Sansaria 1. Träume der Finsternis (eBook)
432 Seiten
Verlag Friedrich Oetinger
978-3-96052-241-6 (ISBN)
Tania Messner, geboren 1974 in Südtirol studierte Medizin und Journalistik. Sie schrieb u.a. für Vogue, Vanity Fair und Süddeutsche Zeitung und lebt mit ihrem Mann in Bangkok.
Tania Messner, geboren 1974 in Südtirol studierte Medizin und Journalistik. Sie schrieb u.a. für Vogue, Vanity Fair und Süddeutsche Zeitung und lebt mit ihrem Mann in Bangkok.
Erstes Kapitel
Zur gleichen Zeit lag ein blasser elfjähriger Junge namens Leonard Federspiel im Villenviertel einer kleinen deutschen Stadt in seinem Bett und ahnte nicht, dass er bereits Teil dieser Geschichte war. Hätte er es gewusst, wäre es ihm unangenehm gewesen. Denn wenn Leonard neben der Schule irgendetwas richtig wichtig war, dann, nicht aufzufallen. Was ihm aber nicht gelang, wenn es darum ging, dass er etwas besser wusste.
In seinem Bett auf dem Rücken liegend, flackerten seine Augenlider, und exakt eineinhalb Sekunden später landete er unsanft auf allen vieren mitten in einer großen Menschenansammlung. Seltsam, dachte er und tastete mit den Händen zögerlich über den Marmorboden, auf dem er gelandet war. Der fühlt sich echt an. Leonard konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal derart realistisch geträumt zu haben. Seine Knie schmerzten von dem Aufprall, und um ihn herum bewegte sich ein Dickicht aus Beinen, so nah, dass kaum Licht zu ihm drang. Derbe Stiefel und elegante Stöckelschuhe schritten direkt an seinem Gesicht vorbei, und Leonard brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass die dazugehörigen Personen über ihm alle in dieselbe Richtung hasteten.
»Also wirklich, passen Sie doch auf!«, schimpfte eine schrille Stimme vorwurfsvoll zu ihm hinunter. Ein spitzer Schuh stieß ihm in die Seite, und Leonard rappelte sich hastig hoch, bevor er weitere Tritte abbekam. Was er sah, machte ihn sprachlos. Er stand in einer riesigen Halle aus hellem Stein, und an der Wand vor ihm reihten sich mehrere enorme Röhren aneinander. Schiebetüren öffneten sich rhythmisch und ließen immer neue Gestalten aus ihrem blendend weißen Inneren hervortreten. Leonard rieb sich die Augen. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn er zu Hause in seinem Bett aufgewacht wäre. Doch als er sie wieder aufmachte, war das Gedränge nur noch größer geworden. Alle trugen lange Umhänge, die an den Ärmeln oder am Saum leicht angekohlt waren. Während sie einander in die Arme fielen und aufgeregt durcheinanderredeten, breitete sich der Geruch verbrannter Textilien in der Halle aus. Wie eine Puppe wurde Leonard jetzt in alle Richtungen geschubst. Ellenbögen stachen ihm in die Seite und brachten ihn aus dem Gleichgewicht. Als er zur gläsernen Kuppel hochblickte, wurde ihm schwarz vor Augen. Etwas Raues kratzte über sein Gesicht, und er begann, panisch mit den Armen in der Luft zu rudern.
»Da bist du ja endlich«, zischte es in sein Ohr, und etwas zerrte an ihm herum. »Halt still, ich mach das.« Einen Augenblick später blinzelte Leonard in das konzentrierte Gesicht eines Mädchens. Ein Mädchen, das er kannte, ohne ihr je zuvor begegnet zu sein. Seit ein paar Wochen war ihm genau dieses Mädchen jede Nacht im Traum erschienen. Leonard starrte sie mit offenem Mund an. Sie war etwa einen halben Kopf größer als er und hatte langes Haar. Als Leonard an sich hinuntersah, begriff er, dass sie ihm einen Kapuzenumhang übergezogen hatte und nun an den Haken nestelte. Er ließ es geschehen und blickte hinauf zu der Kuppel – durch die großen, achteckigen Scheiben schimmerten tatsächlich drei Monde unter der Sonne.
