Ancora (eBook)
352 Seiten
Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
978-3-522-62191-5 (ISBN)
Colin Hadler wurde 2001 in Graz geboren. Schon im Alter von 12 Jahren spielte er in Schauspielhäusern Theater. Der 2019 erschienene Debütroman Hinterm Hasen lauert er schlug große Wellen. 2020 erschien Wenn das Feuer ausgeht. Hadler lebt nach Abschluss seiner Matura in Wien. Der Autor steht für Lesungen zur Verfügung.
Der Rabe fliegt nicht.
Kein Flügelschlag, kein Atemzug.
Er trotzt allen Naturgesetzen, jeglicher Logik.
Der Vogel ist eingefroren, nur etwa hundert Meter vor mir, mitten in der Luft. Ein pechschwarzer Fleck am wolkenlosen Himmel. Seine kleinen, diebischen Pupillen starren förmlich in meine Richtung. Und als ich den Blick erwidere, überkommt mich das vertraute Gefühl der Schwerelosigkeit. Mein Kopf pulsiert. Meine Hände kribbeln. Es ist, als würden sich meine Sinne verschärfen, während die Zeit – und somit auch die Welt um mich herum – stehen geblieben ist. Es gibt kein Leben, keinen Tod. Es gibt einfach nichts. Als hätte jemand den Stecker gezogen, der das Universum im Gleichgewicht hält.
Ich streiche mir meine verschwitzten, dunkelblonden Haare aus dem Gesicht und knie mich hin. Dann grabe ich meine Hände in die trockene Erde, die sich wie Sand anfühlt. Die Sonne knallt mir dabei in den Nacken.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Zeit stehen bleibt. Meist passiert es unerwartet, ohne Vorwarnung. Der letzte Stillstand ist aber schon Monate her. Ich hätte nicht gedacht, dass es mir hier passiert. Mitten im nirgendwo, in dieser Einöde. Hinter der einzigen Tankstelle weit und breit.
»Hey, Puppe«, grölt plötzlich eine tiefe Stimme neben mir. Ich schrecke zusammen, drehe mich zur Seite und sehe den Tankwart, der sich an eine Betonwand lehnt.
Hey, Arschloch, begrüße ich ihn in Gedanken und verdrehe die Augen. Danach wende ich mich dem Raben zu, der wieder zu flattern begonnen hat. Durch die trockene Luft, begleitet von der stechenden Mittagshitze. Die Zeiger drehen sich weiter.
»Verirrt ans Ende der Welt, was?«, fragt der übel riechende Verkäufer und kratzt sich seinen Bierbauch, der nur mühevoll von seinem Unterhemd verdeckt wird.
Ich ignoriere seine Frage, gebe ihm aber still und heimlich recht. Diese Tankstelle befindet sich wirklich am Ende der Welt. Aber anscheinend ist das noch nicht weit genug, wenn man vor sexistischen Kommentaren fliehen will.
Es ist knapp eine halbe Stunde her, seit wir von der Fernstraße abgebogen sind. Mittlerweile begegnen wir kaum jemandem. Und das im Zentrum von Europa. Kaum Autos, kaum Menschen, kaum Tiere. Nur eine Ansammlung heruntergekommener Bauernhöfe, denen man die Armut schon von Weitem ansieht.
Den Grund dafür hat mir mein bester Freund Jannis erzählt. Nachdem in den 70er-Jahren ein nahe gelegenes Chemiewerk explodiert ist, wurde die ganze Gegend für längere Zeit zur Sperrzone erklärt. Dutzende Mitarbeiter sollen bei der Explosion ihr Leben verloren haben. Der Boden war über Jahre hinweg verseucht. Dass sich danach niemand darum riss, dort seine Kinder aufzuziehen, kann ich verstehen. Ich frage mich nur, ob es Absicht war, dass Ancora ausgerechnet hier in der Nähe gegründet wurde. Ging es ihnen darum, billiges Land zu kaufen? Oder gab es einen anderen Grund?
»Für eine Frau bist du ganz schön still«, brummt der ekelhafte Typ und reißt mich erneut aus meinen Gedanken.
