Ich bin Jude – Euer Antisemitismus ist mein Alltag (eBook)

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2023
256 Seiten
cbt (Verlag)
978-3-641-29314-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich bin Jude – Euer Antisemitismus ist mein Alltag - Reiner Engelmann
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Nach einer wahren Begebenheit - stellvertretend für viele Schicksale jüdischer Jugendlichen
Simon Weiß lebt in Frankfurt, besucht das Gymnasium und ist Mitglied im Fußballverein. Soweit alles ganz normal - außer der Tatsache, dass Simon Jude ist. Für ihn ist das nichts Besonderes, doch in der Schule wird er deswegen gehänselt, drangsaliert und gemobbt. Seine Angst wird immer größer und seine Noten immer schlechter. Als Simon schließlich zur Zielscheibe zweier Mitschüler wird und die Gewalt gegen ihn eskaliert, ist die Schule überfordert. Simon muss selbst einen Weg finden, wie er mit dem Hass gegen Juden umgehen will.
Ein bewegender Coming-of-Age-Roman und gleichzeitig eine beeindruckende Befreiungsgeschichte, die unsere Gesellschaftsstrukturen kritisch hinterfragt.

Reiner Engelmann wurde 1952 in Völkenroth geboren. Nach dem Studium der Sozialpädagogik war er im Schuldienst tätig, wo er sich besonders in den Bereichen der Leseförderung, der Gewaltprävention und der Kinder- und Menschenrechtsbildung starkmachte. Für Schulklassen und Erwachsene organisiert Reiner Engelmann regelmäßig Studienfahrten nach Auschwitz. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Anthologien und Bücher zu gesellschaftlichen Brennpunktthemen. Für sein engagiertes Wirken in der Gedenk- und Erinnerungsarbeit wurde Reiner Engelmann mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.

Opa


Nach dem Schabbat, an dem sie über den Terroralarm in der Schule gesprochen hatten, vergingen Wochen, ohne dass Herr Weiß sein Versprechen einlöste.

Über die Großeltern wurde in der Familie fast nie gesprochen, auch nicht über die Urgroßeltern. Warum eigentlich? Was gab es zu verbergen? Gab es Geheimnisse, über die man nicht sprechen durfte, auch nicht in der Familie? Simon verstand das nicht.

Das wenige, was er vom Leben seiner Großeltern wusste, hatten seine Eltern irgendwann einmal kurz erzählt. Oma Miriam und Opa Georg hatten sich nach dem Krieg kennengelernt und im Dezember 1959 geheiratet. Opa war Justizangestellter beim Amtsgericht der Stadt gewesen, Oma Lehrerin. Und sie hatten drei Kinder bekommen: Aaron, Simons Vater, Hannah, die jüngere Schwester, und Elias, den Nachzügler, wie er immer genannt worden sei. Während einer Urlaubsfahrt waren die Großeltern beide bei einem Verkehrsunfall gestorben.

Simon hatte aber nie etwas über ihre Kindheit und Jugendzeit gehört und auch nicht darüber, wie und wo sie den Krieg überlebt hatten. Er wusste, dass es jüdischen Menschen in dieser Zeit nicht gut gegangen war. Aber was das hieß, davon hatte er keine Vorstellung. Ihm ging es auch manchmal nicht gut. Konnte man das miteinander vergleichen?

Als er schon glaubte, sein Vater hätte das Versprechen vergessen, kam er an einem sonnigen Sonntagnachmittag auf Simon zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Wenn du heute Nachmittag nichts anderes vorhast, könnte ich dir die Geschichte deines Großvaters und deiner Urgroßeltern erzählen.«

Simon schaute aus dem Fenster, sah den strahlend blauen Himmel und wünschte sich einen Regentag für die Erzählung. Bei diesem Wetter den ganzen Nachmittag drinnen zu hocken, darauf hatte er wenig Lust. Andererseits …

Der Vater schien seine Gedanken zu lesen.

»Wir werden an den Main gehen, dort gibt es einen Platz, an dem wir reden können. Davon hatte ich dir ja schon erzählt.«

»Hier, auf dieser Bank habe ich vor vielen Jahren mit deinem Opa, meinem Vater, gesessen«, begann er schließlich, nachdem sie erst mit dem Bus durch die Stadt gefahren und dann das letzte Stück am Main entlanggelaufen waren. »Hier, genau an dieser Stelle, hat mein Vater mir zum ersten Mal alles erzählt, was ihm widerfahren ist, als er noch ein Kind war und Adolf Hitler* in Deutschland die Macht hatte.«

Simons Vater räusperte sich und schaute lange dem Schiff nach, das langsam auf dem Main an ihnen vorbeiglitt.

