Das Universum ist verdammt groß und supermystisch (eBook)
192 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-75614-5 (ISBN)
Lisa Krusche ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie lebt in Braunschweig. Krusche studierte Germanistik und Kunstwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und Literarisches Schreiben in Hildesheim. 2019 war sie Finalistin beim 27. open mike. Eingeladen von Klaus Kastberger las sie 2020 bei den 44. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt und erhielt den Deutschlandfunk-Preis.
SECHS
»Guck«, sagt Charles, als wir vor dem Zauberkönig stehen, und deutet auf eins der Schaufenster. Darin liegen Kartenspiele und Perücken, Zauberwürfel, Plastikgebisse zum Aufziehen und Augen aus Glibber. Es gibt Blechspielzeuge und Zauberstäube und eine Vitrine, in der ein Schild steht: Diverse Scheiße 1,50 – 3,50 Euro, und daneben liegen künstliche Kackhaufen. Ach so. Ich muss grinsen.
»Super, oder?« Charles grinst auch. Beim Aufmachen der Tür zwitschert es. Drinnen gibt es noch viel mehr, viel verrücktere Sachen als im Fenster. In den Regalen stapeln sich Zauberutensilien. Es gibt Umhänge, Hüte und Stäbe, es gibt Schminke, es gibt künstliches Blut und Stoffkaninchen, es gibt Kartensets und Gummiskelette, es gibt Girlanden und Knallbonbons, es gibt Plastikhände und Plastikfüße. Es gibt Oktopusarme, die man über seinen Stift stülpen kann, Vampirzähne und Kerzen, die sich nicht auspusten lassen. Es gibt Gläser voller Bonbons mit Pfeffer- und Knoblauchgeschmack und Lollis und Perücken und flauschige Würmer an einem Bindfaden.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Ein Mann tritt hinter einem Vorhang hervor. Er stützt sich mit den Armen auf dem Ladentresen ab und schaut uns an. Er sieht alt und gleichzeitig jung aus. Seine Haare sind weiß, aber dicht und lockig. Er hat einen Schnurrbart, so einen dünnen, dessen Enden nach oben gezwirbelt sind, und um seine Augen und seinen Mund sind eine Million Falten. Seine Hände sind kräftig und groß, überhaupt alles an ihm ist groß und kräftig, die Arme, der Bauch, die Schultern, der Kopf, alles, er ist viel zu groß für diesen kleinen Laden.
»Das hoffe ich sehr!«, sagt Charles.
»In welche Richtung soll es denn gehen? Zauberei, Verkleidung, Scherzartikel?«
»Wir wollen nichts kaufen, wir suchen Antworten«, sagte Charles. Der Mann guckt sie an, er guckt mich an, er beugt sich noch ein Stück weiter nach vorne über den Tresen, die Augen kneift er zusammen. »Da seid ihr bei mir falsch. Ich verkaufe Illusionen, keine Antworten. Für Antworten müsst ihr in die Schule gehen oder in die Kirche oder sonst wohin.« Er dreht sich um.
»Ich will auch keine Antwort kaufen, ich will sie kostenlos. Ich zahle nicht für Antworten, klar? Und haben Ihre Eltern Ihnen keine Höflichkeit beigebracht? Lassen Sie mich doch erst einmal erklären, worum es geht, bevor Sie direkt wieder gehen.« Der Mann dreht sich wieder zu uns um, er hat jetzt zwei tiefe Falten zwischen den Augenbrauen.
»Du bist ganz schön frech für deine Größe und dein Alter«, sagt er, »ich frage mich, ob deine Eltern dir keinen Anstand beigebracht haben. Man soll nämlich keine fremden Menschen belästigen, hörst du? Vor allem nicht, wenn sie einem das klipp und klar gesagt haben. Und man soll Erwachsene auch nicht bei der Arbeit stören.«
»Nein, das haben sie mir nicht beigebracht. Meine Eltern glauben nämlich nur an die Freiheit und die Kunst und Licht und Liebe und die Revolution.«
»Ha!«, sagt der Mann und sonst nichts und steht jetzt da wie eingefroren. Ich wette, sonst geben ihm Kinder keine Widerworte, überhaupt niemand gibt ihm sonst Widerworte.
»Aber«, sagt Charles, »ich bin nicht hier, um über meine Eltern zu plaudern, das können wir vielleicht beim nächsten Mal machen, und dann reden wir auch darüber, warum sie meinen, Arbeit sei das Allerwichtigste im Leben, und was daran falsch, ganz falsch ist und was vielleicht sonst wichtig sein könnte für sie. Nur heute nicht, weil heute habe ich nur eine Frage: Emilio Galetti?« Der Name schwebt im Raum, es ist still, Charles und ich beobachten den Verkäufer, seine Augen verengen sich kurz zu Schlitzen, und ich frage mich, ob er gleich losdonnert, dass ein Name keine Frage sei und dass wir jetzt verdammt noch mal endlich verschwinden sollen, dann entspannt sich sein Gesicht.
»Emilio«, sagt er und plötzlich ist seine Stimme so weich wie Schokolade in der Sonne.
»Ja«, sagt Charles, »das hier ist sein Sohn.« Sie deutet auf mich. Es ist das erste Mal, dass ich als der Sohn eines Vaters vorgestellt werde. Der Mann mustert mich, nicht mehr böse, sondern interessiert und aufmerksam.
