. Niemand ließ sich gern auf einen Streit mit Albert Dorec ein, jenem klein gewachsenen Mann, der sich »Admiral« nennen ließ, obwohl das Königreich Eckstein niemals eine Armee besessen hatte. Ein halbes Jahrhundert auf See hatte ihm die Gabe des richtigen Worts zur rechten Zeit verliehen und dazu einen Glatzkopf, auf dem sich der Ozean spiegelte. Eine missglückte Polarexpedition hatte ihn einst berühmt gemacht, bei der er, damals noch Matrose, die Mannschaft vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Als die Expedition nach Eckstein zurückkehrte, brachte sie zwei Bärenhäute, etwas Robbenfett, weniger Zehen, als es Seeleute gab, und nicht ein einziges Ohrläppchen mit, doch dem jungen Dorec war eine großartige Laufbahn beschieden.
Jetzt unterstand er dem direkten Befehl von König Alberich, der ihm die Sicherheit von Prinz Tibald anvertraut hatte. Dorec lag seine Aufgabe sehr am Herzen, und er widmete sich ihr nach Kräften. Soviel man wusste, hegte er nur eine einzige Schwäche, die er in einer Blechdose unter seiner Koje versteckte: Marzipanplätzchen aus seiner Heimatstadt. Und an die dachte er nun, als er das Schweigen brach:
»Alle Mann ab in die Heia, bis auf die Wache.«
Die Wache bestand aus Gruppen, die sich alle vier Stunden beim Schlag einer Glocke ablösten; die Nachtschicht war in der Regel die ruhigste. Die tropische Luft, feucht und schwer von Düften, umwaberte die Isabelle. Der weiße Fuchs, die Galionsfigur des Segelschiffs, hatte die Ohren aufgerichtet und streckte seine Schnauze in Fahrtrichtung. Nichts störte die nächtliche Ruhe, nur das Klappern der Seilrollen an den Masten und das Plätschern des Wassers gegen den Schiffsrumpf. Von Zeit zu Zeit pfiff einer.
Siebzehn Monate waren die Seefahrer nun schon unterwegs. Sie hatten allerlei exotisches Getier gesehen, wunderliche Pflanzen und magische Rituale. Im Frachtraum türmten sich Artefakte, Gesteinsproben und Mineralien. Doch in der Vorratskammer gab es nur noch Schiffskekse, die so trocken waren, dass man sie mit einem Hammer zerschlagen musste, und in den Trinkwasserfässern wimmelte es von fetten Würmern. Die Isabelle musste dringend ihre Vorräte auffüllen. Außerdem hatten sich alle einen Landbesuch verdient, nachdem sie Wochen um Wochen immer nur denselben flachen Horizont gesehen hatten – als einzige Zerstreuung eine Handvoll temperamentvoller Stürme, die die Mägen in Aufruhr versetzten und die Deckplanken mit Seepferdchen sprenkelten. Ein bisschen Festland würde allen guttun.
Khyriol also.
Admiral Dorec war entschieden dagegen. Khyriol war eine so malerische wie berüchtigte Insel. Auf der einen Seite saftige Mangos, Straßenakrobaten, bunte Fähnchen; auf der anderen finstere Gassen, Taschendiebe, Schmuggler. Man brauchte Humor, um diese Mischung zu schätzen, und dieser Humor ging ihm gänzlich ab.
Kurz vor dem Unwetter hatte Dorec wie jeden Mittwoch eine Partie Schach gegen Tibald begonnen, ganz im Sinne von König Alberich, dem daran gelegen war, dass sein Sohn »seinen Kopf zwischen den Schultern« behielt. Allerdings war der Admiral ein schlechter Spieler und ein noch schlechterer Verlierer. Und so war er kurz vor ihrem Zwischenhalt mürrischer denn je.
»Jemand sollte an Bord bleiben, mein Prinz«, wiederholte er vor jedem Zug. »Ich habe schon erlebt, wie in Khyriol Schiffe ausgeweidet wurden. Jemand sollte...
Erscheint lt. Verlag | 22.9.2022 |
---|---|
Reihe/Serie | Königreich Eckstein |
Übersetzer | Sophia Marzolff |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Fluch • Gefahren • Insel • Königreich • Meer • Prinz • Seefahrt |
ISBN-10 | 3-7152-7004-7 / 3715270047 |
ISBN-13 | 978-3-7152-7004-3 / 9783715270043 |
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