Als die Welt uns gehörte (eBook)
304 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0427-1 (ISBN)
Als Liz Kessler im Alter von neun Jahren ihr erstes Gedicht veröffentlichte, hatte sie sich nicht träumen lassen, dass sie einmal eine der erfolgreichsten Autorinnen der Welt werden würde. Ihre Kinderbücher über das Meermädchen ?Emily Windsnap? und die Feenfreundin ?Philippa? sind internationale Bestseller und haben sich weit über sechs Millionen Mal verkauft. Für ihren Roman ?Als die Welt uns gehörte? wurde sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2023 (Jugendjury) ausgezeichnet.
Als Liz Kessler im Alter von neun Jahren ihr erstes Gedicht veröffentlichte, hatte sie sich nicht träumen lassen, dass sie einmal eine der erfolgreichsten Autorinnen der Welt werden würde. Ihre Kinderbücher über das Meermädchen ›Emily Windsnap‹ und die Feenfreundin ›Philippa‹ sind internationale Bestseller und haben sich weit über sechs Millionen Mal verkauft. Für ihren Roman ›Als die Welt uns gehörte‹ wurde sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2023 (Jugendjury) ausgezeichnet. Eva Riekert ist nach längerer Verlagstätigkeit als freischaffende Übersetzerin und Lektorin, vor allem in den Bereichen Kinder- und Jugendliteratur und Junge Erwachsene, tätig. Sie lebt in der Nähe von Husum. Für ihre Übersetzung von »Als die Welt uns gehörte« von Liz Kessler wurde sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2023 (Jugendjury) ausgezeichnet.
LEO
Ich konnte die ganze Welt sehen! Oder zumindest ganz Wien, und das war meine Welt.
Meine zwei besten Freunde, Max und Elsa, standen neben mir und hatten die Gesichter wie ich an die Scheibe gedrückt.
»Schaut mal, wie winzig die Menschen sind!«, rief Max und deutete nach unten, während wir immer höher in den Himmel aufstiegen.
»Die Häuser sehen wie eine Spielzeugstadt aus!«, sagte Elsa.
Ich brachte kein Wort heraus. Ich hatte Angst, den Mund aufzumachen, denn dann könnte etwas von der Freude in meinem Inneren entschlüpfen, und ich wollte kein bisschen davon verlieren.
Es war mein neunter Geburtstag und der schönste Tag meines Lebens, der allerschönste.
Als mich meine Eltern letzte Woche gefragt hatten, was ich an meinem Geburtstag machen wolle, musste ich nicht lange überlegen. Ich wollte auf das Riesenrad im Prater, dem Vergnügungspark von Wien. Fast mein ganzes Leben hatten wir in Wien gelebt, und ich war noch nie auf dem Riesenrad gewesen. Jedes Mal, wenn ich den Wunsch äußerte, sagte Mama, ich sei noch zu klein und würde mich so hoch oben bestimmt fürchten. Aber ich hatte überhaupt keine Angst. Ich glaube, Mama selbst hatte etwas Angst vor der Riesenradfahrt, weshalb sie auch beschlossen hatte, nicht mitzukommen.
»Papa geht mit dir in den Prater«, sagte sie. »Ich bleibe zu Hause und mache dir ein wunderbares Geburtstagsessen. Was für einen Kuchen wünschst du dir?«
»Sachertorte!«, erwiderte ich, ohne zu zögern. Mama machte die beste Sachertorte in ganz Wien. Sie hatte ein Geheimrezept, das ihr Omama, meine Großmutter, weitergegeben hatte.
Auf dem Kalender in der Küche hakte ich jeden Tag ab. Die Woche kroch langsamer dahin als die Schnecken hinten in unserem Garten.
Doch jetzt war endlich mein Geburtstag da, und die Fahrt mit dem Riesenrad noch schöner, als ich mir sie vorgestellt hatte. Es war ein kalter Oktobertag, aber die Sonne strahlte, und wir konnten kilometerweit sehen.
Immer höher stieg der Waggon auf. Bald würden wir in den Wolken sein!
Max drückte die Stirn an das Fenster. »Ich komme mir vor wie der König von Wien.« Das Glas beschlug, als er das sagte.
Ich wusste, was er meinte. So hoch über der Stadt fühlte ich mich fast unbezwingbar. Wien lag uns zu Füßen. Eine ganze Stadt uns dreien allein. Alle anderen Menschen im Waggon waren in den Hintergrund gerückt. Sogar Papa. Er saß da und las mit besorgtem Gesicht die Zeitung. Und ließ sich das Schönste auf Erden entgehen!
