Wie ein Herzschlag auf Asphalt (eBook)
384 Seiten
Arctis Verlag
978-3-03880-155-9 (ISBN)
Deb Caletti ist eine preisgekrönte amerikanische Autorin von belletristischen Romanen und Jugendbüchern. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bereits im Grundschulalter, sie machte einen Abschluss in Journalismus und widmete sich der Bücherwelt erst nach der Geburt ihres zweiten Sohnes, um sich ihren Traum endlich zu erfüllen. Mittlerweile lebt sie mit ihrer Familie und den Hunden Max und Tucker in Seattle, Washington. Auch die beiden finden Platz in ihren Büchern, denn: »Gute Hunde verdienen einen Platz in meinen Büchern, auch wenn sie nicht die größten Leser sind.«
Deb Caletti ist eine preisgekrönte amerikanische Autorin von belletristischen Romanen und Jugendbüchern. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bereits im Grundschulalter, sie machte einen Abschluss in Journalismus und widmete sich der Bücherwelt erst nach der Geburt ihres zweiten Sohnes, um sich ihren Traum endlich zu erfüllen. Mittlerweile lebt sie mit ihrer Familie und den Hunden Max und Tucker in Seattle, Washington. Auch die beiden finden Platz in ihren Büchern, denn: »Gute Hunde verdienen einen Platz in meinen Büchern, auch wenn sie nicht die größten Leser sind.«
1
Annabelle Agnelli versucht, sich auf dem Parkplatz von Dick’s Drive-in zusammenzureißen. Nach dem, was gerade passiert ist, ist sie wie betäubt. Gelähmt. Und dann – stell dir das mal vor – schießt Annabelles zertrümmertes Ich plötzlich los wie ein Blitz. Sie umklammert die weiße Tüte, auf der in Orange das unglückliche Wort, Dick’s, steht. Ihr Burger ist noch warm. Die Cola in ihrer Hand schwappt hin und her wie eine stürmische See, als sie versucht, vor den schlimmen Bildern der nahen Vergangenheit davonzulaufen. Einzelne Pommes hüpfen lose in der Tüte herum, die nun klingt wie eine Rassel.
Natürlich hat sie diesen Spruch schon mal gehört – Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt. Ein Poster davon hängt in Coach Kwans Büro. Darauf ist die Silhouette eines Mädchens bei Sonnenuntergang zu sehen, das einen steilen Bergpfad hinaufläuft, und alles besteht nur aus sich lichtenden Wolken und herabscheinenden Gottesstrahlen und violetter Gebirgserhabenheit. Nicht aus Panik und heruntergefallenen Servietten und wehenden Haaren. Dieses Poster sieht nicht aus wie das hier.
Wo läuft sie hin? Keine Ahnung.
Warum läuft sie? Na ja, manchmal zerbricht man einfach. Zerbrechen ist leicht, wenn man schon bröckelig ist vom Allerschlimmsten, was einem passieren kann. Es ist leicht, wenn man kaputt und schuldig ist und Angst hat. Man zerbricht, einfach so. Als ob das Zerbrechen nur auf den richtigen Moment gewartet hätte.
Annabelle Agnelli versucht jetzt also nicht mehr, sich auf dem Parkplatz von Dick’s Drive-in zusammenzureißen. Sie ist durchgedreht. Komplett durchgedreht. Sie hat ihr Auto einfach stehen gelassen und joggt den Bürgersteig entlang, zügig, in einem richtig guten Tempo. Coach Kwan wäre stolz. Sie fängt an zu schwitzen und ihre Gedanken überschlagen sich und es ist alles ein bisschen untypisch für sie, Annabelle, die glatte Einserschülerin. Sie ist für gewöhnlich lieb und nett und reißt sich zusammen, aber das war zuletzt eine schwere Aufgabe, eine gewaltige Aufgabe, eine Aufgabe, die viel, viel zu schwer für sie geworden ist.
Es wird schlimmer. Natürlich passiert das oft: Es wird schlimmer und dann noch schlimmer. Eine Abwärtsspirale, die der Schwerkraft nach unten folgt. Sie läuft schon seit wer weiß wie lange und langsam wird es dunkel. Metapher-dunkel, aber auch wirklich dunkel. Die Nacht bricht an. Große Wolken ziehen über den Himmel und drohen mit Regen. So vieles bricht über sie herein – die Nacht, der Regen, alles, weswegen sie sich bisher noch zusammengerissen hat.
