Violet und Bones -  Sophie Cleverly

Violet und Bones (eBook)

Der lebende Tote von Seven Graves
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
288 Seiten
mixtvision (Verlag)
978-3-95854-992-0 (ISBN)
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Violet möchte nichts lieber, als ernst genommen zu werden und als Lehrling im Beerdigungsinsitut ihres Vaters zu arbeiten. Aber im England des 19. Jahrhunderts sah man Mädchen lieber am Stickrahmen. Unbeirrt zieht Violet auf eigene Faust los, immer begleitet von ihrem Windhund Bones. Denn es gibt einen Fall zu lösen: Der Junge Oliver, der eigentlich mausetot auf dem Leichentisch ihres Vaters lag, wandert plötzlich patschnass und erinnerungslos zwischen den Gräbern herum. Was ist da passiert? Wird Violet seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen können und mit Oliver zusammen seinen eigenen Mordfall aufklären können?

1

Ich wurde in einer Leichenhalle geboren. Verrückt, ich weiß, aber das ist die Wahrheit. Meine Mutter meinte, der Totentisch sei hart und kalt gewesen, aber ihr Zustand habe keinerlei Protest erlaubt.

Sie nannten mich Violet, englisch für Veilchen und passend zum blumigen Vornamen meiner Mutter: Iris. Sie hofften bestimmt, aus mir würde ein Mauerblümchen werden, bescheiden und scheu, aber bald stellte sich heraus, dass diese Hoffnung vergebens war.

Mein zweiter Vorname ist Victoria, nach unserer Königin. Man sagt, sie trauere um ihren Ehemann Albert und laufe ganz in Schwarz gehüllt durch das Schloss. Ich fand daran nichts auszusetzen. Seitdem ich denken kann, hatte Vater uns nur in düstere, dunkle Farben gesteckt. »Wir trauern nämlich immer um jemanden«, hatte er gesagt.

Sich immer zwischen Leben und Tod zu bewegen, ist eine komische Sache. Manchmal, draußen, umgeben von Grabsteinen, kann ich die Toten regelrecht spüren – nur als eine Ahnung, ein Gefühlsecho, ein Wortgeriesel. Sie sind ein Teil von mir, die Toten, und ich habe mich an sie gewöhnt. Ich habe mich auch daran gewöhnt, all das für mich zu behalten, weil ich von Erwachsenen doch nur schiefe Blicke und unbehagliches Schweigen ernte, sobald ich es erwähne.

Meist sind die Toten nicht sehr gesprächig. Doch schon bald sollte ich einem Toten begegnen, der viel mehr zu sagen hatte als all die anderen.

An dem Tag, als dieses Wunder geschah, war ich gerade dreizehn Jahre alt. Ich sammelte auf dem Friedhof Äpfel auf. In einen biss ich hinein – er war so knackig wie die Herbstluft. Mein schwarzer Windhund Bones schwänzelte mir um die Beine und beschnüffelte mit seiner langen Schnauze den Boden.

Bones war noch nicht lange bei uns. Ich hatte ihn gefunden, als er über den Friedhof streunte. Kaum hatte er mich erblickt, wich er mir nicht mehr von der Seite. Er trug kein Halsband und wirkte mager – ein Windhund eben.

Ich nannte ihn Bones. Als Tochter eines Leichenbestatters schien mir das passend. Ich fütterte ihn mit Küchenabfällen und flehte Mutter an, ihn behalten zu dürfen. Sie sagte Nein. Also fragte ich Vater. Er sagte Vielleicht. Mutter gab schließlich nach, und er durfte bei mir bleiben. Nur nachts musste ich ihn rausschicken.

Zwei Wochen lang schlief er hinter unserem Haus, auf dem Friedhof, zusammengerollt am Fuße eines Steinkreuzes. In der dritten Woche bekam Mutter Mitleid und ließ ihn im Garten schlafen. Ein paar Tage später war er im Haus und lag oft auf meinem Bett.

Seitdem war er mein ständiger Begleiter – falls er sich nicht gerade irgendwelchen Hundeabenteuern hingab, wie Eichhörnchen jagen oder Schuhe anknabbern.