Uns war das egal. Dass die Großen etwas verpassten, hieß nur, dass für uns mehr blieb. Unsere Stadt, dieser Waggon, unsere Freundschaft, das war alles, was wir brauchten.
So war es immer mit uns dreien. Schon seit dem ersten Tag in der Volksschule vor zwei Jahren waren wir dicke Freunde. Man hatte uns drei nebeneinandergesetzt, Elsa zwischen Max und mich, so wie jetzt. Ich sehe uns noch vor mir: Ich mit der so eng gezurrten Krawatte, dass ich kaum Luft bekam; Elsa mit Zöpfen und rosa Bändern und dem Federmäppchen mit bunten Perlen; Max in einer Hose, die etwas zu kurz, und dem Hemd, das etwas zu weit war.
Wir sahen uns an diesem ersten Schulmorgen an und grinsten, und es war, als wüssten wir auf der Stelle, dass uns nichts trennen könnte. Wenn die anderen Jungen an meiner Krawatte zogen, wenn sie darüber lachten, wie Max’ Knöchel unten aus seiner Hose ragten, wenn die Mädchen über Elsas bunte Bänder spöttelten – das machte uns alles nichts aus, denn wir hielten zusammen.
»Wenn du der König bist, bin ich die Königin«, sagte Elsa jetzt.
»Und ich?«, fragte ich. »Es ist schließlich mein Geburtstag.«
»Dann haben wir eben zwei Könige«, erwiderte Elsa. Das war so typisch für sie. Immer allen gegenüber gerecht.
»Wenn du die Königin bist, heißt das, dass du einen von uns heiraten musst«, sagte Max. »Also, für wen entscheidest du dich?« Er sah Elsa dabei herausfordernd an. Mit einem Blick, den ich in letzter Zeit mehrfach bei ihnen gesehen hatte. Ich tat immer so, als hätte ich nichts bemerkt. Als ob sie ein Geheimnis teilten. Ein Versprechen, das mich ausschloss. Ich redete mir ein, dass ich mir das nur einbildete. Sie würden mich nie ausschließen. Nichts würde uns drei jemals auseinanderbringen.
Elsa kicherte. »Niemals könnte ich mich entscheiden!«, sagte sie. »Ich heirate euch natürlich alle beide.«
Das beruhigte mich.
Max verschränkte die Arme, kniff die Augen zusammen und tat so, als würde er überlegen. »In Ordnung, ein prima Plan«, sagte er und nickte zustimmend.
»Hallo, Kinder.« Papa faltete seine Zeitung zusammen und hielt die Hand lauschend hinters Ohr. »Hört ihr das?«
Wir spitzten die Ohren. Außer dem leisen Geschnatter der anderen Leute im Waggon konnte ich nichts hören. »Was meinst du?«, fragte ich.
Papa lachte. »Nichts! Genau das meine ich. Das Geräusch, das man hört, wenn der Waggon anhält.«
Er hatte recht. Das Riesenrad hatte angehalten, und wir befanden uns jetzt einen Moment lang auf dem Dach der Welt. Einen Augenblick hoffte ich, dass es für immer so bleiben würde.
Doch dann fiel mir Mamas Sachertorte ein, die zu Hause auf uns wartete, und ich entschied, dass für immer wohl doch ein bisschen zu lang war.
Papa war aufgestanden und zog seinen Fotoapparat aus der Jackentasche. Er ging fast nie irgendwohin, ohne seinen Fotoapparat mitzunehmen. Papa war Wiens bester Familienfotograf. So stand es zumindest auf dem Schaufenster seines Ladens.
»Na los, lasst euch mal ablichten, solange ihr auf dem Dach der Welt seid, was meint ihr?«, sagte er.
Wir drei drängten uns vor dem Fenster zusammen.
Papa ließ den Fotoapparat sinken und schüttelte den Kopf. »Nicht da«, sagte er. »Die Sonne steht direkt hinter euch. Ihr werdet nur als schwarze Schatten zu sehen sein. Kommt hier rüber.« Er deutete zur Tür des Waggons gegenüber. »Stellt euch hier hin, damit ihr im hellen Licht des Himmels steht.«
Wir schlurften auf die andere Seite und drängten uns wieder zusammen.
Papa sah uns durch den Sucher des Fotoapparats an. »Perfekt«, sagte er. »Das Bild muss absolut stimmen. Und wisst ihr auch warum?«, fragte er.
»Weil ein Foto so viel sagt wie tausend Worte«, erwiderte ich mit einem angedeuteten Gähnen. Das sagte Papa nämlich bei jedem Foto, das er machte.
