Tornado im Kopf (eBook)
271 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-75850-7 (ISBN)
Cat Patrick lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Seattle, sie verbringen aber so viel freie Zeit wie möglich vier Stunden westlich von ihrer Heimat in der besonderen Stadt Long Beach, um Marshmallows zu grillen und Papierdrachen zu entwirren. Dort ist Tornado im Kopf, Cat Patricks erstes Kinderbuch, entstanden.
1. Kapitel
Fakt: In manchen Teilen der USA haben Schulen extra Tornado-Schutzräume.
Colette verschwand am zweiten Freitag im April gegen Ende der siebten Klasse. Siebeneinhalb Jahre nach dem Tornado in der Vorschule. Da waren wir seit zwei Monaten keine Freundinnen mehr.
Bevor ihr Verschwinden überhaupt bemerkt wurde, war es ein stinknormaler Morgen. Mom stand um halb sieben in meiner Tür. Ich bekam fast einen Herzinfarkt, als ich die Augen aufschlug und sie da stehen sah.
»Du weißt, dass ich das nicht leiden kann!«, murrte ich.
»Guten Morgen, Frankie«, flötete Mom. »Du musst dich für die Schule fertig machen.«
Ich schloss die Augen wieder. Abends hatte ich nicht einschlafen können, weil mir so viele Dinge gleichzeitig im Kopf herumschwirrten, und wenn mein Kopf so voll ist, kann ich irgendwann gar nicht mehr abschalten. Außerdem hatte ich vergessen, die Vitamine zu nehmen, die mir beim Einschlafen helfen sollen. Und dann bin ich nachts noch zweimal aufgewacht, einfach so, einmal um halb drei und einmal um fünf. Ich schlafe dann ganz schwer wieder ein. Insgesamt hatte ich vielleicht vier Stunden Schlaf bekommen.
Ich rieb mir die Augen und verkroch mich unter der Decke, in der Hoffnung, Mom würde sich verziehen. Doch die Gerüche, die sie mitgebracht hatte, verzogen sich nicht: leckeres Shampoo und ekliger Kaffee. Ich stellte mir die beiden als Comicfiguren vor, Kaffee-Geruch stürzt sich auf Shampoo-Geruch, der setzt sich aber zur Wehr und stößt Kaffee-Geruch von sich und …
»Bist du wach, Frankie?«, fragte Mom.
Jetzt schon.
In letzter Zeit hatte ich mir Mühe gegeben, mich gut zu benehmen, deshalb riss ich mich zusammen und schrie sie nicht an, sie solle verschwinden, damit ich in Ruhe aufwachen konnte. Nicht brüllen, sagte ich mir ganz laut im Kopf. Pass dich ihrer Stimme an.
Ich öffnete die Augen und sah sie aus der Waagerechten an, denn ich lag auf der Seite.
»Hi«, knurrte ich. Meine mürrische, müde Stimme klang so gar nicht wie ihre. Doch das schien sie nicht zu stören.
»Heute ist Freitag!«, verkündete sie. »Oder weil du heute früher Schluss hast, sollte ich vielleicht sagen: Frei-ta-ta!«
Freitags kamen wir schon um 11.25 Uhr aus der Schule, das machte drei Stunden und fünf Minuten oder drei Unterrichtsstunden, von denen die erste auch noch Stillarbeit im Klassenzimmer war, es sei denn, man war ein Superstreber und kam davor noch zur Frühstunde, das war aber viel zu früh für mich.
»Hhmm«, brummte ich und drehte mich herum. »Ich bin wach, du kannst gehen.«
»Du kennst die Regel«, antwortete Mom. »Ich gehe erst, wenn du aufgestanden bist.«
Das ist die dämlichste Regel überhaupt!, schrie ich im Kopf. Es nicht laut herauszubrüllen, bereitete mir fast körperliche Schmerzen, aber ich dachte an meinen Vorsatz, mich gut zu betragen, zählte bis zehn und schaffte es, nicht zu brüllen. Ich schlug die Decke zurück und sprang aus dem Bett, vornübergebeugt, mit geballten Fäusten und gerunzelter Stirn. Aber ich stand.
»Bitte schön«, sagte ich.
»Danke«, antwortete Mom, was mich nervte.
Damit ihr das nicht in den falschen Hals bekommt, sollte ich an dieser Stelle wohl mal sagen, dass ich meine Mutter liebe. Sie ist auch nicht fies oder so. Bloß … mich bringen Dinge immer ganz schnell auf die Palme. Oder sie berühren mich gar nicht. Entweder ganz oder gar nicht, fast nie in der Mitte. Deshalb bin ich wohl auch manchmal unglücklich. Weiß nicht genau. Egal.
Als meine Mutter endlich ging, zog ich meine weichste Skinny Jeans an, die ich mindestens zweimal die Woche trug. Heute hatte ich aber das Gefühl, dass mir die Nähte in die Oberschenkel schnitten, deshalb wechselte ich die Jeans. Ich zog meinen schwarzen Hoodie mit den Daumenlöchern an, spürte einen Moment lang nach, fand es okay. Die Nähte von den anderen Jeans störten mich auch, deshalb schlüpfte ich in ein Paar Leggings. Die hatten zwar ein Loch im Knie, waren aber sonst in Ordnung. Mit dem Fingernagel bohrte ich in dem Loch herum, bis es noch größer war.
