Y-Game - Sie stecken alle mit drin (eBook)
256 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-44046-2 (ISBN)
Christian Linker, geboren 1975, studierte in Bonn Theologie und machte Jugendpolitik, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Romane, die sich schon immer mit brisanten Themen auseinandergesetzt haben, wurden vielfach ausgezeichnet.
Christian Linker, geboren 1975, studierte in Bonn Theologie und machte Jugendpolitik, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Romane, die sich schon immer mit brisanten Themen auseinandergesetzt haben, wurden vielfach ausgezeichnet.
1
Seit Mert mit dem Rauchen angefangen hat, haben wir sozusagen ein Ticket für das Loch. Den Nicht-Ort der Älteren. Darum halte ich da jetzt manchmal morgens auf dem Schulweg an. Das Loch liegt am Ende der Unterführung, durch die man eine zweispurige Straße unterqueren könnte. Das tut aber eigentlich niemand mehr, seit sie oben Zebrastreifen auf die Straße gemalt haben – außer denen, die ein bisschen im Loch abhängen wollen. Das Loch war wohl früher mal ein schattiges Plätzchen zum Verweilen, mit einer Bank und einem kleinen Springbrunnen und Blumenbeeten. Aber der Brunnen ist natürlich trocken und die Beete sind von Büschen überwuchert und überall liegen Kippen und Glasscherben und zerknickte Bierdosen. Und auf den Treppenstufen, die hoch zur Straße führen, sitzen nachmittags die Penner und abends die Studenten und morgens vor acht immer ein paar Leute aus meiner Schule, die gleich um die Ecke liegt.
Jetzt gehören wir dazu.
Es ist dreckig, irgendwie verrucht, fast verwegen.
Hier kann man vor der Schule noch mal für fünf Minuten einfach man selbst sein.
Als ich an diesem trüben Novembermorgen auf meinem Bike durch die Unterführung cruise, immer schön den getrockneten Kotzeresten vom letzten Wochenende ausweichend, stehen Vinzent, Mert und Min-su in einer Ecke des Lochs. Sie sind halb ins Gebüsch gedrängt, als gäbe es was zu verbergen, und sehen sich was auf Min-sus Handy an. Mert fügt sich perfekt in diese Landschaft ein, so mit Kippe im Mundwinkel und der Goldkette um den Hals, an der ein kleines Vorhängeschloss baumelt. Vinzent hat seine überlange Gestalt vorgebeugt und mag wohl nicht, was er gerade sieht. Er mahlt mit den Zähnen und die Adern an seinem Hals treten hervor. Min-su, wie immer im hellblauen Hemd und dunkelblauen Pullunder, wirkt eher deplatziert in der Kulisse, aber so was hat ihn noch nie gestört. Er guckt hochkonzentriert und scheint den anderen beiden etwas zu erklären.
»… nennt man Alternate Reality Game«, höre ich ihn gerade sagen, als ich die drei erreiche und vom Rad steige. Sie bemerken mich gar nicht. »Könnte noch spannend werden. Er scheint sich ja auf unsere Stadt zu beziehen. Vielleicht ist es jemand, den wir kennen? Und er ist nicht nur auf 4chan, auch auf 8kun, smug …«
»Was seht ihr euch an?«, frage ich.
Die drei zucken zusammen. Mert lässt das Handy sinken.
»Nichts«, sagt er.
Wie lächerlich, als wär ich ein Lehrer und hätte sie bei irgendwas erwischt.
»Nichts Besonderes«, ergänzt Min-su. »Imageboards. Nur Bullshit.«
»Ich weiß«, sage ich. »Also dass die Boards nur aus Bullshit bestehen. Ihr könnt mich ja trotzdem mitgucken lassen.«
»Na ja«, meint Mert, hebt aber das Handy wieder und wischt den Sperrbildschirm weg. Ich lehne mein Rad an den Mülleimer und quetsche mich hinter die drei, um über Merts Schulter zu schauen. Sein Zigarettenrauch weht mir ins Gesicht. Er scrollt durch das /b/-Board von 4chan, das erkenne ich gleich. Schwanzbilder, Hitler-Bilder, Trump-Bilder. Pepe der Frosch als Trump, als Hitler, als Schwanz.
