Manchmal muss man Pferde stehlen -  Antonia Michaelis

Manchmal muss man Pferde stehlen (eBook)

Abenteuerliche Freundschaftsgeschichte für Kinder ab 10 Jahren
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2022 | 1. Auflage
224 Seiten
Verlag Friedrich Oetinger
978-3-96052-238-6 (ISBN)
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Die schüchterne Anna und der draufgängerische Tariq könnten verschiedener nicht sein. Doch an der Pferdeweide, auf der Apfelmütze und Wackelpo grasen, freunden sie sich langsam an. Anna soll reiten lernen, um weniger ängstlich zu sein. Tariq braucht ein Pferd, um seinen großen Bruder zu suchen. Denn der lebt, seit die beiden aus ihrem Heimatland allein nach Deutschland gekommen sind, irgendwo in einer anderen Stadt in einem Heim. Anna beschließt, mutig zu sein und ihn zu begleiten. Auf dem Rücken von Wackelpo und Apfelmütze beginnt ein wunderbares, heimliches Abenteuer ...

Antonia Michaelis studierte Medizin in Greifswald. Sie engagiert sich für Kinder in Madagaskar und hat zahlreiche Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene veröffentlicht.

Antonia Michaelis studierte Medizin in Greifswald. Sie engagiert sich für Kinder in Madagaskar und hat zahlreiche Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene veröffentlicht.

1. Kapitel, in dem ein Papierpferd flieht und Pfannkuchen mit Tomatensoße und Schokolade vorkommen


Anna sah das Pferd zuerst.

Sie sah, wie es entstand.

Am Anfang war nur sein Kopf da: zurückgeworfen, ein wenig wild, ein wenig eigensinnig. Nervös spielende Ohren. Leicht geblähte Nüstern. Dann kam der Hals, elegant geschwungen. Dann die Mähne, flatternd im Wind.

Das Pferd galoppierte. Es galoppierte über das Papier eines linierten Schulhefts. Sein Schweif fegte über die krakelige Überschrift »Das Leben der Heuschrecke«, es versuchte eindeutig, den Heftrand zu erreichen. Zu entkommen.

Vielleicht, dachte Anna, wäre es gern durch das Fenster hinaus galoppiert in den warmen Sommertag. Über die Wiesen vor dem Schulhaus, den kleinen Pfad an der Steilküste entlang, über dem Meer. Und schließlich zum Wald.

»Malst’n da?«, fragte Stefan, und Anna zuckte zusammen.

Die Frage war nicht an sie gerichtet. Zum Glück, denn sie hasste es, wenn jemand sie etwas fragte.

Es war Tariq, der das Pferd in sein Heft gemalt hatte. Tariq, der vor ihr saß.

»Nee, echt jetzt, ’n Gaul, oder was?«, fragte Stefan und lachte.

Tariq drehte den Kopf und sah Stefan an.

Anna sah, wie er die Augen zusammenkniff. Er hatte dunkle Augen mit einem wilden Ausdruck wie die des Pferdes. Und stets verstrubbeltes schwarzes Haar und einen Riss im Hemd, an der Schulter.

»Das ist Pferd«, erklärte Tariq leise und bestimmt.

»Gaul, Pferd, alles eins«, sagte Stefan. »Seit wann kritzelst du so was in dein Heft? Bist du ’n Mädchen?«

Jannis hörte auf, »Das Leben der Heuschrecke« von der Tafel abzuschreiben, und guckte ebenfalls rüber.

»Süß«, sagte er. »Kann ich’s rosa ausmalen?«

»Lass mich Ruhe«, sagte Tariq. »Das ist mein Pferd. Ist echt.«

Stefan und Jannis sahen sich an und prusteten los.

Aber Anna verstand, was Tariq meinte. Das Pferd war echt. Es sah aus, als könne es aus dem Heft springen.

»Ist von da, wo ich wohne«, sagte Tariq.

Jetzt hatte sich auch Simone umgedreht. »Das Pferd ist aus dem Kinderheim?«, fragte sie.

Tariq schnaubte. »Pferd ist von Afghanistan.«

Anna sah, dass er die Fäuste geballt hatte, und machte sich klein. Sie wusste, was jetzt passieren würde. Tariq war erst seit zwei Monaten in der Klasse, aber sie wusste es, und die anderen hätten es auch wissen müssen.

»Afghanistan ist viel mehr besser wie hier«, sagte Tariq.

»Warum?«, fragte Jannis.

»Weil«, sagte Tariq.