Die Hälfte von Seattles viel befahrener Durchgangsstraße Broadway hat sie schon hinter sich. Dann biegt sie in die Cherry Street ab und im Handumdrehen ist Annabelle auf dem Rundweg, der sich um den Lake Washington schmiegt. Es ist März. Was bedeutet, dass die Sonne ungefähr um fünf, halb sechs untergegangen ist. Sie hat allerdings keine Ahnung, wie spät es ist. Leute mit vornübergebeugten Schultern und Kapuzen auf dem Kopf gehen mit ihren Hunden Gassi. Kleine und große Hunde werden gezogen und gezerrt – bei so einem schwarzen Himmel ist keine Zeit für luxuriöses Herumgeschnüffel. Ein Fahrradfahrer oder zwei oder zwanzig flitzen von der Arbeit nach Hause, ihre Räder zischen nur so an ihr vorbei. Rücksäcke hängen über ihren Schultern. Ihre engen, glänzenden Bikerhosen schießen durch die Dunkelheit wie leuchtend gelbe Meteorenschweife. Straßenlaternen gehen an.
Sie läuft weiter. Es nieselt ein bisschen, nicht der Rede wert. Die Burgertüte ist weg (in einem Abfalleimer, hofft sie, sicher ist sie sich allerdings nicht), aber Annabelle hat immer noch die Cola, und ihre Tasche schlägt gegen ihre Seite. Sie hat bei Dick’s angehalten, nachdem sie sich mit Zach Oh und Olivia getroffen hatte, deswegen trägt sie Jeans und einen Pulli und ihr ist viel, viel zu heiß. Ihre Jacke ist im Auto; ihre normale Laufkleidung und ihre Schuhe sind zu Hause. Das ist alles egal.
Sie läuft am Leschi Park vorbei und dann am Seward Park, und es ist ein bisschen unheimlich hier draußen mit dem tief indigoblauen See und den großen, immergrünen Nadelbäumen, deren Zweige über ihr rascheln. Genau davor will sie davonlaufen: vor dem Unheimlichen. Nicht nur vor dem unheimlichen Seward Park und dem Unheimlichen, was gerade bei Dick’s passiert ist, sondern vor aller Unheimlichkeit, vor aller Machtlosigkeit, vor allen Augenblicken, in denen man fühlt, dass das eigene Schicksal in der Hand eines anderen liegt.
Ernsthaft, sie sollte nachts nicht in diesem Teil der Stadt laufen. Hier passiert den Leuten etwas. Sie werden ausgeraubt. Umgebracht. Sie fühlt eine seltsame Furchtlosigkeit. Na und? Versucht’s doch, denkt sie. Ist mir doch egal.
Dann denkt sie etwas anderes: Ich könnte immer weiter und weiter laufen.
Genau so entstehen große Ideen – mitten in einem Kurzschluss flackern sie auf dem Gehirn-Bildschirm auf. Das Wohin und das Warum und das Ich weiß nicht formen eine winzig kleine Zellkugel, die man nur unter einem Mikroskop sehen könnte.
Große Ideen können zu großartigen Dingen führen. Große Ideen können zu einem Unglück führen. Die Zellen fangen an sich zu teilen.
Immer wieder klingelt ihr Handy in der Hosentasche. Sie hätte schon vor Stunden zu Hause sein sollen. Leute machen sich Sorgen. Sie wischt den Gedanken beiseite, doch dann kracht das Schuldgefühl verantwortungsvoller Personen mit dem Brennen in ihren Beinen und dem Schmerz in ihren Zehen zusammen. Dies ist ein großer Teil von Annabelle Agnelli – das Gewicht dessen, was sie jedem schuldet. Es lässt die Rädchen ihrer Panik klickernd ineinandergreifen und sich rasend schnell drehen. Schließlich bleibt sie stehen. Sie keucht heftig.
Links von ihr ist ein Park. Ihr ganzes Leben lang hat sie nur in Seattle gewohnt, aber hier draußen war sie noch nie. GENE COULON MEMORIAL BEACH PARK steht auf dem Schild. CITY OF RENTON. Sie schlürft den letzten Rest Cola aus und zerdrückt den Becher. Das Zerdrücken fühlt sich toll an. Sie geht im Kreis, bis sich ihr Atem wieder normalisiert, denn sie weiß, was mit ihren Muskeln passiert, wenn sie das nicht tut. Ihre Brust brennt.
