Und alles neu macht der Mai -  Klaus Kordon

Und alles neu macht der Mai (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
443 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-75603-9 (ISBN)
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Januar 1945 - Januar 1946: Deutschland liegt in Trümmern, die halbe Welt ist unterwegs, um die alte oder eine neue Heimat zu finden: Mit dem letzten Zug können Rena (16), ihre zwei Brüder, die kleine Jutsch und ihre Mutter aus dem »Wartheland« im von Deutschland besetzten Polen fliehen. Sie stranden in dem norddeutschen Dorf Kewenow. Die Arbeit auf dem Feld und in den Ställen ist hart, aber wenigstens fallen keine Bomben und es gibt Kartoffeln und Kirschen. Und Rena hat Glück: Sie begegnet dem Pastorensohn Klaas, eine Liebe, die ihr die Augen öffnet. Während sich die Älteren mit ihrer Schuld auseinandersetzen müssen, sehnt Rena sich nach einem neuen, ehrlichen Leben. Ein bewegender Roman eines großen Erzählers über Kinder, die sich von den Eltern nichts mehr sagen lassen und immer mutiger werden - je größer ihre Hoffnung ist, ihren Platz in der chaotischen Nachkriegszeit zu finden.

Klaus Kordon, geboren 1943 in Berlin, war Transport- und Lagerarbeiter, studierte Volkswirtschaft und unternahm als Exportkaufmann Reisen nach Afrika und Asien, insbesondere nach Indien. Heute lebt er als freischaffender Schriftsteller in Berlin. Kordon, der als »Chronist der deutschen Geschichte« gilt, veröffentlichte neben zahlreichen Kinderbüchern viele historische Romane, darunter den autobiographische Roman Krokodil im Nacken (Deutscher Jugendliteraturpreis; nominiert für den Deutschen Bücherpreis). Viele seiner Bücher wurden mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet. Für sein Gesamtwerk erhielt Kordon den Alex-Wedding-Preis der Akademie der Künste zu Berlin und Brandenburg, den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur und, 2016, den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises. 'Kordon versteht sich als ein Autor, der zuallererst eine Geschichte erzählen möchte. Diese Geschichte gestaltet er poetisch, spannend, aktuell. Sie soll dem Leser Spaß machen. Dies gelingt ihm vor allem wegen seiner feinen Beobachtungsgabe, verbunden mit einem ganz natürlichen Verhältnis zu den von ihm dargestellten, denkenden, fühlenden und handelnden Personen. Er lebt mit ihnen, spricht ihre Sprache, gräbt sie als Außenseiter, als Freunde, als Hilfsbedürftige oder als Helfer, als Leidende, die nicht ohne Hoffnung bleiben, in das Gedächtnis seiner Leser ein.' jugendbuch-magazin

Bin wieder aufgestanden, hab mich warm angezogen und mich in die kleine Kammer mit dem nur trübe funzelnden Deckenlicht gesetzt. Der alte, wacklige, schon ziemlich wurmzerfressene Holztisch soll mein Schreibtisch werden.

Muss früher mal die Räucherkammer gewesen sein, dieser enge, schmale Raum. Die Wände riechen noch danach. Aber wenigstens ist’s hier nicht ganz so kalt wie in dem Zimmer, in dem wir schlafen sollen. Die eine Wand grenzt direkt an Frau Griess’ Küche. Auch gibt’s hier kein Fenster, durch das der Wind pfeifen könnte. Nur eine Lüftungsklappe führt nach draußen, aber die hab ich mit Lumpen zugestopft. Kein Hauch Winterluft kann eindringen.

In unserem »Schlafzimmer« könnte ich nicht schreiben. Darin gibt’s ja nicht mal einen Tisch. Und von der Kälte würde ich klamme Finger bekommen. Ein Wunder, dass du, Jutsch, dir in diesem Eispalast noch nichts weggeholt hast. Wenn du im Schlaf hüstelst, schrecke ich jedes Mal auf, decke dich bis zum Hals zu und presse mich fest an dich, um dich zu wärmen. Kann dann natürlich selbst erst recht nicht mehr einschlafen.

Und das Ärgerlichste: Zwischen den beiden Betten, die wir fünf uns jetzt teilen müssen – du und ich das eine, Jockel, Kutti und Momm das andere –, steht ein kleiner Kanonenofen. Den zu heizen erlaubt uns die Griess aber nicht. In Kriegszeiten, sagt sie, wäre das nichts als Verschwendung. Wir könnten uns des Nachts ja zudecken, Decken habe sie mehr als genug.

