In unserem Universum sind wir unendlich (eBook)
432 Seiten
Thienemann Verlag GmbH
978-3-522-62196-0 (ISBN)
Sarah Sprinz (www.sarahsprinz.de), geb. 1996 in Tettnang, studiert in Aachen Medizin. Sie liebt Kanada, Schottland, Schreibnachmittage im Café und den Austausch mit ihren Leser*innen auf Instagram (@sarahsprinz).
EINS
Alles war möglich nach dem Abitur. Weltreise, Work and Travel, Au-pair, FSJ, Umzug in die Unistadt, zum ersten Mal alleine wohnen, zum ersten Mal leben. Einen Sommer lang an Fließbändern irgendwelcher Firmen stehen, großes Geld für große Pläne. Oder unbezahlt auf einer Intensivstation im Krankenhaus arbeiten, so wie ich. Weil es mit dem Medizinstudium nicht geklappt hatte wie geplant. Es war ernüchternd, wenn man begriff, dass es dort draußen niemanden interessierte, wie sehr man etwas wollte. Da warst du keine Person, sondern nur deine Abiturnote, entweder sie war gut genug oder eben nicht. Träume starben, Menschen auch. Einfach so. Einfach so …
Unter der Woche klingelte mein Wecker, bevor die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont kletterten. Früh also. Wir hatten September, es dämmerte bereits um kurz nach sechs. Sehr, sehr früh.
Manchmal war ich um diese Zeit gleichzeitig online wie Ella und Henning, die von Partys kamen, die ich am Abend zuvor spätestens gegen elf verlassen hatte. Aufstehen um vier Uhr fünfundvierzig war keine schöne Sache. Erst recht nicht, wenn meine Freunde währenddessen den Sommer nach dem Abschluss genossen. Freiheit, bevor es für sie alle weiterging. Für jeden außer mir.
Ich lief nach unten in die Küche, als ich im Flur ein Geräusch hörte. Es war Noah, der gerade nach Hause kam. Mein großer Bruder, dem alles ein bisschen egaler war als mir. Eine Charaktereigenschaft, für die ich ihn beneidete, aber das würde ich ihm nie sagen.
Obwohl es draußen regnete, waren Noahs Haare trocken, denn was uns beide voneinander unterschied, war in erster Linie das Auto, das er besaß. Na ja, und noch ein paar andere Dinge.
»Hey!« Er gab sich nicht einmal Mühe, leise zu sein. »Von wo kommst du?«
Fast hätte ich gelacht. War das sein Ernst?
»Ich gehe«, sagte ich und Noah schien sich zu erinnern.
»Ach, stimmt ja.«
»Und du? Von wo kommst du?«, fragte ich und warf mir meinen Rucksack über die Schulter.
»Von Natalies Geburtstag.«
Ich hatte ehrlich gesagt keinen blassen Schimmer, wer Natalie war – im Zweifel war sie hübsch und bald nicht mehr Single –, nickte aber trotzdem.
»Soll ich dich fahren?« Überrascht hob ich den Kopf. »Draußen ist es furchtbar. Da fährst du doch nicht echt mit dem Fahrrad?«
»Lieber als jetzt noch mit dir Auto«, entfuhr es mir. Noah hob eine Braue.
»Ich trinke nicht, wenn ich fahre«, sagte er und klang so kühl, dass ich mich schämte. Ich schaffte es immer wieder, wenn ich den Mund aufmachte, einen Keil zwischen mich und meinen Bruder zu treiben. Als müsste ich ihn permanent daran erinnern, dass uns zwei nicht mehr verband als der gemeinsame Nachname. Mit Sicherheit war er froh darüber, dass höchstwahrscheinlich niemand, der uns beide sah, auf die Idee käme, dass wir Geschwister sein könnten. Noah, der garantiert keinen Tag seines aufregenden Lebens damit verschwendete, über die Zukunft zu grübeln. Er lebte einfach. Trug diese weiten Holzfällerhemden mit einer Selbstverständlichkeit und einen viel zu lässigen Haarschnitt. Brach Ausbildungen ab, die ihm nicht gefielen, und fuhr mit selbst ausgebauten Campervans durch Europa, einfach weil er es konnte. Natürlich wollte ich insgeheim sein wie er, aber weil wir beide wussten, dass daraus nichts wurde, hatte ich beschlossen, das exakte Gegenteil zu sein. Ob das klug war, musste ich noch herausfinden. Möglich, dass er mehr vom Leben hatte.
