Die Kirsche auf der Torte aller Katastrophen (eBook)
464 Seiten
Thienemann Verlag GmbH
978-3-522-62187-8 (ISBN)
Marie Pavlenko wurde 1974 in Lille geboren und studierte Literatur an der Sorbonne. Sie unterrichtete zuerst Französisch in Jordanien, zog dann nach Paris, wo sie 15 Jahre lang als Journalistin arbeitete. Heute ist Marie Pavlenko in ihrem Heimatland eine vielfach ausgezeichnete Autorin. Sie lebt mit ihrer Familie und ihren Katzen in Montreuil und widmet sich ganz dem Schreiben.
KAPITEL 1
Deborah bereitet sich auf die Schule vor
Ein schreckliches Geräusch dröhnt mir in den Ohren. Es klingt wie ein wütender Staubsauger, der gerade ein Söckchen verschlingt. Ich versuche es auszublenden und mich stattdessen auf meine traumhafte Umgebung zu konzentrieren. Hatte ich schon gesagt, dass sie absolut traum-haft ist? Ich muss das näher erläutern: Ich liege an einem schneeweißen Sandstrand unter einer Kokospalme, deren Wedel leise in der leichten Brise rascheln. Der Himmel ist strahlend blau, strahlend ist auch mein Lächeln. Ich will ja nicht prahlen, doch kann ich auch nicht leugnen, dass ich in meinem rosa Bikini, der meine an sich schon fantastische Figur vorteilhaft betont, einfach hinreißend aussehe. Ich schlürfe einen dieser Cocktails, die mit bunten Papierschirmchen serviert werden, und lausche den Klängen, die ein sonnengebräunter Typ seiner Gitarre entlockt. Er hat eine göttliche Stimme und verschlingt mich mit seinen Blicken. Mickaël? Antoine? Denis? Ich kann mich einfach nicht an seinen Vornamen erinnern, eines aber ist sicher: Er will mich.
Aber das bin ich gewohnt.
Sie wollen mich alle.
Der Staubsauger jault in immer höheren Tönen, jetzt klingt er wie die Opernsängerin Castafiore aus Tim und Struppi, und der schrille Lärm beginnt, meine Umgebung zu verätzen. Ohne dass ich es verhindern kann, löst sich alles auf: der weiße Sand, der sonnengebräunte Typ mitsamt seiner Gitarre. Auch mein Bikini verschwindet.
Ich öffne ein Auge.
Ich liege in meinem schmalen Bett. Es ist immer noch dasselbe, das mir die Eltern zu meinem fünften Geburtstag geschenkt haben. Ich betaste meinen Hintern und stelle fest, dass auch meine fantastische Figur dahin ist, verdrängt von Madame Cellulite, die schon seit Generationen über die weibliche Linie meiner Familie herrscht. Meine Mutter, meine Großmutter, meine Urgroßmutter, sie alle waren ihre Opfer. Man sieht es, wenn man sich die Fotoalben genauer anschaut: Die Cellulite rollt in unseren Adern.
Ich strecke einen Arm aus und schalte den Wecker ab, diesen Mistkerl, der mich aus einem Traum gerissen hat, der so … so … Ach, mir fehlen die Worte, um ihn zu beschreiben.
»Sie wollen mich alle.«
Hilfe!
Ist mir noch gar nicht aufgefallen.
Ich schnaufe trotzig und merke dabei, dass ich ziemlichen Mundgeruch habe. Deshalb seufze ich von nun an nur noch in Gedanken, und denke mir etwas aus: In ein paar Sekunden werde ich das Radio einschalten, und wenn der Song … Ja! Wenn der Song zu den ersten 30 der Topliste gehört (und egal welches Stück es ist, die Wette muss realistisch bleiben), werde ich ein herrliches letztes Schuljahr erleben. Also Achtung, Achtung, Trommelwirbel … die ersten 30, die ersten 30 … die ersten 30 …
»Und bevor ich an Yohann weitergebe, erinnere ich euch an das Zugunglück in Großbritannien. Bisher wurden 1540 Tote gezählt, doch die zuständigen Behörden …«
Au weh.
Aus. Aus, aus, aus!