Hilf mir, Kat, denkt Annabelle. Was soll ich tun?
Lauf weiter, antwortet Kat.
Siehst du? Kat ist ihre beste Freundin, sie versteht sie also. Kat kennt Annabelle besser als sonst irgendwer, außer vielleicht ein gewisser Jemand, der jetzt gerade ausflippt. Ein gewisser Jemand, der immer wieder anruft. Annabelle nimmt ihr klingelndes Handy in die Hand.
»Mir geht’s gut, Mum«, sagt sie.
»O mein Gott, Annabelle. Du lieber Himmel, wo zur Hölle steckst du?«
Ja – Gott, Himmel und Hölle in einem Zwölf-Wörter-Ausruf bringen es ziemlich gut auf den Punkt, aber so ist Gina Agnelli. Katholisch sein ist für sie nicht nur eine Religion – sondern Aberglaube und Schutz und Tradition. Sie besucht zwar nur selten die Messe, aber sie hat das obligatorische Kruzifix über der Küchentür hängen, einen Rosenkranz in der Kommodenschublade und einen Stapel Sterbebilder von Verwandten, zusammengehalten von einem Küchengummi. Annabelle kann fast nicht glauben, dass Leute immer noch katholisch sind. Aber die katholische Kirche ist etwas, das es seit zigtausend Jahren gibt und auch nach weiteren zigtausend Jahren noch geben wird, trotz der schlechten Presse und der Gerüchte, dass sie langsam verschwindet. Ein bisschen wie Twinkies, diese altmodischen, kleinen Küchlein mit Cremefüllung.
Aber wie soll Annabelle überhaupt noch an irgendetwas glauben? Es wäre schön, einen Glauben zu haben, doch dieser Zug ist wahrscheinlich für immer abgefahren.
»Ich bin im Gene Coulon Park. In Renton.«
»Was? Warum? Mit wem bist du dort? Hast du etwa getrunken?«
Ha. Schön wär’s. »Nein, ich hab nicht getrunken! Ich bin hierher gelaufen.«
»Du bist dorthin gelaufen? Wie meinst du das, du bist dorthin gelaufen? Wo ist denn das Auto? Gott im Himmel, weißt du, was für Sorgen ich mir gemacht habe? Ich bin fast umgekommen vor Sorge.«
Sorgen! Annabelles Mutter macht sich immer Sorgen! Sogar vor letztem Jahr hat sie sich schon immer Sorgen gemacht, sogar bevor es einen Grund dazu gab. Sorge ist eine andere Art, auf die Gina versucht, jeden zu beschützen. Sorge ist die etwas andere Version eines Gebets. Und das passiert, wenn sich deine Mutter Sorgen macht: Du machst dir heimlich Sorgen. Angst spielt in deinem Hintergrund wie schlechte Supermarktmusik. Du läufst herum und zählst Dinge und wachst nachts mit zu schnellem Herzschlag auf. Du tust so, als wärst du mutig, und machst Sachen, um zu beweisen, dass du keine verängstigte Person bist wie sie. Die unablässigen Sorgen (darüber, wo du bist, über bestimmte Freunde, über alles und jeden, immer über die falschen Dinge) hämmern in deinem Kopf: Du bist nicht sicher. Die Welt ist voller Gefahr und Hinterlist. Du hast keine Chance.
Und was haben die ganzen Sorgen am Schluss gebracht?
Wie kann man sich sicher fühlen? Das ist eine komplizierte Frage. Was gut passt, denn Annabelle ist kompliziert. Versteckt hinter dem ganzen nett-und-hübsch ist sie verzweifelt und ohnmächtig vor Trauer.
»Mir geht’s gut, Mum.«
Natürlich tut es das nicht. Es geht ihr ganz sicher nicht gut.
»Malcolm hat versucht, dich anzuklingeln, was auch immer das heißt! Und ich hätte fast Opa Ed angerufen, damit er dich suchen geht, so verrückt vor Sorge war ich....
Erscheint lt. Verlag | 21.9.2022 |
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Übersetzer | Susanne Just |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Aktivismus • Langstreckenlauf • metoo • Preisgekrönt • Trauerbewältigung • Trauma • USA • Verlust • Waffengewalt • Wohnmobil |
ISBN-10 | 3-03880-155-0 / 3038801550 |
ISBN-13 | 978-3-03880-155-9 / 9783038801559 |
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