Der Junge, der mit den Wölfen spricht (eBook)

Spannendes Abenteuer über Mut und Freiheit, ab 10 Jahren

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
208 Seiten
Thienemann Verlag GmbH
978-3-522-61119-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Junge, der mit den Wölfen spricht -  Sam Thompson
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Emotionale Abenteuergeschichte, die Mut macht, zu sich zu stehen. Für Kinder ab 10 Jahren. Silas wird in der Schule gemobbt, weil er nicht spricht. Eines Tages hilft er einem verletzten Wolf - und darf zum Dank eine verborgene Welt sprechender Tiere betreten, eine Welt, in der Sprache Macht bedeutet. Denn tief im Wald leben Füchse in einer unterirdischen Stadt. Sie manipulieren die Wölfe und unterdrücken sie. Silas möchte seinen Wolfsfreunden helfen, sich von den schlauen Füchsen zu befreien. Aber das geht nur, wenn es ihm gelingt, seine Stimme zu finden.

Sam Thompson wurde 1978 in London geboren. Sein erstes Buch, Communion Town, wurde 2012 veröffentlicht und für den Man Booker Prize nominiert. Er hat für die Times Literary Supplement, die London Review of Books und andere Zeitschriften geschrieben und an der Oxford University, Oxford Brookes und der Queen's University Belfast englische Literatur und Kreatives Schreiben unterrichtet. Heute lebt er in Belfast.

2


Silas zog seinen Schuh aus und rollte vorsichtig den blutigen Socken vom verletzten Knöchel. Der Schmerz war ganz anders als bei einem Kratzer oder Schnitt: Er pochte sein ganzes Bein hinauf, als hätte man etwas Brennendes in seine Adern gespült. Der Schmerz sagte ihm, dass wirklich etwas beschädigt war, dass tief drinnen etwas kaputt war und nicht so leicht wieder heil werden würde.

Er zwang sich hinzuschauen und sah das Blut aus einem schartigen Riss in seiner Haut quellen. Sein Knöchel und sein Fuß verfärbten sich zu einem ekligen Dunkelviolett und schwollen bereits an, die Haut spannte sich darüber wie ein Luftballon.

Silas biss auf die Zähne und versuchte, sein Taschentuch um den Knöchel zu wickeln. Das stillte die Blutung kaum, und es tat so weh, dass er es nicht aushielt. Er versuchte aufzustehen, doch der Schmerz ließ ihn aufschluchzen und wieder zu Boden sinken.

Etwas bewegte sich im Unterholz. Er sah eine graue Schnauze. Langsam schob sich der Wolf aus dem Gebüsch: ein knochiger Schatten, der es verstand, sich lautlos zu bewegen. Der Wolf zwängte sich unter dem Maschendraht hindurch, tappte auf ihn zu und schnüffelte an seinem Knöchel.

Dann sprach der Wolf.

»Das ist ein schlimmer Biss«, sagte er. »Kannst du laufen?«

Silas starrte den Wolf verblüfft an. Inzwischen machte es ihm große Angst, dass die Wunde nicht aufhörte zu bluten: Das Taschentuch war schon dunkelrot und klatschnass.

»Wenn du nicht laufen kannst, dann kannst du reiten«, sagte der Wolf. »Es ist nicht weit, aber wir müssen uns beeilen. Die Füchse werden zurückkommen.«

Silas versuchte, etwas zu sagen, und Tränen brannten in seinen Augen, als er wieder scheiterte. Der Wolf betrachtete ihn. Silas grub seine Fingernägel in die Handflächen und zwang schließlich die Wörter heraus, eins nach dem anderen.

»Du . . . sprichst?«

Der Wolf knurrte und wandte sich ab. Silas verstand es nicht, hatte aber das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben oder unabsichtlich unhöflich gewesen zu sein. Er war sicher, der Wolf würde umdrehen und für immer verschwinden.

Aber der Wolf ging nicht. Er hielt inne, ließ den Kopf tief hängen, aber schließlich redete er wieder.

»Ich heiße Isengrim«, sagte er.

»Silas«, sagte Silas. Diesmal ging es etwas leichter.

Isengrim kauerte sich nieder, presste den Bauch an die Erde.

»Also gut, Silas«, sagte er. »Kannst du dich festhalten?«

Wenige Augenblicke später krallte Silas seine Finger in Isengrims Fell, als der Wolf den Pfad entlangtrabte. Das Gewicht des Jungen auf seinem Rücken schien ihn nicht zu bremsen, und bald bewegten sie sich viel schneller, als Silas rennen konnte. Beton, Zaun und Hecken sausten vorbei, dann die Rückseiten von Schrebergärten mit ihren Mauern. Silas klammerte sich fest.