»Also?« Noah sah mich erwartungsvoll an. »Ja oder nein?«
Ich nickte. Als ich neben Noah aus dem Regen in den Van kletterte, dankte ich ihm im Stillen. Er ließ den Motor an und der Wagen erwachte unter uns röchelnd zum Leben. Ich warf einen verstohlenen Blick über die Schulter. Noah hatte den Platz hinter den beiden Vordersitzen zu einer Sitzecke mit schmaler Küchenzeile umfunktioniert. Weiter hinten lag eine große Matratze auf einer Holzvorrichtung, zu der man über die Hecktüren Zugriff hatte und unter der man eine erstaunliche Menge an Dingen verstauen konnte.
Noah jagte den Van in halsbrecherischer Geschwindigkeit die engen, regennassen Straßen hinab. Ich bekam ein bisschen Angst, aber er schien den Wagen im Griff zu haben. Als er mich fünf Minuten später überpünktlich am Krankenhaus absetzte, war ich trotzdem froh, dass ich aussteigen konnte.
»Danke«, sagte ich und Noah machte eine wegwerfende Geste.
»Kein Thema.« Ich hatte die Hand bereits am Türöffner. »Wie kommst du heim? Soll ich dich abholen?«
Ich hätte gerne Ja gesagt, stattdessen sagte ich: »Ich kann laufen. Wenn es nicht mehr so regnet. Sonst fahre ich Bus.«
Toll, Ansel. Ganz toll. Warum war ich so?
»Gut, dann …« Ich spürte Noahs Blick im Nacken. »Viel Spaß heute.«
»Danke.« Ich stieß die Tür auf und das laute Prasseln des Regens drang ins Wageninnere. Ich sprang heraus, schlug die Tür zu und machte, dass ich wegkam.
Im Foyer schüttelte ich mich wie ein nasser Hund. Plötzlich fielen mir eine Menge Dinge ein, die ich noch hätte zu Noah sagen können. Wie läuft die Ausbildung? Hast du mal Lust, was zu zweit zu machen? Tut mir leid, dass ich immer so blöd bin.
Ich würde es ihm heute Mittag sagen. Oder nie. Mal sehen. In der Umkleide im Keller schlüpfte ich in die blaue Klinikkleidung, starrte meinem Spiegelbild entgegen und ging dann nach oben. Alles war wie immer. Die Intensivstation ruhig, das Personal aus der Nachtschicht müde, der Kaffee heiß und meine Zunge verbrannt.
Ich mochte die Arbeit. Sie kam mir sinnvoll vor. Die meiste Zeit verstand ich zwar recht wenig von den Medizinwörtern, die die Pflegekräfte und Ärzte benutzten, aber manchmal schlug ich die Begriffe abends im Internet nach, einfach, weil es mich interessierte.
Ich mochte auch den Großteil der Belegschaft hier. Insbesondere Stationsleitung Brigitte, sie war streng, aber ich glaube, sie schätzte mich. Bei ihr durfte ich auch Dinge wie Medikamente richten üben und musste nicht nur Bettzeug wechseln und den Patienten beim Waschen helfen.