Ich zucke mit den Schultern. »Puppen reden nicht«, sage ich, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Teilnahmslos kehre ich ihm den Rücken zu und umkreise die Tankstelle.
In den Fingerspitzen immer noch ein leichtes Kribbeln.
Als ich mich unserem Auto nähere, tritt Aurel hinter der geöffneten Motorhaube hervor und strahlt mich an. Sein T-Shirt ist ölverschmiert, auf seinen Wangen glitzern Schweißperlen. In der Hand hält er einen Schraubenschlüssel.
»Und? Konntest du dir ein wenig die Beine vertreten?«, fragt er.
»Gib’s doch zu«, sage ich grinsend. »Du willst nur wissen, ob ich es genieße, rein gar nichts zu tun, während du hier schuftest.« Mein Freund setzt zu einer Antwort an, aber ich unterbreche ihn. »Könnte mich dran gewöhnen«, sage ich und tupfe ihm mit einem Stofffetzen über die Wangen, wobei ich das Öl nur noch mehr verschmiere.
»Der Wagen läuft wieder«, verkündet er stolz und schließt die Motorhaube. Dann nimmt er mir den Lappen ab und wischt sich damit die Hände sauber.
»Jannis wird dir die Füße küssen«, behaupte ich. Insgeheim habe ich nie daran gezweifelt, dass Aurel das hinbekommt. Seine technische Begabung habe ich schon bewundert, bevor ich mit ihm zusammengekommen bin.
Wenn man Aurel mit einem Haufen Schrott alleine lässt, hat man am nächsten Tag eine Mona Lisa mit Roboterarmen im Garten stehen. Technik hat ihn schon immer interessiert. Während andere Kinder im Park mit den Rutschen gespielt haben, stand er mit seinem Werkzeugkasten darunter und zerlegte sie in ihre Einzelteile. Viele weinende Kinder später, war er einen Haufen Blechteile reicher.
»Wir sollten weiterfahren«, sage ich und schaue zum Dach der Tankstelle, wo sich der Rabe niedergelassen hat. »Ich will keine Sekunde länger an diesem Ort bleiben, als unbedingt nötig.«
»Du suchst doch das Abenteuer«, sagt Aurel lächelnd. Als er jedoch merkt, dass ich weiterhin wie gebannt auf den Vogel starre, wird auch er ernst. Vorsichtig kommt er näher – streicht mir über den Arm, als wäre ich zerbrechlich. »Hey, Romy«, flüstert er. »Wir können immer noch umkehren. Woanders hinfahren. Ans Meer vielleicht?«
»Nein«, sage ich und drehe mich zu ihm. »So meine ich das nicht.«
»Aber ich meine es so. Vielleicht war die ganze Idee –«
»Aurel, bitte«, würge ich ihn ab und lege meinen rechten Zeigefinger auf seine Lippen. »Wir hatten das Thema schon oft genug. Ich will das hier. Ich will das hier wirklich. Und du wolltest mir doch beweisen, dass du Spaß haben kannst, ohne alles durchzuplanen.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln, sage: »Mach dich locker«, und schiebe mit meinen Fingern seine Mundwinkel hoch. Aurel fängt an zu grinsen.
»Lass das«, fordert er mich amüsiert auf und drückt meine Hand weg. »Du bist ja schlimmer als meine Mutter.«
Dann ist es kurz still.
Unser Blickkontakt fühlt sich elektrisierend an, ich spüre seinen Atem. Mein Freund hebt eine Augenbraue.
»Was?«, frage ich herausfordernd.
»Krieg ich einen Kuss?«, will er wissen.
Aber noch bevor ich mich zu ihm nach vorne beugen kann, ertönt eine tiefe Stimme hinter mir: »Das Einzige, was du kriegst, ist die Rechnung«, grunzt der Tankwart.
Großartig! Der schon wieder.
Wobei ich ehrlich gesagt überrascht bin, dass es in dieser Einöde sogar Rechnungen gibt und man nicht mit Tierfellen, Goldmünzen oder Stierhoden handeln muss.
»Eine Rechnung?«, erkundigt sich Aurel. »Wir haben doch nichts gekauft.«
»Ihr nicht«, sagt der Typ und zeigt auf die Glastür seines Geschäfts, die im nächsten Moment aufschwingt. »Aber euer Freund da!«
Jannis.