An jenem Tag also, Bones lag im Gras, rannte ich mit meiner Schürze voller reifer Äpfel über den Friedhof zurück in unsere gute Stube – das heißt, in die Leichenkammer. Der Wind peitschte mir mein dunkles langes Haar in die Augen.

Vater fegte gerade, als ich hereinstürmte. »Also ehrlich, Violet, kannst du nicht durch die Hintertür ins Haus kommen? Was, wenn jetzt gerade ein Kunde hier wäre?«

»Ein Kunde?« Ich gluckste. »Vater, deine Kunden sind in der Regel ein wenig zu tot, um mich zu bemerken, oder?«

Er schnaubte und schüttelte den Besen vor der Tür aus. Bones wollte danach schnappen, doch Vater zog ihn weg. »Und was ist mit den Angehörigen? Die könnten den Verstorbenen gerade einen Besuch abstatten.«

»Wir kriegen keinen Besuch. Jedenfalls nicht heute. Ich kenne unsere Termine. Weißt du, ich nehme nämlich Rücksicht. Manchmal.«

»Wirklich? Das ist mir neu.« Er zerzauste mir liebevoll das Haar und wischte sich dann mit der Hand über die Stirn. »Was hast du denn mit all den Äpfeln vor?«, fragte er, aber er wandte sich ab, und ich wusste, er hörte nicht mehr zu. Früher hätte er mit mir gespielt, mit den Äpfeln jongliert und mir eine kleine Geschichte erzählt, darüber, dass Obst eine Metapher fürs Leben sei – aber in letzter Zeit war er irgendwie immer in seinen Gedanken versunken.

Ich schaute mich um. Mir taten die Arme weh, die Äpfel in meiner Schürze waren schwer, allzu lange würde ich sie nicht mehr tragen können. Doch ich wollte auf keinen Fall, dass sie über den Boden kullerten.

Ah! Da stand ein Sarg auf dem Podest, frisch lackiert und ausgepolstert – und leer. Perfekt. Ich hob die Schürze und kippte die Äpfel hinein. Es machte einen Höllenlärm. Tja, jetzt genoss ich wieder Vaters volle Aufmerksamkeit.

»VIOLET!«, rief er und wirbelte herum. »Gütiger Himmel, was treibst du da?«

Ich grinste ihn an. »Ich musste die Äpfel nur mal kurz irgendwo zwischenlagern. Reg dich nicht auf! Das ist schlecht für die Gesundheit. Ich sammle sie gleich wieder ein. So schnell kannst du gar nicht spucken.«

»Ich. Habe. Nicht. Vor. Zu. Spucken«, rief er.

Höchste Zeit für einen raschen Abgang. Also nahm ich einen Arm Äpfel und hastete mit Bones auf den Fersen durch die Tür in den Wohntrakt.

Mutter war in der Küche, saß am Feuer und stopfte ein paar von Thomas’ Strümpfen.

»Äpfel!«, rief ich fröhlich.

Sie blickte mich an und lächelte, ihre hellen Augen ließen den Raum erstrahlen. »Noch mehr Äpfel? Dann muss ich wohl drei oder vier Kuchen backen. Leg sie zu den anderen in den Korb. In der Speisekammer.«

Das tat ich.

»Weißt du, was meine liebe alte Mutter immer zu sagen pflegte? Dass in einem Obstgarten auf einem Friedhof nur Knochen wachsen. Wie falsch sie damit lag!« Mutter zog den ausgebesserten Strumpf vom Stopfpilz und legte ihn beiseite. »So, Äpfel haben wir allmählich genug.« Ihr Blick fiel auf den Hund. »Und du willst sowieso lieber einen Rinderknochen.«

Bones spitzte die Ohren und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz. Vielleicht hoffte er, Mutter hätte tatsächlich einen Knochen für ihn.

»Daraus könntest du eine kräftige Knochenbrühe kochen«, schlug ich vor.

In diesem Moment kam mein Bruder Thomas herein. Seine schwarze Hose war an den Knien dreckig und mit Grasflecken übersät. »Igitt«, rief er und warf seinen Lederfußball auf den Boden, »wer will schon alte eklige Knochenbrühe?«

Mutter ging zu ihm und gab ihm einen Klaps – Thomas war erst sechs Jahre alt und noch lange nicht so groß wie ich. Seine Schule war überschwemmt worden, weshalb er nun ein paar Wochen schulfrei hatte. Ich fand es immer noch ungerecht, dass er eine Schule besuchen durfte, und ich nicht. Aber so war das nun mal. Schließlich war er ein Junge und ich nur ein Mädchen.