Hab mir erlaubt zu fragen: »Und tagsüber?«

Sie: »Wer sich bewegt, friert nicht.«

Seit einer ganzen Woche sind wir nun schon hier. In Berlin hatten wir ja nicht bleiben dürfen. In dieses Kuhdorf Kewenow nicht weit von Hamburg hat man uns geschickt. Wieder saßen wir in der Eisenbahn, dann der lange Weg durch den Nebel und all die kahlen Felder und an den vielen, von nur noch wenigen Schneeresten bedeckten Wiesen entlang. Und wie wir danach bei der Griess vor dem Haus standen! Wilhelm Griess stand über dem bronzenen Löwenkopf mit dem Schlägel zum Klopfen an der alten Holztür, von der längst alle Farbe abgeblättert war.

Ich hatte gleich kein gutes Gefühl. Wie würde wohl alles weitergehen, fragte ich mich. Momm, Jockel und Kutti fragten sich das auch. Erst blickten wir uns ewig lange um, ob irgendwo jemand zu sehen war, zu dem wir hätten gehen können, dann griff Momm nach dem Schlägel und klopfte. Das eher vorsichtig.

Es dauerte ein bisschen, dann hörten wir Schritte. Die Tür wurde geöffnet – und Frau Griess stand vor uns.

Wie soll ich sie beschreiben? Sie war mir vom ersten Blick an unsympathisch. Momm sagt, wir sollen nicht ungerecht sein, der lange Krieg habe manche Menschen eben hart gemacht.

Woran die Griess mich sofort erinnerte – an eine Hummel! Und das, obwohl ich Hummeln ja eigentlich mag. Etwa sechzig Jahre alt ist sie, nicht groß, aber kräftig. Stämmige Beine, dicker Busen, die Haare so dunkel wie ihre Augen. Dazu Knopfnase und das dichte Haar am Hinterkopf zu einer mächtigen Portierzwiebel gebunden. Und wie sie an diesem Tag vor uns stand! Die Hände tief in ihrer graublauen Kittelschürze vergraben, die Augen uns musternd, als hätte sie noch nie eine Frau mit vier Kindern gesehen.

»Guten Tag!« Momm grüßte höflich. »Mein Name ist Haak, Lotte Haak. Wir kommen aus Berlin, aber eigentlich ja aus Eichenbrück im Wartheland*. Wir … wir haben einen Einquartierungsbescheid mitgebracht.«

Die Frau in der Tür sagte nichts und da reichte Momm ihr kurz entschlossen die Hand.

Die Griess nahm ihre Hand, ließ sie aber gleich wieder los und sah Jockel, Kutti und mich an. Ein Blick, als fragte sie sich, was die Katze ihr wohl da wieder ins Haus geschleppt hatte.

»Sagt Guten Tag!« Momm schob Kutti als Ersten vor.

»Guten Tag!« Widerwillig streckte Kutti die Hand aus. Die Griess sah ihn nur stumm an, und deshalb versuchten Jockel und ich erst gar nicht, ihr die Hand zu geben.

Und Momm hatte Mühe, weiter so freundlich zu bleiben. »Man hat uns gesagt, Sie wären bereit, uns aufzunehmen, wenn wir Ihnen dafür bei der Arbeit zur Hand gehen«, redete sie einfach weiter. »Doch vielleicht ist’s ja besser, ich zeige Ihnen erst mal unseren Einquartierungsschein.«

Jetzt machte die Griess endlich doch mal den Mund auf. »Nicht nötig!«, knurrte sie. Und dann öffnete sie die Tür ganz und trat einen Schritt beiseite. »Komm’ Se rein!«

»Gerne!«, sagte Momm, blieb aber noch stehen. »Doch möchte ich Ihnen zuvor meine Kinder vorstellen.« Und damit zeigte sie zuerst auf dich, Jutsch – »unsere kleine Jutta« –, und nannte danach auch Kuttis, Jockels und meinen Namen.

Jockel – »unser Joachim« – grinste dabei frech. Ich weiß, dass Sie sich über unser Kommen nicht freuen, wollte er der Griess zu verstehen geben, aber wir, das dürfen Sie mir ruhig glauben, freuen uns noch weniger.