Vor ihnen lag das Ende des Radwegs, wo er auf dem Heimweg normalerweise eine Reihe Poller durchschritt. Doch jetzt erreichten sie die Poller gar nicht, denn Isengrim warf sich seitwärts, als wollte er die Backsteinmauer rammen, die sich neben ihnen hinzog.

Silas zuckte zusammen, weil er mit einem Aufprall rechnete, doch es kam keiner. Als er die Augen öffnete, galoppierten sie einen schmalen Gang entlang, mit moosigen Mauern auf beiden Seiten. Diese Abzweigung hatte er noch nie bemerkt.

Welkes Laub wirbelte um sie her, und mehrmals sprang der Wolf über trockene Äste, die im Weg lagen. Die Wände rückten näher und das Moos wurde dichter, bis kein Backstein mehr zu sehen war. Isengrim wurde nicht langsamer. Silas versuchte, nicht aufzuschreien wegen der zuckenden Schmerzen in seinem Knöchel.

Dann verließen sie plötzlich den schmalen Gang und waren anderswo.

Umgeben von Bäumen. Aber nicht so kümmerliche Bäume wie die neben dem Radweg. Überall ragten dicke, knorrige, moosbewachsene Stämme empor und verschränkten ihre Arme zu einem Baldachin. Herabgefallene Äste hingen in Schlingpflanzennetzen. Der Boden war von Wurzeln durchzogen. Blätter tropften. Silas schaute über die Schulter, versuchte zu erkennen, wie weit sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, doch er sah nur grünes Zwielicht, große Farne und vorbeirasende Stämme. Es kam ihm vor, als würden sie durch ein unterirdisches Tunnellabyrinth rennen.

Isengrim wurde langsamer, fiel in Trab. Die übliche Stadtatmosphäre – die abgestandene, aufgewärmte Luft, das leise Verkehrsgrummeln, das schwache, verschleierte Licht – war wie weggeblasen. Silas’ Sinne vibrierten bei der Entdeckung, dass Licht, Klang und Geruch sich zu einem großen Leuchten vereinigen konnten. Um ihn herum wand sich der Duft, den die Bäume ausdünsteten, wie Nebelstreifen durch die Luft. Schwankende Blätter ließen Sonnenlicht hereintröpfeln und sorgten für ein endloses Flüstern, das sich mit dem Zwitschern der Vögel zu einem mächtigen Säuseln verband, einem Klang, größer und tiefer als Stille. Die reine und frische Luft war wie ein Versprechen, dass gleich etwas geschehen würde; und dieses Etwas würde allumfassend sein.

Die Bäume lichteten sich. Der Wolf blieb stehen und sie schauten ins Land hinaus. Vor ihnen senkte sich ein felsiger Abhang, an dessen Fuß loses Geröll lag. Dahinter begannen wieder die Bäume. Die Landschaft, die sich unter ihnen ausbreitete, war ein ungeheurer Wald, der bis zum Horizont reichte. Das Grün wurde nur von Felszacken hier und dort oder einem glitzernden Wasserlauf unterbrochen.

Silas hatte nur einen Gedanken: Sie waren in eine andere Welt gelangt.

Isengrim witterte.

»Es gibt nur eine Welt«, sagte er wie nebenbei.

Der Wolf wurde wieder schneller, rannte auf dem Bergkamm entlang, Zentimeter vom Abgrund, mit sicherem Tritt. Silas war verwirrt und krallte sich noch fester ins warme Fell. Er musste wohl laut geredet haben, ohne es zu merken, dachte er.

»Das ist der WALD«, sagte Isengrim im Laufen. »Deine Leute leben auch hier in der Nähe. Aber wie nah, das bekommen sie meistens nicht mit.«

Dann sprang er über die Kante. Eine unterbrochene Reihe von Felsbrocken führte den Steilhang hinab. Silas wäre allein niemals einen so steilen und zerklüfteten Hang hinuntergekommen, doch Isengrim sprang locker von Felsen zu Felsen.

Nachdem sie unten ein Stückchen in den Wald hineingegangen waren, kamen sie an eine Stelle, wo vor langer Zeit ein riesiger alter Baum umgestürzt war. Der Stamm lag auf dem Waldboden, der Wurzelballen hing entblößt über dem Loch, aus dem er gerissen worden war.