»Schon besser«, sagte das Mädchen zufrieden. Sie stierte nun auf einen Punkt auf seiner Schulter und sagte etwas leiser: »Freut mich. Aber versteck dich lieber, besser, man sieht dich hier nicht.«
»Wieso? Vor wem soll ich mich verstecken?«, fragte Leonard verwirrt. »Und wo sind wir hier überhaupt? Woher kommen die vielen Leute – und sind die Monde da oben etwa echt?«
»Meine Güte, hier kann man doch nicht einfach stehen bleiben!«
Leonard wurde unwirsch zur Seite geschubst. Der Umhang kratzte unangenehm auf seiner Haut, und er begann, die Haken daran zu lösen.
»Lass ihn an«, sagte das Mädchen streng und deutete zu einem Ausgang, an dem sich die Reisenden an einer Art Kontrollpunkt stauten. »Außer du willst, dass dich die Wachen dahinten im Pyjama sehen.«
Leonard ließ die Hände sinken. Unter dem Umhang trug er tatsächlich noch seinen Schlafanzug, außerdem war er barfuß.
»Wenn du nicht ins Gefängnis wandern willst, kommst du jetzt besser mit.« Damit drückte sie ihm einen Schal in die Hand und begann, sich einen ähnlichen um den Hals zu wickeln. Sie vergrub ihre Nase darin und schob sich die Kapuze tief ins Gesicht. »Solltest du genauso machen, und halt auch besser gleich die Luft an.«
Eine Glocke läutete, und es fing um sie herum zu zischen an. Leonard beobachtete, wie vier Gestalten rechts neben ihm von einem rotierenden Lichtkegel eingehüllt wurden und darin verschwanden. Schon schoben sich an der Stelle, wo sie gerade noch gestanden hatten, vier winzige Wesen mit auffällig spitzen Ohren an ihm vorbei. Andere Personen änderten ihre Hautfarbe, während wieder andere plötzlich an Fabelwesen erinnerten, die man aus Märchenbüchern kannte. Eine kräftige Frau wurde sogar zu einer lilafarbenen Pfütze und floss um alle Füße herum in Richtung Kontrollstelle. Unmöglich, das kann alles nicht echt sein, dachte Leonard. Wie bin ich hier hingekommen und wieso kenne ich dieses Mädchen? Während die Gedanken in seinem Kopf rasten, breitete sich ein bestialischer Gestank aus, und ihm wurde speiübel. So rasch er konnte, zog er sich den Schal über die Nase. »Ist das giftig?«, rief er und atmete stockend durch den Mund.
»Quatsch, stinkt nur ziemlich«, nuschelte das Mädchen durch ihren Schal. »60 Prozent Aroma eines alten, französischen Käses, 35 Prozent Duft von verschwitzter Funktionskleidung und 15 Prozent Geruch des Morgenurins einer trächtigen Schlange aus dem Uralgebirge. Kommt ungefähr hin, oder?«
»Woher soll ich wissen, wie eine Schlange aus dem Uralgebirge riecht, wenn sie pinkelt?«, gab Leonard zurück. »Außerdem kenne ich nur Emmentaler und Gouda. Und Mozzarella, aber der zählt für mich eher zu Joghurt und Quark.« Es fiel ihm schwer, seine Kenntnisse für sich zu behalten, wenn er erst mal anfing.
»Bei Verwandlungen stinkt es immer so«, antwortete das Mädchen und zuckte mit den Schultern.
»Zum Donnerwetter, passen Sie doch auf!«, brüllte jemand in Leonards Ohr. Ein knorriges Wesen, das entfernt an einen verkohlten Baumstumpf erinnerte, hatte sich vor ihm aufgebaut. »Was stehst du hier herum? Das ist doch keine Wartezone …«, schimpfte der Stumpf und pikste ihm mit einem dürren Astarm in die Brust, während er sich mit einem anderen die Stelle massierte, an der er sich gestoßen hatte. Leonard zog den Schal vom Mund und strich sich das struppige Haar aus dem Gesicht. Er wollte gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, als das Baumwesen zurückwich, sich mehrmals verbeugte und stammelte: »Oh, bitte verzeihen Sie, ich h-h-hatte Sie nicht gleich erkannt … Mein Fehler, verzeihen Sie vielmals …«
»Sie müssen mich verwechseln«, antwortete Leonard und sah sich Hilfe suchend nach dem Mädchen um. »Tut mir wirklich leid, es ist sehr eng hier«, erklärte er, doch der Stumpf tuschelte bereits mit seinen Nachbarn.