»Emilio hat einen Sohn? Das wusste ich nicht. Ich habe ihn so lange nicht mehr gesehen. Jahrelang.«
»Hat er«, sagt Charles, »hier steht er, der Beweis.«
»Ja«, sagt der Mann, »ja. Das sieht man.« Man sieht das.
»Wie heißt du denn?«
»Er heißt Gustav. Und Gustav redet nicht«, sagt Charles und der Mann nickt und fragt nicht weiter nach, und das ist der Moment, in dem ich, der Sohn von Emilio Galetti, anfange, den Freund von Emilio Galetti zu mögen.
»Wir suchen ihn. Also Emilio. Wir wissen bisher nur seinen Namen und dass Sie sein Freund sind. Das hat uns Gustavs Opa verraten, Herr Socier.«
»Nie gehört«, sagt der Mann.
»Nie gehört?«, fragt Charles.
»Nie gehört.«
Wieso hat er, wenn er der Freund von Emilio war, nie etwas von Opa gehört?
»Wo ist er jetzt?«, fragt Charles. »Was wissen Sie über ihn? Können Sie uns etwas erzählen? Sehen Sie, mein Freund hier, Gustav, der würde echt gerne was über seinen Papa erfahren.«
»Ich weiß nicht, wo er jetzt ist, wie gesagt, es ist Jahre her. Aber ich erzähle euch gerne das, was ich weiß. Ich würde euch ja anbieten, euch zu setzen, aber wie ihr sehen könnt, ist es hier sehr eng, und ich habe auch nicht ausreichend Stühle. Ich habe nur zwei. Einen hier und einen hinten in meinem Zimmer. Da steht auch ein Sessel, aber hinter den Vorhang dürfen nur Mitarbeiter, das versteht ihr sicher.« Ich nicke. Charles auch. Obwohl es keiner von uns wirklich kapiert.
»Emilio hat damals beim Zirkus gearbeitet. Daher kannten wir uns. Er musste nämlich ganz oft Dinge bei mir besorgen. Richtige Großbestellungen waren das. Er kam hier dann immer vorgefahren mit so einem klapprigen dunkelgrünen Volvo und wir haben den ganzen Kofferraum vollgeladen. Und dann ist er wieder los und kam lange nicht mehr vorbei und dann war er plötzlich wieder da. Immer unterwegs. Na, und vor Jahren, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, da wollte er in die Slowakei. Gesagt, warum, hat er nicht. Oder hat er und ich habe es vergessen? Das wäre auch möglich. Vielleicht, ja, ich meine mich zu erinnern, dass er dort einen Freund besuchen wollte. In einer kleinen Siedlung nahe dem Örtchen Župkov.«
Ich zupfe an Charles’ Ärmel und drücke ihr mein Handy in die Hand:
Frag ihn, wen er besuchen wollte
»Wissen Sie noch, wie der Freund hieß?«
»Sicher«, sagt der Mann, »er wollte zu Philou. Das war kurz nachdem alles abgefackelt ist.«
Charles schaut mich an.
»Danke«, sagt Charles, »Sie haben uns sehr geholfen. Komm, Gustav.« Sie deutet mit ihrem Kopf zur Tür.
»Gerne«, sagt der Mann, »wenn ihr ihn findet, dann sagt ihm, dass er sich ruhig mal wieder blicken lassen kann, dass ich noch nicht unter der Erde bin und er ein verdammter Halunke ist, der seine Freunde nicht vergessen soll.«
Vor der Tür finde ich ein ganz kleines lila-metallisches Papier, wahrscheinlich eine Bonbonverpackung.
»Wir haben ihn gar nicht nach seinem Namen gefragt«, sagt Charles, »wie unhöflich von uns. Hast du Lust auf eine Falafel?«
Ich starre die Kronkorken auf dem Boden an. Es sind sieben.
»Ich schon. Ich hab einen Mordshunger.« Also stoppen wir am Falafel-Stand und Charles bestellt sich eine Falafel, und ich stehe daneben und gucke ihr zu, wie sie isst, es dauert nicht lange. Charles isst schneller als jeder Mensch, den ich kenne.
»Also, das war doch schon mal was, geht doch alles voran, ich sag’s ja: Das wird schon. Man braucht nur eine Meisterdetektivin als Freundin.« Sie zieht ein dunkelblaues Notizbuch aus ihrer Tasche, so eines mit Gummiband drum herum, eins von den guten. »Hab ich von Papa geklaut, er nutzt die immer für seine Notizen, aber gerade hat er eine Krise, da macht er keine Notizen. Er braucht’s also zurzeit nicht.« Oben, in die linke Ecke des Notizbuches, hat jemand in krakliger Schrift Fahndung GP geschrieben.
»Man muss die Sachen aufschreiben, das hilft. Alle Informationen, dann hat man sie vor Augen, weißte, und vergisst nichts, nicht mal die kleinsten Details.« Sie blättert ein paar Seiten um, dann fängt sie an zu schreiben. Ich verstehe, dass sie meint, aufschreiben hilft. Dann hat man den Überblick und es rutscht einem nichts durch. Nur wird uns das hier nicht weiterbringen. Dieser Mann namens Emilio, der wohl mein Papa ist, hat sich vor Jahren in Richtung Slowakei verabschiedet. Ein Land, von dem ich nur so ungefähr weiß, wo...
Erscheint lt. Verlag | 21.7.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-407-75614-3 / 3407756143 |
ISBN-13 | 978-3-407-75614-5 / 9783407756145 |
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