Weil wir träumten (eBook)

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2022 | 1., Auflage
448 Seiten
Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
978-3-522-62192-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Weil wir träumten - Antonia Michaelis
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Ein bewegender Jugendroman von einer hochkarätigen Autorin, der die Leser*innen nach Madagaskar entführt.  Madagaskar mit seinen Traumstränden, exotischen Tieren und Blütenmeeren - das reinste Paradies für Emma! Hier kann sie endlich all die Einschränkungen vergessen, die ihre Herzkrankheit mit sich bringt. Doch als Emma die Madegassin Fy kennenlernt, erfährt sie von Armut, Gewalt und einem schrecklichen Geheimnis, den Schattenseiten des Paradieses. Eine berührende Geschichte über eine besondere Freundschaft

Die studierte Medizinerin, Weltenbummlerin und vierfache Mutter lebt als engagierte Autorin mit ihrer Familie an der Ostseeküste. Ihre zahlreichen Bücher sind durchwegs ungewöhnlich und bewegend. Sie wurde mit ihrem Jugendroman 'Der Märchenerzähler' für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Für ihre Romane hat sie zahlreiche Ehrungen erhalten. Antonia Michaelis schreibt für Erwachsene, für Jugendliche und für Kinder.

Es ist so schön hier!

Alles ist schön.

Die Boote da draußen, im letzten Licht, Einbäume, in denen die Fischer der Nacht entgegenpaddeln. Die Palme, auf deren fast waagrechtem Stamm ich sitze und die sich so malerisch über das Wasser reckt. Die Kinder, die den Strand entlanglaufen: kleine, übermütige Silhouetten vor dem Sonnenuntergang. Sie haben Muscheln oder Krabben in alten Flaschen gesammelt, balancieren über Felsen, hüpfen hinunter in den Sand, lachen: jeder Schritt ein Abenteuer.

Sie werden nach Hause gehen zu ihren Müttern, in die palmstrohgedeckten Hütten der Insel zwischen den Palmen, sie werden den Fisch essen, den die Väter gefangen haben, sie werden von einem Tag voller Schätze und Entdeckungen träumen.

So wollte ich sein, als Kind. So frei. So wild. Und ich stelle es mir vor: ein Kind auf der Île aux Nattes zu sein, ein Kind in Madagaskar, ein kleines Mädchen mit einem Dutzend geflochtener Zöpfe.

Ich war nie ein wildes und freies Kind.

Vor den Hütten unserer Lodge, vor dem grünen Garten voller blühender Bäume, sitzt auf einer schadhaften Bank die einzige Person, die mir je zugetraut hat, wild und frei zu sein: Elise. Achtzig Jahre alt, etwas eigen, kerngesund. Sie war auch die Einzige, die sich bereit erklärt hat, mit mir hierher zu kommen. Sie war es, die die anderen davon überzeugt hat, dass es eine ganz normale und ungefährliche Reise ist.

Mama war nicht der Meinung. Madagaskar! Allein schon der Flug!

Denn ich bin nicht normal, und nichts ist für mich ungefährlich.

Ich bin Emma. Sechzehn Jahre alt. Zu klein und zu dünn für mein Alter, zu blass, geboren mit einer Fallot-Tetralogie, im ersten Lebensjahr dreimal operiert, seit zwei Jahren Besitzerin einer neuen künstlichen Pulmonalklappe. Und ich bin auf Droge. Immer. Die anderen nennen es Blutverdünner.

Emma Andermann, sechzehn Jahre alt, Herzpatientin. Als wäre es das, was mich ausmacht.

Manchmal werde ich wütend. Mama sagt, ich soll versuchen, gleichmäßig zu atmen und zu zählen, es ist nicht gut für mein Herz, wenn ich mich aufrege. Elise lächelt nur. Wütend sein ist gesund, sagt sie. Lass es raus.

Aber ich will nicht wütend sein, nicht jetzt. Nicht hier, wo alles so schön ist.

Ich habe dieses Reisetagebuch begonnen, um nur die schönen Dinge aufzuschreiben.

Auf der Mole vor der Lodge leuchtet ein Dutzend Laternen in die Dunkelheit, eine Perlenkette aus Lichtern in der Nacht. Irgendwo da draußen, hinter der weiß leuchtenden Gischt der Wellen, schwimmen ruhig und riesig die Wale durch den unendlichen Ozean. Sie kommen hierher, um in den stillen Wassern vor der Insel ihre Kinder zu gebären.