Ich trinke einen ganzen Liter Wasser. Das soll gut für den Teint sein. Ich habe gestern schon alles bereitgelegt: Sweatshirt, Rock und Ballerinas. Doch das Universum hat anderes vorgesehen.
Es regnet.
Paris ist grau.
Auf meinem Weg zur Wohnungstür gehe ich an der Küche vorbei und rufe meiner Mutter »Bye!« zu. Sie sitzt über ihren Kaffee gebeugt und ihr Haar ist so verstrubbelt, als hätte sie es mit Absicht in diesen Zustand versetzt. Meine Mutter war noch nie sehr redselig, doch in letzter Zeit irrt sie wie ein Geist durch die Wohnung, während mein Vater seinen Lebensmittelpunkt ins Büro verlagert hat. Ich ertrage sie beide nicht mehr.
Bevor ich die Tür zuschlage, überprüfe ich meine Erscheinung in dem alten Spiegel, der im Flur hängt, und mir fällt auf, dass ein Post-it daran klebt. Darauf eine mit rotem Filzstift geschriebene Telefonnummer.
Ich ziehe los.
Unter ihrem schönen fuchsiafarbenen Regenschirm mit Bärchenohren erwartet mich Eloise vor dem Kaninchenstall. Kein Mensch weiß mehr, seit wann unser Gymnasium so genannt wird, aber alle wissen warum: Die Klassen sind so überfüllt, dass man sich wie in einer schlampig geführten Kaninchenzucht vorkommt. In einer Kaninchenbatterie. Eigentlich sollte es so heißen.
Aber das hat alles System.
Jedenfalls steht Eloise vor dem Kaninchenstall.
[ Wer ist Eloise?
Meine beste Freundin, die Schwester, von der ich immer geträumt habe, ein absolut geniales Mädchen. Natürlich ist unsere Madame Soulier, Lehrerin für Biologie und Geografie, anderer Ansicht. Ihr letzter Kommentar zu Elo war: »die unbegabteste Schülerin, die ich jemals hatte. Ein leerer Kelch anstelle des Gehirns. Man sollte sie sezieren.« Ist mir aber egal. Ich mag an Elo auch ihren Sockenschuss. ]
Nur durch Regenjacke und Kapuze vom Regenguss geschützt flitze ich zwischen den Pfützen hindurch auf sie zu und erreiche sie mit einem Seufzer der Erleichterung. Eloise lächelt und klimpert mit mascarabeschwerten Wimpern. Ich kenne die Miene, die sie macht. Sie schaut triumphierend drein. Offenbar sind wir in derselben Klasse gelandet.
»Wir sind nicht in derselben Klasse«, raunt sie mir zu.
»Bist du sicher?«
»Ich bin in der TL 2, du bist in der TL 4.«
»Und deshalb strahlst du vor Enttäuschung?«
»Nein, nein, ich verrate es dir, aber du wirst es mir nicht glauben: Ich bin in Erwanns Klasse.«
»Air One? Ist das ein neues Deo?«
»Nein, Erwann, der Bruder von Greg. Du weißt doch, das ist der gut aussehende Typ, der jetzt an der Sorbonne Philosophie studiert!«
»Machst du Witze? Bei Erwann wächst unter der Schädeldecke nur Brokkoli! Auf seinem Planeten ist Victor Hugo ein Fußballspieler, und Descartes hat das Gummiband erfunden. Wer ist überhaupt in der TL 4?«
»Äh … Ich habe da noch nicht so gründlich nachgeschaut«, antwortet Eloise gedehnt, während sie über meine Schulter hinweg unsere Schulkameraden beobachtet. »Ach so, ja, jetzt fällt es mir wieder ein: Jamal! Du kennst ihn, es ist der Typ mit den Vorderzähnen in XXL, der, der Vogelspinnen züchtet.«
»Na super! Und wer sonst noch?«
»Guck doch nicht so! Ihr seid neununddreißig Leute, da werden schon noch ein, zwei Erträgliche dabei sein. Was hast du denn da an den Füßen?«
Ich strecke abwechselnd beide vor. Ich trage apfelgrüne Gummistiefel mit plastisch hervortretenden Augen, das Einzige, was man bei diesem Wetter tragen kann. Meine Converse-Chucks sind gestorben. Ich habe sie im August begraben müssen. Und meine Sneaker mit Schlangendruck haben ihren Geist aufgegeben. Doch ich bin es gewohnt und ertrage stoisch das ironische Lächeln dieses Mädchens, das stets perfekt gekleidet ist. Die Götter müssen sie lieben, denn sie ist hübsch, sie ist witzig und sie kommt immer in die beste Klasse.