How would u rape this girl?, schreibt einer neben das Fotos eines rothaarigen Mädchens. Tell me every last detail.
»Was für eine arme Sau muss man eigentlich sein, um so einen Shit zu posten?«, frage ich. Keiner antwortet.
Mert scrollt weiter, hält inne. Ein kurzer Clip zeigt einen schwarzen Mann an einem Galgenstrick, von einem Stahlträger unter einer Brücke hängend, strampelnd, Todesangst in den aufgerissenen Augen, die Beine treten ins Nichts. In den Kommentaren Bilder von Männern mit weißen Zipfelmützen, brennenden Kreuzen, noch mehr Galgenstricken.
C’mon, Anons, post more gore like that! etc.
»Shit …«, flüstert Vinzent.
Es wirkt seltsam unecht – so unecht, wie vermutlich nur echte Bilder wirken, weil echter Mord und echte Folter so ganz anders aussehen als die inszenierten. Ich warte, dass sich das Entsetzen in meiner Magengrube ausbreitet, aber es kommt nicht. Am Ende bestehen diese Bilder auch nur aus Nullen und Einsen.
»Glaubt ihr, dass das echt ist?«, fragt Min-su. »Es kann genauso gut fake sein.«
»Ja, man weiß es eben nicht«, meint Mert, »das ist ja genau das Krasse daran.«
Er scrollt weiter.
»Habt ihr für Englisch schon den Text geschrieben?«, frage ich. »Your opinion about racism?«
Keiner antwortet, sie glotzen auf das Handy. War vielleicht auch unpassend von mir.
Ich kann mit diesem ganzen Rassistenscheiß nichts anfangen, all der Hass und die ganze Hetze. Ich kapiere nicht, wie man sich selbst für besser als andere halten kann aufgrund der Hautfarbe oder so. Das spricht vermutlich für mich. Gegen mich spricht, dass ich mit all dem engagierten Black-Lives-Matter-Gerede auch nicht viel anfangen kann. Ich will eigentlich bloß, dass jeder jeden in Ruhe lässt.
Vor allem mich.
Mert scrollt schneller.
Die suchen was, wird mir unvermittelt klar.
Wie zur Bestätigung sagt Min-su: »Ich glaub, da kommt nichts mehr von Why.«
»Was ist Why?«, frage ich.
»Hm?« Min-su dreht sich zu mir um und sieht mich an, als hätte er meine Anwesenheit zwischenzeitlich komplett vergessen.
Dann zuckt er mit den Schultern.
»Nur Board-Bullshit«, meint er. »Nicht der Rede wert.«
»Okay«, sage ich, löse mich von ihnen und nehme wieder mein Bike. »Wir sehen uns.«
Ich steige auf, schalte in den untersten Gang und cruise die gewundene Fahrradrampe hinauf, raus aus dem Loch und wieder rein in den Novembernieselregen, der seit Tagen so gleichmäßig über uns niedergeht, dass ich ihn schon fast nicht mehr bemerke.
Es ist mir bisher nie so deutlich aufgefallen wie in diesem Augenblick: Verdammt, ich gehöre gar nicht dazu! Wann fing das an? Kam das schleichend? War das schon immer so? Ich bin Luft für die drei.
Nach dem nächsten Häuserblock taucht die Schule auf. Grauer Betonklotz vor grauem Regen, man könnte ihn leicht übersehen. Auch Chiara könnte man leicht übersehen, die vor dem Schultor steht und unbestimmt in den Nieselschleier blickt. Sie macht ein Gesicht, als hätte sie heute Morgen schon gekotzt. Das heißt, sie macht ein Gesicht wie immer. Das strähnige Haar, die aufeinandergepressten Lippen. Der alte graue Regenmantel, den sie nicht nur im Herbst trägt, sondern eigentlich immer, solange es unter dreißig Grad bleibt. Der Mantel hat zwei Knopfreihen und wirkt dadurch ein bisschen wie eine alte Admiralsuniform. Sie steht da und schaut vor sich hin. Keine Ahnung, warum sie nicht reingeht. Vielleicht wartet sie, dass ihr irgendein schlüssiger Grund dafür einfällt. Sie bückt sich kurz, als müsse sie etwas vom Boden aufheben, das ihr runtergefallen ist. Dann richtet sie sich wieder auf und verschwindet durch den Haupteingang.