»Das ist mein Heim«, sagte der Wolf.

Sie drängten sich durch herabhängenden Efeu in den Hohlraum unter den Wurzeln.

»Und dies ist meine Familie.«

Ein weiterer Wolf wartete in der Mulde auf sie. Eine Wölfin: Sie war etwas kleiner als Isengrim, ihre Gliedmaßen schlanker, ihre Gesichtszüge feiner, ihre Ohren und ihre Schnauze an den Spitzen von hellerem Grau. Silas glitt von Isengrims Rücken und plumpste zu Boden. Die Wölfe umkreisten sich, drückten die Nasen ins Fell an der Kehle des anderen. Sie rieben ihre Gesichter aneinander.

Als sie ihre Begrüßung beendet hatten, sah die Wölfin Silas an. Ihre Augen waren grau und klar wie Eis.

»Er hat einen Fuchsbiss«, sagte Isengrim.

Die Wölfin verschwand im Dunkel unter den Baumwurzeln. Silas sah, das Loch reichte tief hinab. Es war tiefer gegraben worden, bis ein Bau daraus wurde. Er versuchte, es sich auf dem Boden bequem zu machen, doch der Schmerz war noch schlimmer geworden. Sein Fuß war ein geschwollener Klumpen, eine quälende Last, die an seinem Bein baumelte, und er traute sich nicht, hinzuschauen. Die brennende Taubheit schien sich auszubreiten, streckte ihre Fühler durch seinen Körper bis hinauf in Brust und Kehle.

Die Wölfin kam zurück und hatte etwas im Maul. Es war ein Stück von einem großen Fisch, vielleicht ein Lachs. Sie legte es Isengrim vor die Füße, doch der grollte.

»Ich brauche nichts«, sagte er. »Kümmere dich um das Kind.«

Aber die Stimme des Wolfs war schwach, und Silas sah, wie erschöpft er war. Er wirkte noch ausgelaugter als vorhin, als sie sich auf dem Radweg begegnet waren. Ohne ein weiteres Wort legte Isengrim sich hin und nagte am dunklen, vertrockneten Fleisch des Fisches.

Die Wölfin verschwand wieder im Dunkel und kehrte mit etwas anderem zwischen den Kiefern zurück. Das ließ sie vor Silas’ Füße fallen. Es war ein Klumpen Lehm.

»Ich heiße Hersent«, sagte sie. »Und jetzt zeig mir deinen Biss.«

Der Lehm war blauschwarz. Winzige helle Flecken glänzten darin wie Sterne in einer Handvoll Nachthimmel. Hersent begann, auf dem Lehm zu kauen, wohl um ihn weich zu machen.

Silas schwindelte. Ihm war, als würde er in einen Strudel von Übelkeit und Verwirrung gezogen, als die Wölfin sein blutiges Taschentuch abschälte und den Lehm dorthin drückte, wo die Füchsin ihn gebissen hatte. Hersent leckte den Lehm glatt und eine herrliche Kühle sickerte in seinen Knöchel.

»Ruh dich ein wenig aus«, sagte sie.

Silas schloss die Augen.

Er wusste nicht, wie viel Zeit verging, während er unter dem Wurzeldach lag und mit halbem Ohr hörte, wie Isengrim Hersent erzählte, was ihm passiert war. Wie die Füchse den Wolf bei der Nahrungssuche überrascht hatten, wie er drei Tage und Nächte ohne Rast geflohen war, ohne sie abschütteln zu können, bis etwas Spitzes sich in seine Pfote bohrte und er merkte, dass er nicht weiterlaufen konnte. Wie er schon kurz vorm Aufgeben gewesen war, als das Menschenkind ihn gerettet hatte.

Die Wölfe redeten sehr lange miteinander. Isengrims Stimme klang tief und ernst, so als ob das Reden ihn schmerzte....

Erscheint lt. Verlag 24.2.2022
Übersetzer Ingo Herzke
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Kinderbücher bis 11 Jahre
Schlagworte Abenteuer • Außenseiter • Befreiung • Fabelwesen • Freundschaft • Fuchs • Geschenk • Isegrim • Kinderbuch • Mobbing • Reineke Fuchs • spannend • Sprachlos • Stille • Tiere • Unterdrückung • Wald • Wälder • Wolf
ISBN-10 3-522-61119-5 / 3522611195
ISBN-13 978-3-522-61119-0 / 9783522611190
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