Mit drei Wasserflaschen im Arm torkelt er uns entgegen, auf dem Gesicht ein breites Grinsen. Als er bei uns ankommt, klopft er gegen das Autodach. »Na, wer sagt’s denn! Alles wieder repariert?«
Aurel nickt angespannt, während er dem Tankwart dabei zusieht, wie er im Gebäude verschwindet und zur Kasse trottet.
»Hier!«, sagt Jannis und drückt jedem von uns eine Wasserflasche in die Hand. Drei verschiedene Marken.
Fragend kneife ich die Augen zusammen. »Bitte sag mir, dass du keine Angst hattest, irgendjemanden zu diskriminieren, wenn du drei Flaschen von der gleichen Marke genommen hättest.«
Mein bester Freund lacht auf. »Hey, Diskriminierung gibt es nicht nur bei Menschen. Die gibt es auch bei … bei …«
»Bei Wasserflaschen?«, hake ich nach.
»Bingo! Bei Wasserflaschen«, erwidert Jannis, öffnet den Verschluss und trinkt mehrere Schlucke. Dann wischt er sich mit dem Ärmel über den Mund. »Zugegeben, in meiner Vorstellung klang das irgendwie heldenhafter.«
»Hast du sie bezahlt?«, fragt Aurel.
»Gut, dass du das erwähnst. Ich wollte euch eben fragen, ob ihr Kleingeld habt.«
Aurel kratzt sich ungläubig am Kopf. »Hast … hast nicht du gesagt, dass wir kein Bargeld mitnehmen sollen?«
Wieder herrscht kurz Stille.
Jannis hebt den Zeigefinger, öffnet den Mund – schließt ihn wieder. »Ah!«, stößt er nach einiger Zeit aus. »Ich wusste, da war was!«
»Oh mein Gott«, ächze ich und lasse meinen Kopf in den Nacken fallen. Als ich wieder zu Jannis schaue, bemerke ich seinen gewieften Gesichtsausdruck, den er sonst nur aufsetzt, wenn er etwas Dummes im Sinn hat. Also fast immer.
Ich will ihn noch aufhalten, da wirft mir Jannis schon seine halb leer getrunkene Wasserflasche zu, die ich nur um Haaresbreite fange. Eilig rennt er zum Auto, lässt einen Freudenschrei los und ruft: »Los, rein da!«
»Verdammt!«, flucht Aurel und quetscht sich auf den Beifahrersitz. Und bevor mein Kopf reagieren kann, tragen mich meine Beine zur hinteren Autotür. Als Jannis die Tankstelle mit quietschenden Reifen verlässt, stürmt der Tankwart aus seinem Laden. Er brüllt uns zornig nach.
»Das ist Freiheit!«, johlt Jannis und blickt begeistert zwischen Aurel und mir hin und her.
»Oder Diebstahl«, erwidert Aurel. »Aber ich verstehe, warum dir das Wort Freiheit lieber ist.«
Und ehe wirs uns versehen, sind wir wieder auf der Landstraße.
Dem Horizont entgegen, Richtung Ancora.
Aurel streckt nach ein paar Minuten seine Hand nach hinten und ich ergreife sie. Sein Puls ist hoch. Ich weiß, dass ihm diese Aktion zu spontan war. Mein Freund will immer auf alles vorbereitet sein. Erst dann kann er sich auf die verrückten Dinge einlassen, die das Leben für uns bereithält. Aber wegen seiner ruhigen, gelassenen Art schätze ich ihn auch. Sein Streben nach Logik, wenn ich...
Erscheint lt. Verlag | 24.2.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Abenteuer • Aussteiger • Bücher für Jungs • Coming of Age • Jugendbuch Thriller • LGBTQ Bücher • Manipulation • Mystery • Mystery Thriller • Poetry • riverdale • Selbstfindung • Selbstversorger • Stranger Things • toxische Beziehung • Übernatürliches |
ISBN-10 | 3-522-62191-3 / 3522621913 |
ISBN-13 | 978-3-522-62191-5 / 9783522621915 |
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