»Du wirst essen, was auf den Tisch kommt, und dankbar dafür sein. Ob nun Brühe oder fünf Apfelkuchen. Heutzutage muss man das Beste aus allem machen. Herrje, schau dir nur deine Hose an!« Mutter musste ständig unsere Kleider ausbessern und ändern, sei es, um sie zu flicken, oder den Saum rauszulassen.

Thomas zog einen Stuhl vom Tisch, die Beine schrammten über den Boden. Dann setzte er sich schwerfällig hin und fuhr sich durch sein dunkles Haar. Ein paar Grashalme segelten zu Boden. Bones trottete hinüber und beschnüffelte sie. Mutter verdrehte bei diesem Anblick die Augen.

Ich wollte gerade hinausgehen, um die restlichen Äpfel zu holen (Vater wäre bestimmt nicht sehr erfreut, wenn ich sie im Sarg ließe), als Thomas sich wieder zu Wort meldete.

»Mutter«, sagte er, »wer wird eigentlich in Parzelle 239 begraben?« Bones blickte ihn an, seine Augen kleine Galaxien.

Mutter legte den Stopfpilz weg und starrte eine Weile gedankenverloren die Wand an. »Das ist eine der neuen, oder? Ist das Grab schon ausgehoben?«

»Jawohl«, antwortete Thomas feierlich.

»Ein junger Mann, glaube ich. Er kam heute Morgen herein. Bis jetzt hat sich noch kein Angehöriger gemeldet, der arme Junge. Aber euer Vater wird schon für ein schönes Begräbnis sorgen. Das tut er ja immer. Auch wenn sich das nicht gerade positiv in den Kassenbüchern niederschlägt.«

Ich fing plötzlich an zu zittern und umklammerte die Stuhllehne. Denn ich erinnerte mich an diesen jungen Mann. Ziemlich groß und bleich, blonde Haare – ein bisschen zu lang für meinen Geschmack – und nicht viel älter als ich – sechzehn vielleicht? Ich hatte eine Weile bei ihm gesessen und leise mit ihm geredet, denn selbst Tote brauchen Gesellschaft. Allerdings bekam ich nicht allzu viel von den erst kürzlich Verstorbenen zurück. Vielleicht hatten sie sich einfach noch nicht so recht an ihre neue Umgebung gewöhnt.

»Wieso interessiert dich das, Thomas?«, fragte ich.

Er blickte mich an. »Ich habe mich nur gewundert. So viele Tote in letzter Zeit. Was, wenn es Mord war?« Er machte ein entsetztes Gesicht. »Kaltblütiger Mord?«

Mutter runzelte die Stirn, wie immer, wenn sie etwas missbilligte. »Mord? Unsinn. Was hast du nur für eine blühende Fantasie, mein Junge. Liest du etwa wieder so einen Schauerroman? Diese Heftchen sind nichts für Jungs in deinem Alter.«

Thomas streckte die Zunge heraus, und ich hielt mir den Mund zu, um nicht laut zu kichern.

Mutter tadelte ihn. »Deine Fantasie geht mit dir durch. Es gab ein paar schlimme Unfälle, das ist alles.« Mutter schüttelte den Kopf und widmete sich wieder ihrer Näharbeit.

Bones trottete um den Tisch und setzte sich neben mich. Ich blickte in seine seelenvollen Augen und überlegte nicht zum ersten Mal, was er wohl dachte. Er hatte genau wie ich ein feines Gespür für solche Dinge. Meine Haut begann zu kribbeln und ich überlegte, ob nicht vielleicht etwas an Thomas’ absonderlicher Theorie dran war. In den letzten Wochen hatte es eine merkwürdige Häufung von toten Männern im besten Alter gegeben – drei oder vier, wenn ich mich...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2022
Übersetzer Birgit Erdmann
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-95854-992-6 / 3958549926
ISBN-13 978-3-95854-992-0 / 9783958549920
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