»… die Prophezeiung, sehen Sie?«, rief der Baumstumpf und deutete auf Leonard.
»Es ist also wahr. Schau doch!«, japste eine kleine Frau.
»Also, ich weiß nicht, das soll er sein? So schmächtig und blass. Bist du sicher?«, fragte ein anderer.
»Aber ja, sehen Sie doch: Sein Träumling hat das Zeichen …« Dabei deutete der Baumstumpf auf Leonards Schulter und nickte feierlich. »Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen. Frohes Frühlingsfest und gutes Gelingen!«
»Was ist da?«, fragte Leonard irritiert und wischte sich über die Schulter. Der Baumstumpf verbeugte sich noch einmal, ohne zu merken, dass sich hinter ihm die Menge zu teilen begann.
»Kieferlinge!«, schrie das Mädchen in dem Moment und deutete mit aufgerissenen Augen hinter ihn. Leonard fuhr herum und erblickte durch die Menge, die sich geteilt hatte, fünf dreibeinige Viecher, so groß wie Ochsen, mit glatter, grün schimmernder Haut, denen Wachen die Maulkörbe von den Schädeln zerrten. Das gibt es nicht, dachte er und spürte eine so große Angst, wie er sie noch nie in seinem Leben gefühlt hatte.
Das Wort »Kieferlinge« war noch nicht verhallt, da brach Panik in der Halle aus. Die Leute schrien auf, ließen ihr Gepäck fallen und liefen in alle Richtungen davon, wobei sie unkoordiniert in ihre Nachbarn prallten. Einige erstarrten vor Schreck. Die Menge wogte panisch von den Viechern weg und wieder zurück. Die Kieferlinge schnupperten mit ihren medizinballgroßen Köpfen ruhig in Leonards Richtung.
»Kieferlinge orientieren sich durch Geruch und eine Art Sonar wie Fledermäuse«, flüsterte das Mädchen in Leonards Ohr. »Du darfst sie auf keinen Fall durch schnelle Bewegungen irritieren. Folge mir! Langsam!« Sie zerrte ihn hinter sich her. Ein Kieferling hatte in der Zwischenzeit den Baumstumpf erreicht, den Leonard angerempelt hatte. Sein Nacken kräuselte sich, als er den Stumpf mit flachen Nüstern beschnupperte. Gerade als die Umstehenden dachten, dass sich der Kieferling abwenden würde, biss er dem Baumstamm in einer einzigen blitzschnellen Bewegung den halben Ast ab. Schreie gellten durch die Halle, während der schockierte Stumpf nicht mal mehr ein Knirschen von sich gab und ohnmächtig zu Boden fiel. Der Kieferling nahm erneut Witterung auf und galoppierte dem Mädchen und Leonard dann mit mächtigen Sätzen nach. Er stieß sich dabei mit seinem kräftigen Hinterlauf vom Boden ab und benutzte die beiden Vorderpranken nur, um die Richtung zu korrigieren, während er auf dem glatten Untergrund zum nächsten Sprung ansetzte. Das Mädchen bugsierte Leonard durch die dichter werdende Menschentraube vor den Ankunftsröhren,...
Erscheint lt. Verlag | 4.4.2022 |
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Reihe/Serie | Sansaria | Sansaria |
Illustrationen | Jürgen V. Blankenhagen |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | ab 10 • Abenteuer • Alptraum • Fantasy • Kinderbuch • magisch • Mut • Nacht • Spannung • Traumfabrik • Traumkreatur • Träumling • Traumwelten • Zauber |
ISBN-10 | 3-96052-241-X / 396052241X |
ISBN-13 | 978-3-96052-241-6 / 9783960522416 |
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