Ich steige vom Bike, schiebe es zu den Fahrradständern und schließe es mit der Kette an.
Es geht Chiara nicht gut damit, eine Außenseiterin zu sein. Sie leidet darunter, glaube ich. Aber nicht wie jemand, der unbedingt gern dazugehören würde. Eher wie jemand, der ganz einfach keinen Bock hat, überhaupt in solche Schubladen gesteckt zu werden.
Oder auch ganz anders, keine Ahnung. Ich kenne sie ja kaum, und vor allem sind das eher so meine eigenen Gedanken. Ich meine, wer zur Hölle definiert denn, was ein Außenseiter ist? Wann hat bitte jemals eine Behörde oder ein Gott oder ein perverser Architekt festgelegt, dass es ein Drinnen und ein Draußen gibt, und dass es erstrebenswert sei, drinnen zu sein statt draußen, und dass es eben welche schaffen, drinnen zu sein, und andere nicht? Genauso gut könnte ich umgekehrt definieren, dass ich drinnen bin und sie alle draußen sind: Matt, der Mädchenschwarm, und Nessi, die Schönheitskönigin. Lea, die Trampolinturnstadtmeisterin, und Achmed, der Schulsprecher. Die Muskel-Ottos und die Intellektuellen, die Künstlerinnen und die Mathegenies, die Musiker und die Technikfreaks, die Rich Kids und die Normalos. Alle draußen. Die Gamer. Vinzent und Min-Su und Mert, die jetzt auch langsam eintrudeln. Wir treffen uns an den Spinden.
Ich würde gern fragen, ob sie gefunden haben, was sie suchen, aber ich würde keine Antwort kriegen. Ich sollte sie einfach ignorieren, aber das kann ich irgendwie auch nicht.
Also frage ich: »Habt ihr Bock, heute Nachmittag noch mal was zu zocken? Ich würd dann on kommen.«
»Mal sehen«, sagt Vinzent.
»Ja, guck einfach mal«, meint Min-su.
Toll.
Ich schultere meine Tasche, schlurfe zum Raum meines Deutschkurses und lasse mich auf meinen Platz ganz am Rand plumpsen.
Unter dem Tisch öffne ich auf dem Handy das /b/-Board von 4chan. Wahrscheinlich ist es wirklich nur Bullshit, trotzdem reizt es mich herauszufinden, wonach die drei gesucht haben. Why. Die Boards sind kurzlebige Blitzlichter, ständig aktualisiert, ständige neuer Stuff. Vielleicht entdecke ich was, das vor zehn Minuten noch nicht da gewesen ist.
Und fast hätte ich es übersehen:
>Y011
Wer wird das Gleichgewicht zurückbringen?
Für J.C.
Nur das. Kein Bild, kein Gif, kein Clip, nichts.
Y gleich Why?
Könnte sein.
Wer bringt das Gleichgewicht zurück.
Gute Frage. Ich sicher nicht. Und wer ist J.C.? Jesus Christus? Julius Cäsar? Hatten ja beide keinen schönen Tod. Wurden beide ganz schön mies verraten von Leuten, die sie für Freunde hielten.
Da ist...
Erscheint lt. Verlag | 12.1.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | action • Antisemitismus • Countdown • Erebos • Gaming • gefährliches Spiel • Jugendbuch ab 14 • Jugendthriller ab 14 • kulturpass • Nerve • Online Game • Onlinespiel • Politischer Thriller • Schule • Social Media • Spannung • Teenager • thriller jugendliche • Verschwörungstheorien • Watcher or Player • Zwei Leben in einer Nacht |
ISBN-10 | 3-423-44046-5 / 3423440465 |
ISBN-13 | 978-3-423-44046-2 / 9783423440462 |
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