»Ich weiß nicht so recht, wie ich anfangen soll«, sagte er dann. »Es ist nicht leicht, darüber zu reden, aber das wirst du gleich merken.«

Wieder schaute er lange zum Fluss hinunter.

»Die Familie Weiß wohnt schon seit vielen Generationen hier in der Stadt. Unsere Vorfahren waren Ärzte, Lehrer, es gab sogar mal einen Professor für Mathematik in der Familie, und deine Urgroßeltern hatten ein Textilgeschäft. Sie hießen Clara und Ferdinand. Über dem Eingang ihres Geschäfts hing ein großes Schild: Textilhaus Weiß stand darauf. Deine Urgroßeltern waren sehr stolz auf ihren Laden. Viele reiche Frankfurter kamen dorthin, kauften edle Stoffe und ließen sich von einem Schneider Kleider und Anzüge nähen. Aber auch weniger reiche Menschen gehörten zu den Kunden, Leute, die sich ihre Kleidung selbst nähen mussten, weil sie sich keinen Schneider leisten konnten. Deine Urgroßmutter, meine Oma Clara, war eine gute und hilfsbereite Geschäftsfrau. Sie konnte ihre Kundinnen sehr gut beraten, und wenn sie merkte, dass eine unsicher war, weil sie nicht wusste, wie man aus einem Stück Stoff ein Kleid oder eine Hose näht, bot sie an, mit ihr gemeinsam im Nebenraum, wo auch eine Nähmaschine stand, zunächst den Stoff zuzuschneiden und danach beim Nähen behilflich zu sein.

Das Geschäft florierte und von ihrem Verdienst konnten deine Urgroßeltern gut leben. Sie konnten ins Theater gehen, sie besuchten Restaurants, hatten einen großen Freundeskreis, mit dem sie Feste feierten, sie konnten sich Urlaubsreisen leisten und hatten ein Hausmädchen, das für den Haushalt, aber auch für die Kinder zuständig war. Irene hieß sie. Sie war jung, hübsch und besonders bei den Kindern, also bei meinem Vater und seiner Schwester, sehr beliebt. Ja, mein Vater hatte noch eine Schwester. Margarete hieß sie. Von allen wurde sie immer nur Gretel gerufen. Sie ist auch immer dieses kleine Mädchen geblieben. Warum, das erkläre ich dir später. Jedenfalls hätte das Leben so weitergehen können, wenn nicht …«

Mitten im Satz brach er ab.

»Was ist, Papa«, fragte Simon, als er merkte, dass sein Vater in Gedanken versunken war. »Warum erzählst du nicht weiter?«

Herr Weiß sah seinen Sohn mit traurigen Augen an.

»Das, was dann 1933 passierte, das ist so unfassbar, dass man es kaum beschreiben kann.«

Wieder machte er eine Pause, bevor er weitersprach.

»In dem Jahr kam hier in Deutschland ein Mann an die Macht, der von Anfang an etwas gegen uns Juden hatte: Adolf Hitler. Er hatte eine große Gefolgschaft, die Menschen jubelten ihm zu. Endlich hatte Deutschland wieder einen starken Führer, nachdem es in den Jahren zuvor oft zu Regierungswechseln gekommen war. Für alles, was nicht gut im Land war, machte Hitler die Juden verantwortlich. Davon hat er schließlich viele Menschen überzeugt. Sie glaubten ihm.«

»Ich weiß«, sagte Simon, »seinen Namen habe ich schon gehört. Doch das, was er gemacht haben soll, hab ich nicht verstanden.«

»Wenige Monate nachdem Adolf Hitler an der Macht war, ordnete er an, dass niemand mehr in jüdischen Geschäften einkaufen durfte. Überall vor den Geschäften standen uniformierte SA-Männer* mit Plakaten: ›Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!‹ Am 1. April 1933 trat die Verfügung in Kraft. Seit 1924 hatte die Partei von Adolf Hitler, die NSDAP*, Männer bewaffnet, die die Befehle des Führers in den Städten durchsetzen sollten. Diese Männer gehörten zur Sturmabwehr oder SA*, wie sie genannt wurde. Die stand nun mit ihren Plakaten vor den Läden und hinderte Menschen daran, bei Juden einzukaufen. Das hatte natürlich Folgen für deine Urgroßeltern, meine Großeltern. Sie hatten plötzlich viel weniger Einnahmen. Manchmal kamen trotzdem noch Kunden, die sich über die Anweisungen hinwegsetzten. Ansonsten waren es aber nur noch einige jüdische Familien, die bei ihnen einkauften. Du kannst dir ja vorstellen: Irgendwann hatten aber auch die genügend Kleider und Anzüge in ihren Schränken und brauchten ihr Geld für andere Dinge.«

Simon nickte.