Ich machte meine Morgenrunde mit dem Fieberthermometer, brachte das Blut ins Labor, verteilte das Frühstück. Die Ärzte kamen zur Visite vorbei, Brigitte schickte mich mit, damit ich etwas lernte, was ich in der Regel nur tat, wenn Doktor Meller, die Oberärztin der Neurochirurgie, Dienst hatte. Vermutlich hatte sie Mitleid mit mir, denn sie war immer nett und ignorierte mich nicht. Manchmal bot sie mir sogar an, später mit in den OP zu kommen, um zuzusehen.
An diesem Morgen kam sie zu spät. Die anderen Ärzte waren bereits in Zimmer drei und Doktor Meller lächelte mich nicht an. Sie wirkte gestresst, irgendwie abwesend, während sie neben mir an der Wand gelehnt stand und der Übergabe lauschte. Als die Visite beendet war, kratzte ich all meinen Mut zusammen.
»Gibt es heute vielleicht etwas Spannendes im OP?«, fragte ich, während die anderen Ärzte bereits wieder verschwanden.
Doktor Meller sah so irritiert in meine Richtung, als hätte sie mich bis eben überhaupt nicht bemerkt. Ich bereute meine Frage sofort.
»Oh, Ansel. Ich glaube, heute ist kein guter Tag dafür«, sagte sie.
Ich wollte fragen, warum das so war, aber ich besaß genügend Einfühlungsvermögen, um mir sicher zu sein, dass ich es besser einfach sein ließ. Hatte ich etwas falsch gemacht? Vielleicht war sie genervt von mir, im Grunde konnte ich ihr das nicht verübeln, schließlich bedeutete es immer zusätzliche Arbeit, wenn sie mich mitnahm und alles erklären musste. Außerdem war ich hier, um zu arbeiten. Als Pflegepraktikant, und die hatten im OP nichts verloren.
Ich wollte mich gerade entschuldigen, als Doktor Mellers Telefon zu klingeln begann. Sie sah nicht mehr zu mir, bevor sie sich umdrehte und es im Gehen aus ihrer Kitteltasche nahm.
Ich kam mir recht lästig vor und fragte Katrin, die heute zusammen mit Brigitte Frühdienst hatte, ob ich ihr bei etwas helfen konnte. Tatsächlich hatte sie ausreichend Aufgaben, um mich bis zur Frühstückspause zu beschäftigen. Als ich schließlich neben den beiden im Aufenthaltsraum saß, war es draußen unbemerkt hell geworden. Ich mochte das, wenn die Nacht dem Morgen wich, Menschen aufwachten, zur Arbeit fuhren, diese alltäglichen Dinge taten, während ich hier drin in einer anderen, sterilen Welt lebte und nichts davon mitbekam. Es gab keine Blicke aufs Handy, keine Nachrichten, es gab nur mich und sehr viel zu tun. Ich sah im Aufenthaltsraum herum, betrachtete die Postkarten an der Wand, die Abschiedsschreiben von Patienten oder deren Familien, fast immer lag eine Schachtel teure Schokolade auf dem Tisch als Dank von irgendwem. Man aß sie zum Frühstück oder vor dem Frühstück oder als Frühstück, jede Gelegenheit musste ergriffen werden, etwas in den Magen zu bekommen, man wusste nie, wann es wieder so weit sein würde. Hatte man nur fünf Minuten nichts zu tun, empfahl es sich, sofort auf die Toilette zu gehen, egal ob man musste oder nicht, das...
Erscheint lt. Verlag | 27.7.2022 |
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Mitarbeit |
Designer: Formlabor |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | bewegend • Camper • England • erstes Mal • Freundschaft • Hirntumor • Homosexuell • Jugendbuch • Krebs • LGBTQ • Liebesgeschichte • Liebesroman • Love Story • Medizinstudium • Reise • Road Trip • Romantik • Schottland • Schwul • Trauer • Unvergesslich • What if we drown |
ISBN-10 | 3-522-62196-4 / 3522621964 |
ISBN-13 | 978-3-522-62196-0 / 9783522621960 |
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Größe: 3,4 MB
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