»Dann setz dich doch auf dein Pferd und reite dahin zurück«, sagte Stefan. »Aber warte, da brauchst du noch ein schickes Reitkostüm. Und wir könnten dir Schleifchen ins Haar binden!«

Er griff nach einer Strähne von Tariqs schwarzem Haar.

Und da schlug Tariq zu.

Es war so klar gewesen, warum hatte Stefan nicht den Mund gehalten?

Jetzt blutete er aus der Nase, und mit einer komischen Verzögerung schrie er los. Tariq sprang auf und schlug direkt noch mal zu, diesmal sauste seine Faust in Jannis’ Gesicht, und dann stand er oben auf dem Tisch, sprang von da aus zum nächsten Tisch, alle schrien durcheinander, und Frau Winterblum, die sich bis jetzt mit dem Leben der Heuschrecke beschäftigt hatte, schrie auch.

»Stooopp! Hiergeblieben!«

Aber niemand blieb irgendwo. Tariq sprang über Tische, die anderen rannten ebenfalls los, und Anna wurde in dem Chaos irgendwie mitgerissen. Sie erreichte die Tür gleichzeitig mit Tariq.

Er sah sie einen Moment lang an. In seinen dunklen Augen loderte ein Feuer, das ihr Angst machte.

»Tariq, bleib stehen!«, schrie Frau Winterblum noch einmal.

Da schubste Tariq Anna zu Boden, die ihm im Weg stand, und hechtete hinaus in den Flur.

Die anderen, die ihm folgten, stolperten über Anna, sie waren wie eine Herde von Stieren, und sie drückte sich gegen den Türrahmen und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie in Frau Winterblums besorgtes Gesicht.

»Himmel, Anna«, sagte Frau Winterblum und zog sie auf die Beine. »Hat er dich gegen den Türrahmen geschubst?« Sie holte ein Stofftaschentuch heraus und tupfte an Annas Schulter herum. An dem Taschentuch war Blut. Aber nur ein bisschen. »Tut es sehr weh?«, fragte Frau Winterblum.

Anna wollte den Kopf schütteln, aber er ließ sich nicht schütteln, sie stand einfach nur da und sah auf ihre Turnschuhe.

Die Turnschuhe waren gelb mit kleinen weißen Blumen, Anna kannte die Blumen sehr genau, denn sie sah diese Schuhe immer an, wenn Frau Winterblum mit ihr sprach. Wenn irgendwer mit ihr sprach. Sie konnte nicht in die Gesichter von Leuten sehen. Es ging nicht.

»Was war denn?«, fragte Frau Winterblum. »Warum ist Tariq schon wieder ausgetickt? Du sitzt doch hinter ihm, du weißt es, oder?«

Und Anna wollte nicken, aber ihr Kopf nickte nicht. Eins der weißen Blümchen auf den Schuhen war ganz leicht grünlich. Das war interessant.

»Na gut«, sagte Frau Winterblum. »Kinder?«, rief sie in den Flur. »Kommt alle wieder in die Klasse. Ich sage Herrn Müller Bescheid, damit er Tariq sucht.« Sie seufzte. »So geht es nicht weiter. Stefan? Jannis? Ab zum Direktor, lasst euch verpflastern. Wir reden später.«

Als Anna wieder auf ihrem Platz saß, war sie froh, dass Frau Winterblum sie nicht mitgeschickt hatte zum Verpflastern. Sie hasste das Zimmer des Direktors.

Sie sah aus dem Fenster. Draußen lief Herr Müller über den Hof, der Hausmeister, auf der Suche nach Tariq. Zum dritten Mal in dieser Woche. Sie hätte ihm sagen können, wo Tariq war, er saß in der Esche, hinten an der Mauer. Man sah ihn zwischen den Blättern nur, wenn man genau hinguckte, und er saß da im Wind, als säße er auf einem Pferd, das durch die Luft galoppierte. Ja, Anna hätte es den Erwachsenen sagen können – aber dann auch wieder nicht. Denn sie sprach nicht mit Leuten. Es ging nicht.

Nach der Schule, als die anderen alle nach Hause gegangen waren, stand Anna noch einen Moment vorm Schultor. Eine kleine graue Katze kam vorbei, und Anna bückte sich und streichelte sie.

»Frau Winterblum weiß genau, dass ich nichts sage, und trotzdem fragt sie mich immer Sachen«, sagte Anna zu der Katze. »Sie tut so, als könnte ich antworten.«

»Mau«, sagte die Katze und drückte sich gegen Annas Beine.

»Frau Winterblum tut ständig so, als ob«, sagte Anna. »Sie tut auch so, als ob Tariq ein ganz normaler Schüler ist. Ich glaube, sie braucht einen Psychologen.«

»Mii?«, fragte die Katze.