Dann stopfte ich die halb fertigen Hausaufgaben in den Rucksack und ging mir die Zähne putzen. Im Spiegel war ein Mädchen, das mich anstarrte: wildes, kinnlanges Haar, ein viel zu langer Pony, braune Augen mit dunklen Ringen und aufgesprungene Lippen. Als ich nach meiner Zahnbürste griff, entdeckte ich ein Haar. Ich schmiss sie weg und suchte im Schrank nach einer neuen. Dabei fand ich ein Haarband, das ich früher ständig getragen hatte. Aus Spaß band ich es um und hätte Colette gerne ein Foto davon geschickt, weil es so bekloppt aussah, aber das ging ja nicht, weil wir nicht mehr befreundet waren. Nachdem ich im Bad fertig war, ließ ich das Haarband einfach fallen.
Ich zog mir die Kapuze über die wirren Haare. Aus dem Minikühlschrank in meinem Zimmer nahm ich mir Milch und kippte Getreideflocken in eine Schale, die einzige Sorte, die ich mag. Ich checkte meine Tornado-App und las von einem Tornado der Kategorie EF2, der letzte Nacht in Birmingham, Alabama, gewütet hatte. Social Media schenkte ich mir, weil ich nicht die ganzen Bilder von Colette und ihren Freunden sehen wollte.
Ich zog mir die Jacke an und stiefelte los. Ich wäre zu gerne auf meinem Lieblingsfahrrad, einem gelben Beach Cruiser, zur Schule gefahren, aber es war nicht da, wo es hätte sein sollen, deshalb musste ich laufen. Nach ein oder zwei Minuten summte mein Handy.
MOM
Hast du deinen Rucksack dabei?
Ich lief zurück, um ihn zu holen. Mom stand in der Tür, den Rucksack in der einen und einen Proteinriegel in der anderen Hand. Ihr dunkles Haar war zu einem straffen Knoten gebunden, was schmerzhaft aussah. Unwillkürlich fasste ich mir an den Hinterkopf.
»Vergiss bitte nicht, zu essen!«
»Bestimmt nicht.« Damit wandte ich mich zum Gehen um. Ständig ermahnte sie mich zu essen. Das machte sie mit anderen doch auch nicht, nur mit mir. Wahrscheinlich musste man mich manchmal tatsächlich daran erinnern, aber es nervte trotzdem.
»Ich will nicht, dass du eine Hungerlaune bekommst«, sagte sie.
Dafür gibt es im Englischen ein eigenes Wort, wusstet ihr das? Hangry. Aus angry, wütend, und hungry, hungrig. Ehrlich wahr. Ich hab’s nachgesehen.
»Ich bin alt genug, um zu wissen, wann ich essen muss«, maulte ich.
»Ja, mit dreizehn bist du alt genug«, antwortete sie, als wollte sie auf irgendetwas anderes hinaus. »Hast du dir die Zähne geputzt?«
»Ja.« Hatte ich das wirklich? Ganz sicher war ich mir nicht. »Tschau.«
»Viel Spaß, Frankie. Ich hab dich lieb!«
Knurrend zog ich wieder los, nahm den Weg am Strand entlang, damit ich notfalls im Wind rumschreien konnte. Heute war mir zwar nicht danach, aber ich finde es gut, mehrere Möglichkeiten zu haben. Ich entscheide nämlich gerne selbst, was ich tue und lasse, dabei habe ich das Gefühl, alle wollen mich ständig rumkommandieren. Bloß dauert der Strandweg länger als der direkte Weg. Aus einer geraden Linie von A nach B wird ein stumpfwinkliges Dreieck.
Wisst ihr, was das ist? Geometrie. Super Sache, und die mag ich.
Ich komme so oft zu spät zur Schule, dass die Fluraufsicht nicht mit der Wimper zuckte. Ich verstaute ein paar Bücher und den Proteinriegel in meinem Spind, den ich mir mit niemandem teilen muss, weil ich es hasse, wenn fremde Bücher meine berühren. Auf dem Weg zum Klassenzimmer hinterließ ich auf dem Flur eine Sandspur, so wie die Brotkrümel bei Hänsel und Gretel. Es läutete schon zum Unterricht, doch Mrs Garrett sagte nichts, als ich zu spät eintrudelte.
Alle anderen saßen bereits auf ihren Plätzen, die meisten unterhielten sich mit ihren Nachbarn. Darin bin ich nicht so gut, ich mag dieses Gequatsche nicht. Weder das Wort noch die Tätigkeit.
Ich setzte mich an meinen einsamen Tisch am Fenster und checkte noch mal die Tornado-App. Leider keine neuen Infos.
»Alle Handys vom Tisch, sonst kassier ich sie ein«, sagte Mrs Garrett. Auch wenn einige stöhnten, ließen alle ihre Handys verschwinden. Natürlich nicht wortwörtlich. Ich gehe ja nicht auf die Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei.
Mrs Garrett redete weiter. »Keine Müdigkeit vorschützen. Wir wollen ja was schaffen. Anna und Daphne, ihr seid auch gemeint. Marcus! Hör endlich auf zu kramen.«
Im Klassenzimmer wurde es still. Jeder widmete sich seinen Hausaufgaben. Ich schlug Ruf der Wildnis auf, das von einem Hund namens Buck handelt, der im eisigen Yukon lebt....
Erscheint lt. Verlag | 21.7.2021 |
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Übersetzer | Petra Knese |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-407-75850-2 / 3407758502 |
ISBN-13 | 978-3-407-75850-7 / 9783407758507 |
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