Die Griess begriff sofort – und nahm mich ins Visier. Blickte mir direkt in die Augen, und wie hätte ich da ein freundliches Gesicht machen können? Also sah sie auch mir an, wie wenig mir dieser Empfang gefiel, und schroff wandte sie sich ab und ging vor uns ins Haus.

Momm wollte ihr folgen, Jockel hielt sie fest. »Und wie heißen Sie?«, fragte er kess. Die Griess hatte sich uns ja noch nicht vorgestellt.

Wie sie da herumfuhr und Jockel anblaffte! »Kannst du nicht lesen? Steht mein Name nicht an der Tür?«

»Da steht nur ›Wilhelm‹.« Jockel machte ein übertrieben doofes Gesicht. »Wilhelm Griess. Und so können Sie ja nicht heißen.«

»Jockel!« Jetzt hätte Momm ihm am liebsten eine runtergehauen. Doch beherrschte sie sich, entschuldigte sich nur bei der Griess. »Nehmen Sie ihm diese Entgleisung bitte nicht übel! Wir haben viel hinter uns, sind am Ende unserer Kräfte … Er … er ist sonst gar nicht so.«

Die Griess interessierte nicht, wie Jockel sonst war. Als gehörte die Mutter für den Sohn bestraft, so sah sie Momm an. Und dann befahl sie: »Sagen Sie Ihren Kindern, dass sie hier nur zu Gast sind und sich gefälligst zu benehmen haben. Sonst …«

Doch schien sie nicht zu wissen, was sie uns androhen sollte, drehte sich nur wieder um. »Machen Se mal ’n bisschen hin! Hab nicht den ganzen Tag Zeit.« Und wieder wollte sie vor uns hergehen.

Jetzt Kutti! Erst sah er Momm an, dann machte er rasch ein, zwei Schritte und hielt die Griess am Arm fest. »Gibt’s heute noch was zu essen?« Er machte sein treuherzigstes Kleinkindergesicht. »Wir … wir haben nämlich großen Hunger.«

Ich erwartete eine Antwort wie: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Die Griess jedoch sah Kutti nur kurz an, dann nickte sie. »Zum Abend gibt’s Suppe.«

So war es, als wir bei der Griess vor der Tür standen – und so ist es noch immer. »Bewegen« sollen wir uns! Nur nicht faul im Zimmer »herumlungern«! Unterkunft, Brot und Suppe müssen abgearbeitet werden. Sie habe nichts zu verschenken, sagt sie. Oder ob wir etwa glaubten, dass das einfach sei, als alleinstehende Bäuerin einen Hof zu bewirtschaften. Sie könne nicht ewig Rücksicht auf andere nehmen.

Sie ist eine so unfreundliche Frau, bemüht sich kein bisschen, uns unser Hiersein ein wenig erträglicher zu machen. Wir sollen uns nachts besser zudecken, wenn wir frieren! Immer wieder sagt sie das. Und das nur, um Holz und Kohlen zu sparen. Aber wie sollen wir unter immer mehr Decken denn schlafen können? Unter so vielen Decken schwitzen wir, strecken wir aber einen Fuß, eine Hand oder auch nur die Nase heraus, wachen wir auf, weil wir frieren. – Nein, ich mag sie nicht. Sagen jedoch darf ich das nicht. Wir seien nun mal hier gestrandet, predigt Momm Jockel, Kutti und mir jeden Tag. Und wer keine andere Wahl hat, der ist gezwungen, die »Gegebenheiten« zu akzeptieren, egal ob sie ihm gefallen oder nicht.

Aber wahr ist auch: Eine bessere Einquartierung als uns hätte die Griess nicht bekommen können. Momm darf die Magd Nummer eins spielen, die aus lauter Dankbarkeit, dass wir hier »überleben« dürfen, von morgens bis abends schuftet, bis ihr alle Knochen wehtun. Magd Nummer zwei bin ich. Mit sechzehn ist man kein Kind mehr, sagt die Griess. Bin also voll einsatzfähig. Nur den Mund aufmachen darf ich nicht. Sag ich mal was »Ungehöriges«, bin ich doch wieder...

Erscheint lt. Verlag 18.8.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-407-75603-8 / 3407756038
ISBN-13 978-3-407-75603-9 / 9783407756039
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