Und ich spüre, wie mein Herz ganz ruhig wird, während es all dies in sich aufnimmt.

Sie haben nicht verstanden, warum ich ausgerechnet hierher wollte.

Sie hätten mich lieber an einen italienischen Strand geschickt oder am besten in ein deutsches Freibad, nach all dem Stress der letzten Monate, der Schule und … allem anderen.

Madagaskar? Warum Madagaskar?

Und dann all die Diskussionen hinter geschlossenen Türen, von denen sie dachten, ich würde sie nicht mithören: Ob ich das kann. Ob das geht. Ob das nicht zu viel ist.

Andere Leute reisen mit sechzehn mit dem Zug durch Europa, machen ein Austauschjahr in Neuseeland, gehen in den Bergen klettern. Aber nicht Emma Andermann, Emma Andermann zählt jeden Morgen ihre Tabletten ab und braucht eine Begleitung, für jede Art von Reise.

»Ich kann sowieso nicht mit«, hat Mama sofort gesagt. »Drei Wochen Urlaub? Jetzt? Unmöglich. Die Arbeit …«

Papa hat ungefähr dasselbe gesagt, am Telefon. »Kannst du nicht irgendwo in der Nähe Strandurlaub machen, Emma? Kürzer? Ein paar Tage am Bodensee …«

»Am Bodensee sind keine Wale.«

»Im Sea Life in München gibt es Wale.«

»Nein. Nur Seepferdchen. Und keinen Urwald.«

»Geht es um den Urwald? Im botanischen Garten gibt es Urwald.«

»Aber keine fast ausgestorbenen Halbaffen.«

Ich hatte die Augen geschlossen und tief durchgeatmet und ihn nicht angeschrien. »Es geht um das Leben. Die Mitte des Lebens. Den Ursprung. Ja, ich weiß, es ist nicht auf dieser verflixten Insel entstanden, aber diese verflixte Insel ist nahe dran. Ich habe so viel gelesen. Sie ist … alles in klein. Der Urwald. Die Tiere. Das Leben im Meer. Ich möchte einmal die Mitte des Lebens sehen.«

Elise und Mama hatten neben mir gesessen, als ich mit Papa telefoniert hatte. Und als ich die Augen wieder geöffnet hatte, hatte Mama mich angesehen, auf diese Art, die ich hasse. Mitleidig. Und Elise hatte gesagt: »Dann lass uns fliegen. Zur Mitte des Lebens.«

Und alle, die davon erfuhren, erklärten sie für verrückt, doch am Ende konnte niemand wirklich etwas sagen, denn sie mag zwar achtzig sein und meine Urgroßmutter, aber sie ist vermutlich die gesündeste Person der ganzen Familie. Und außerdem ist sie nach Mama die Person, die mein Herz und meine Medikamente am besten kennt. Die Person, mit der ich in meinem Leben am meisten Zeit verbracht habe.

»Halbaffen und Sandstrand und Kokosnüsse«, hat sie gesagt und gelächelt. »Das ist genau das, was ich brauche nach den letzten Schulprüfungen.«

»Moment«, habe ich gesagt, »ich habe die zehnte Klasse hinter mich gebracht, nicht du.«

Wir flogen an einem Sonntag. Ich hatte genügend Medikamente im Gepäck, um ein ganzes Krankenhaus über mehrere Wochen zu versorgen.

Die Kontrollen waren eine Zerreißprobe, ich kam mir vor, als täte ich etwas Illegales, als würde irgendwer mich aus der Schlange ziehen und sagen: »Das ist doch Emma Andermann, zuletzt Zimmer dreizehn, wir kennen die Patientenakte! Versucht sie zu fliehen?«

Ich zitterte wie eine Verbrecherin, während sie sich meinen Pass ansahen.

Ich – biometrisch: Sommersprossen, glattes rötliches Haar, eine Brille, die immer zu groß wirkt für das schmale Gesicht. Manche schätzen mich auf dreizehn. Ein Meter 53 steht im Pass.

Ich war ein Frühchen, ein hässliches Ding in einem Inkubator, es gibt Fotos davon. Papa sagt, ich wäre niedlich gewesen. Ich hatte Segelohren von den CPAP-Beatmungsschläuchen und eine nach oben gerichtete Nase, alle beatmeten Frühchen haben das. Die Nase hat sich normalisiert. Die leicht abstehenden Ohren habe ich noch immer. Ich trage das Haar halblang und offen, das verbirgt sie. Aber auf dem Passbild müssen die Ohren frei sein.

Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre jemand anders. Ich habe im Kindergarten damit begonnen, wo alle Kinder größer und stärker waren als ich. Sie durften mich nicht schubsen oder ärgern, das hatten die Erwachsenen ihnen verboten, auf mich musste man aufpassen. Wenn die Erzieher es nicht sahen, streckten die anderen mir die Zunge raus. Und ich träumte davon, groß und dick zu sein und drahtige Locken zu haben …

Dann der panische Anruf von Mama: »Seid ihr schon durch die Kontrollen? Emma, ich weiß nicht, darf denn eine künstliche Pulmonalklappe überhaupt durch den Metalldetektor?«

»Mama. Das Ding ist aus Kunststoff. Nicht aus Eisen.« Und ich versuchte zu lachen. »Ich bin nicht Frankenstein. Nur deine Tochter.«

»Ja. Natürlich. Ich liebe dich. Gott, Emma, ich wünschte, du würdest nicht fliegen. Sag Elise, sie soll auf dich aufpassen. Sag …«

Ich hatte den Ton laut gestellt, und Elise beugte sich zu mir und sagte ins Telefon: »Irmie? Sei ein Schatz und lass deine Tochter jetzt das Telefon aufs Röntgenband legen. Sie ist sechzehn Jahre alt. Wenn überhaupt, passt sie auf mich auf.«

In der Nacht, im Flugzeug, sah ich draußen die Sterne zwischen den Wolken. Elise schlief. Und ich dachte: Jede Minute trägt mich weiter von meinem alten Leben weg, von den Menschen, die wissen, dass sie mich beschützen müssen, dass ich anders bin. Jede Minute trägt mich zu einem Ort, an dem niemand es weiß. An dem ich ein ganz normaler Mensch sein kann.

Zwanzig Stunden später, nach einem zweiten Flug, landeten wir auf der Île Sainte-Marie: Pirateninsel früherer Zeiten. Wir mussten ein Stück fahren, in einem klapprigen Dreiradtaxi, und danach in einem Boot übersetzen. Man hätte zu Fuß durchs warme Wasser hinüberwaten können. Aber das Boot war praktisch, denn es fuhr nicht nur hinüber, sondern weiter, an der Insel entlang bis zu unserem Ziel, und trug geduldig unser Gepäck.

Das Boot bestand aus zwei Einbäumen mit einer Verbindungsplattform und einem Außenborder, und Andry, unserer Bootsführer, hatte alles daraufgestapelt, was sie in der nächsten Woche im Hotel brauchen würden. Einmal in der Woche, erklärte er in seinem gebrochenen Französisch, fuhren sie zum Einkaufen nach Sainte-Marie, dort war alles billiger, und so stapelten sich Eier, Puddingpulver, Reissäcke, Milchpackungen im Boot, gemeinsam mit unserem Gepäck.

Ich machte ein Foto von all dem. Und von Andry. Er lächelt auf dem Bild. Ich hatte gelesen, dass Madagaskar von zwei Seiten besiedelt worden war, von Asien und vom afrikanischen Festland aus. Die Gesichter der Madagassen gehören zu den interessantesten, die ich kenne, und das Strahlen auf diesem Gesicht machte es noch schöner.

Hinter ihm breitet sich auf dem Foto das tiefblaue Meer bis in die Unendlichkeit.

Die Inselküste war ein grünes Band voll bunter Blütentupfen. Irgendwo an einem einsamen Stück Strand stand ein Tisch im Sand, und zwei Leute saßen daran und hoben ihre Weingläser, um uns zuzuprosten.

»Das möchte ich auch machen«, sagte Elise. »Ein Picknick an einem Tisch im Sand, samt Weinkühler. Das hat...

Erscheint lt. Verlag 27.1.2022
Mitarbeit Designer: Ria Raven
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Abschied • Afrika • Armut • Drama • Dritte Welt • erstes Mal • Fernweh • Freundschaft • Gewalt • Hitze • Hunger • Jugendroman • Krankheit • Lemuren • Liebe • Madagaskar • Meer • Missbrauch • Paradies • Schwarz • Strand • Tauchen • Tod • todkrank • Traurig • Urlaub • Verliebt sein • Wale
ISBN-10 3-522-62192-1 / 3522621921
ISBN-13 978-3-522-62192-2 / 9783522621922
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