»Auch der Freundeskreis meiner Großeltern wurde kleiner. ›Gute Deutsche‹, wie sie von der Nazi-Partei genannt wurden, durften keinen Kontakt mehr zu Juden haben.«

»Waren deine Großeltern denn keine guten Deutschen?«, unterbrach Simon seinen Vater.

»Doch, das waren sie. Mein Großvater war im 1. Weltkrieg Soldat gewesen und für seine Tapferkeit sogar ausgezeichnet worden! Aber nun waren sie eben bloß noch Juden, die jeder mied. Menschen, mit denen sie wenige Monate zuvor noch gefeiert hatten, grüßten sie plötzlich nicht einmal mehr auf der Straße. Mit erhobenem Haupt stolzierten sie an ihnen vorbei. Das war eine furchtbare Zeit für meine Großeltern.« 

»Und was war mit deinem Papa, meinem Opa? Er war ja noch klein damals. Hat er das auch gemerkt?« Simon wollte sich nicht vorstellen, dass sich die Zeit auch für die Kinder geändert hatte.

»Ja, mein Vater …«, begann Herr Weiß stockend, »er ging damals schon zur Schule … er war in der 2. Klasse, als alles begann. Er konnte sich später noch gut erinnern, was sich für ihn geändert hatte. Jüdische Kinder durften nicht mehr neben arischen* Kindern sitzen. Die Machthaber nutzten damals dieses Wort, um die jüdischen Menschen auszugrenzen. Alle Menschen mussten einen Nachweis erbringen, dass sie über viele Generationen hinweg keine jüdischen Wurzeln hatten.

Für die jüdischen Kinder waren nur die hintersten Reihen der Klasse da. Und einige Monate später, es war im April 1933, durften überhaupt nur noch wenige jüdische Kinder an der Schule sein. Die Regierung hatte ein Gesetz »gegen die Überfüllung deutscher Schulen«* beschlossen. Das Gesetz hieß wirklich so. Viele jüdische Schülerinnen und Schüler durften plötzlich nicht mehr in ihre Schule. Dein Opa konnte zwar noch eine Zeit lang bleiben, aber es war eine schreckliche Zeit für ihn. Wenn er sich im Unterricht meldete, wurde er nicht drangenommen, wenn er in der Klassenarbeit eine gute Note schrieb, hieß es, er habe abgeschrieben. Doch am schlimmsten waren die Pausen. Seine Mitschüler wussten natürlich, dass er Jude war, und so machten sie ihm das Leben zur Hölle. ›Hopp, hopp, hopp, Jud ab in den Korb‹, riefen sie, sprangen um ihn herum und steckten ihn schließlich in den Abfalleimer auf dem Schulhof. Lehrer, die das sahen, schauten weg oder lachten nur.«

»Ist er trotzdem an der Schule geblieben?« Simon konnte sich das nicht vorstellen. Er hätte bestimmt jeden Tag Angst gehabt, hinzugehen.

»Nein, das Gesetz war besonders für Gymnasien und Universitäten gemacht, und deswegen hatte er irgendwann keine Chance mehr, einen Platz an einer staatlichen Schule zu bekommen. Seine Eltern haben ihn und auch Gretel, seine Schwester, der es ähnlich erging, später in eine jüdische Schule geschickt. Dort konnten die beiden wieder in Ruhe lernen. Das war die eine Seite. Auf der anderen Seite hatten die Eltern aber immer weniger Geld. Sie mussten Irene, das Hausmädchen, entlassen, das aber ohnehin schon Schwierigkeiten...

Erscheint lt. Verlag 18.1.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte 2023 • ab 14 • Antisemitismus • Ausgrenzung • Coming of Age • Diskriminierung • eBooks • Gewalt an Schulen • Gewaltprävention • Gleichberechtigung • Judenhass • Judentum • Jugendbuch • Jugendbücher • mit Unterrichtsmaterial • Mobbing • Neuerscheinung • Schule ohne Rassismus • Schullektüre • Schulprobleme • soziale Courage • Vorurteile • Young Adult • Zusatzmaterial
ISBN-10 3-641-29314-6 / 3641293146
ISBN-13 978-3-641-29314-7 / 9783641293147
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