»Psy-cho-loge«, sagte Anna. »Ich war auch bei einem. Er hatte ein schönes buntes Zimmer mit Büchern, und er hat immer Brettspiele gespielt. Ich glaube, er wollte, dass ich mitspiele. Und dass ich was sage. Hab ich aber nicht. Was hätte ich sagen sollen?« Sie nahm die Katze auf den Arm und drückte sie kurz an ihre Wange. »Komisch«, flüsterte sie. »Bei dir weiß ich genau, was ich sagen soll.«

 

»Anna«, sagte Papa, der zu Hause in der Tür stand. »Deine Lehrerin hat angerufen.«

Anna seufzte. Sie sah die Sorge in Papas Augen.

»Sie hat gesagt, es gab Ärger mit einem Jungen aus deiner Klasse, und du … wurdest verletzt? An der Schulter?«

»Unsinn«, sagte Anna und lachte, damit die Sorge aus seinen Augen verschwand. »Sie regt sich immer gleich so auf. Es ist bloß ein Kratzer, hier, schau.«

Papa atmete langsam aus. »Dann ist ja gut. Es gibt Pfannkuchen.«

»Mit Käse und Tomatensoße und Schokocreme?«, fragte Anna.

Und Papa nickte, denn sie aßen Pfannkuchen immer so. Anna hatte das entschieden. Vor Jahren.

Der Tisch stand am offenen Küchenfenster. Draußen im Garten lärmten die Vögel in den Birnbäumen, die Blumen schäumten wie Wellen aus Farbe, und überall war Sommer. Aus der Werkstatt drüben kam Gehämmere. Musik schwebte über Papas Bienenstöcke heran, Papas Mitarbeiter Theo hämmerte lieber mit Radio.

Papa und Theo machten Möbel. Einmal im Jahr fuhren sie irgendwohin und pflanzten alle Bäume wieder an, die sie verbaut hatten, und früher hatte Anna gedacht, sie müssten dann die Möbel auseinandernehmen und die Bäume wieder zusammensetzen, aber natürlich pflanzten sie neue. Papa mochte Bäume. Mitten im Wohnzimmer wuchs einer. Durch die Decke. Es war ein bisschen ungewöhnlich.

»Weißt du was«, sagte Papa jetzt und wischte sich seinen Schokoladen-Tomatensoßen-Bart ab. »Es hat noch jemand angerufen. Der Reiterhof. Wir standen ewig auf dieser Warteliste, weißt du ja, aber jetzt haben wir einen Platz.« Er strahlte. »Wir dürfen hinfahren und uns alles ansehen. Heute.«

Anna schluckte den letzten Bissen ihres Pfannkuchens herunter. Auf einmal schmeckte er komisch.

»Müssen wir?«, fragte sie leise. »Ich meine, der Psychologe war auch ein Reinfall. Hast du selber gesagt.«

»Das hier ist etwas ganz anderes«, sagte Papa. »Reittherapie ist … sie sagen, es wirkt Wunder. Denk an diesen Jungen, der dich geschubst hat. Wenn du etwas sagen könntest … wenn du dich wehren könntest, dann wäre doch alles besser.«

Sie sah auf, sah ihm in die Augen. Sie waren grün und freundlich. Annas Augen waren braun. So, wie die von Mama gewesen waren.

»Glaubst du im Ernst, weil ich reiten lerne, kann ich auf einmal mit Leuten reden?«, fragte sie.

Papa zuckte die Schultern. Er sah so traurig aus. Da ging sie um den Tisch und umarmte ihn.

»Okay«, flüsterte sie. »Ich versuch’s.«

 

Tariq saß auf dem Dach des Kinderheims und sah hinunter.

Niemand wusste, dass er dort oben war.

Er war seinen geheimen Weg von der Schule hierhergekommen, über Dächer und durch Mauerlücken, er war gut darin, geheime Wege zu...

Erscheint lt. Verlag 4.3.2022
Illustrationen Simona M. Ceccarelli
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Kinderbücher bis 11 Jahre
Schlagworte ab 10 • Abhauen • Afghanistan • Ausreißen • Dorf • Flüchtling • Flüchtlinge • Freundschaft • Geflüchete • Geschwister • Kaltblüter • Kinderbuch • Mut • Natur • Pferde • realistisches Kinderbuch • Roadtrip • Spannung
ISBN-10 3-96052-238-X / 396052238X
ISBN-13 978-3-96052-238-6 / 9783960522386
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