Während ich das Jahr mit Tarantula-Man verbringen werde.
Ich muss mich in meinen Froschstiefeln bis zu Raum 234 schleppen. So eifrig ich mich auch umsehe, ich kann nichts Sehenswertes entdecken. Unmengen von Zöpfen, zwei Zahnspangen, buschige Haarschöpfe, eine rote Cap. Kein Sex-Appeal. Kein attraktiver, vom Himmel gefallener Neuer, Typ »Mann meines Lebens«. Mittelmaß, Resterampe, von unscheinbar bis hässlich.
Ich werde als alte Jungfer sterben. Auf meinem Grabstein wird stehen: »Hier ruht Deborah, das Mädchen, das Frösche liebte. Leider hatte keiner davon den Anstand, sich in einen Märchenprinzen zu verwandeln.«
Jamal steht in einer Ecke, mit dem Handy unter der Nase und einer schlammfarbenen Mütze, die er sich bis zu den Augenbrauen heruntergezogen hat. Die riesigen Vorderzähne schauen zwischen den geschlossenen Lippen hindurch. Ich finde ihn abstoßend.
Wir wären das perfekte Paar. Tarantula-Man und Amphibien-Girl.
Ich lehne mich an einen Heizkörper und hole mein Handy raus. Ich will was nachschauen. Dabei bemühe ich mich, den von Tania angeführten Trupp Mädchen zu ignorieren, die sich gegenseitig auf meine Gummistiefel aufmerksam machen. Tarantula-Man und Tania, wenn das kein Glückstreffer ist! Bis jetzt konnte ich ihnen aus dem Weg gehen, doch diese schöne Zeit ist jetzt vorbei. Ich werde auch die Tusse ertragen müssen, sie und ihren gebügelten Pferdeschwanz. Ein ganzes Jahr lang. Tania ist so eine Art Eloise, nur brillanter und weniger sympathisch. Eine sehr gute Schülerin, ein schönes, gepflegtes Mädchen, das in ihre zweihundert Quadratmeter große Wohnung die Crème de la Crème des Kaninchenstalls einlädt. Sie ist die, nach der sich alle Jungen umdrehen. Sie würde niemals Froschgummistiefel tragen, nicht einmal in ihren gruseligsten Albträumen.
Ich fühle mich allein. Nein, noch schlimmer: Ich fange an, über meine Eltern nachzudenken. Seit er in seiner Zeitungsredaktion befördert wurde, ist mein Vater immer weniger zu Hause. Chefredakteur. Klingt eigentlich gut. Man könnte meinen, er hätte sich dazu entschlossen, seine Arbeit zu heiraten. Es sieht ganz so aus, als würde eine Entlassungswelle anrollen. Immer wenn man mal das Glück hat, meinen Vater zu Gesicht zu bekommen, ist er müde, besorgt und abwesend. Was meine Mutter betrifft, so ist sie mal apathisch und mal überdreht. Besonders wenn sie in letzterer Stimmung ist, wird mir angst und bange, denn dann ist es, als ob plötzlich über meinem Kopf ein Plakat mit der Aufschrift »Kümmere dich um deine Tochter!« erscheinen würde, und Bumm! bombardiert sie mich mit Fragen, die ich nicht beantworten mag. (»Welche Gruppe ist denn gerade bei den jungen Leuten in?«), oder aber sie gibt...
Erscheint lt. Verlag | 24.8.2021 |
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Übersetzer | Cornelia Panzacchi |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Je suis ton soleil |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Abitur • Chaos • Coming-of-age • Die Elenden • Echtes Leben • Familie • Freundschaft • Gefühle • Humor • humorvoll • Jugendbuch • Jugendbuch ab 12 • Liebe • Liebesgeschichte • Liebesroman • Love • Missgeschicke • Paris • Romantik • Victor Hugo |
ISBN-10 | 3-522-62187-5 / 3522621875 |
ISBN-13 | 978-3-522-62187-8 / 9783522621878 |
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