Er lachte. »Genau. Und glaubt mir, dieses hier sagt garantiert so viel wie tausend Worte – und zwar nur fröhliche!«, fuhr er fort. »Und denkt daran, egal, was ihr macht, nicht lachen.«
Max runzelte die Stirn. »Ich dachte, die Leute lachen immer auf Fotos.«
»Nicht auf meinen«, erwiderte Papa gespielt streng. »Ich lasse es nicht zu.«
Elsa musste unwillkürlich kichern.
»Nee, nee! Auch nicht kichern!«, mahnte Papa.
Elsa kicherte wieder. Ich merkte, wie sich mein Gesicht auch zu einem Lächeln verzog.
»Ich sagte, NICHT lächeln!«, wiederholte Papa. Inzwischen lachten alle in dem Waggon, nicht nur wir drei.
Klick, klick, klick, machte der Auslöser.
»Schön, phantastisch, wunderbar!«, rief Papa beim Fotografieren. Er redete mit uns genauso, wie ich ihn mit seinen Kunden reden hörte. Dann ließ er den Apparat sinken. »Ich suche das beste Foto heraus und schenke euch allen einen Abzug, damit ihr immer ein Andenken an diesen Tag habt. Wie klingt das?«
»Das klingt toll, Papa«, sagte ich. »Danke!«
»Gut. Aber«, sagte er und steckte den Fotoapparat wieder in die Jackentasche, »ich glaube, ich habe gesehen, wie zumindest einer von euch gelächelt hat. Und wisst ihr auch, wie ich Lächler bestrafe?«
Elsa schüttelte den Kopf. Max biss sich auf die Lippe. Ich wusste, was kommen würde, und rückte schon ab.
»Lächler werden mit Kitzeln bestraft!«, verkündete Papa.
Er streckte die Hände nach uns aus, und alle drei quietschten wir und versuchten uns vor seinen Fingern zu retten. Genau in dem Moment setzte sich das Riesenrad wieder in Bewegung, und der Waggon ruckelte. Ich kippte nach vorne und stolperte über den ausgestreckten Fuß einer Dame. Der Mann neben ihr fing mich gerade noch auf, ehe ich in seinem Schoß landete. In Sekundenschnelle stand Papa neben mir. »Entschuldigen Sie vielmals«, sagte er zu dem Paar. Dann sah er auf mich herab. »Leo, entschuldige dich bei der Dame.«
Ich räusperte mich und zog mein Hemd unter den Hosenträgern zurecht, das beim Fallen herausgerutscht war. »Es tut mir sehr leid«, sagte ich und sah die Dame an. Einen Moment lang sah sie mich so unverwandt an, dass ich schon glaubte, sie würde mich ausschimpfen. Dann drehte sie sich nach dem Mann um und sagte etwas in einer fremden Sprache zu ihm. Ich konnte ja nur Deutsch, daher verstand ich nicht, was sie sagte.
Er antwortete ihr in dieser anderen Sprache, und sie nickte und wandte sich wieder mir zu.
Heftig mit den Händen gestikulierend sagte sie, diesmal in gebrochenem Deutsch: »Ist okay. Nichts macht. Ganz gut.« Ich verstand nicht genau, was sie meinte, aber beim Sprechen lächelte sie so freundlich, dass ich beruhigt war. »Wir sind englisch«, fügte sie noch hinzu. »Nicht sprechen gut Deutsch.«
»Ihr Deutsch ist sehr gut«, sagte Papa. Dann drehte er sich nach mir um. »Und was sagst du zu dem Herrn, der dich aufgefangen hat?«, ermahnte er mich.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Und vielen Dank.«
Der Mann lachte mich aufmunternd an und winkte ab, als müsse ich mich nicht entschuldigen. Dann sagte die Dame zu Papa: »Ihr Sohn?«
»Ja, das ist mein Sohn«, antwortete Papa. »Er ist heute neun geworden.« Er deutete mit einer kreisenden Geste die...
Erscheint lt. Verlag | 25.5.2022 |
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Übersetzer | Eva Riekert |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Antisemitismus • Bestsellerautorin • Deportation • Der Junge im gestreiften Pyjama • Deutscher Jugendliteraturpreis (Jugendjury) • Drittes Reich • Emigration • England • Flüchtlingskind • Fotografie • Freundschaft • Historischer Jugendroman • Hoffnung • Holocaust • Judenverfolgung • jüdische Familie • Jugendliteratur • Kindertransport • Konzentrationslager • Migration • Plötzlich unsichtbar • Prater • Schicksale • Schullektüre • Tagebuch der Anne Frank • Tod |
ISBN-10 | 3-7336-0427-X / 373360427X |
ISBN-13 | 978-3-7336-0427-1 / 9783733604271 |
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