Je lauter die Stille (eBook)

Roman | Bewegende Coming-of-Age-Story
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
320 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43973-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Je lauter die Stille -  Lena Luisa Leisten
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Das beeindruckende Debüt einer talentierten Autorin Zwischen Zukunftswünschen, Beziehungsproblemen und Selbstzweifeln versucht die junge Studentin Mila ihren Weg zu finden - nur weiß sie oft selbst nicht, in welche Richtung sie eigentlich will. Weiter studieren, vielleicht noch ein Praktikum machen oder doch jobben? Und wie soll sie neben all dem auch noch mit ihren Gefühlen für Robin umgehen? Denn um ihrer Beziehung eine echte Chance zu geben, müsste Mila sich ihren Ängsten stellen - und alte Wunden aufreißen. Als sie dann auch noch herausfindet, dass ihr Vater eine Affäre mit einer französischen Schauspielerin hat, zieht es ihr endgültig den Boden unter den Füßen weg. Also reist sie kurzerhand mit ihrer besten Freundin nach Paris ...

Lena Luisa Leisten hat ihre halbe Kindheit und Jugend in einem Zirkus verbracht, jongliert seit ihrem Abitur aber noch lieber mit Wörtern. Sie hat Kunstgeschichte, Germanistik und Sozialkunde sowie Politikwissenschaften studiert und arbeitet als freie Journalistin, Moderatorin und Autorin in Berlin. Außerdem engagiert sie sich im Bereich der politischen Bildung und ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag.

Lena Luisa Leisten hat ihre halbe Kindheit und Jugend in einem Zirkus verbracht, jongliert seit ihrem Abitur aber noch lieber mit Wörtern. Sie hat Kunstgeschichte, Germanistik und Sozialkunde sowie Politikwissenschaften studiert und arbeitet als freie Journalistin, Moderatorin und Autorin in Berlin. Außerdem engagiert sie sich im Bereich der politischen Bildung und ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag.

1. Kapitel Ein Vorschlag


Der Kaffee ist schon wieder kalt. Ich schiebe die Tasse vorsichtig zurück auf den Nachttisch. Richte mich auf. Verstaue Jane Austen und mein Notizheft in der Schublade. Betrachte das zitronengelbe Kleid, das unter dem Nachttisch hervorschaut. Eins der vielen, die Mama irgendwann mal für mich gekauft hat und die ich dann nie angezogen habe.

In den letzten Tagen hat sich der Fußboden in ein Meer aus Klamotten verwandelt. Bunte Stoffe schwappen vom Kleiderschrank bis zur Tür und unter meinen Schreibtisch.

Wenn jetzt Sommer wäre, würde mich das wahrscheinlich nicht so stören. Dann würde ich mich sonnen, auf meinem Doppelbett wie auf einem Floß. Ich müsste bloß die weißgrauen Gardinen ganz aufziehen und ein Fenster öffnen. Und dann könnte ich platt wie eine Flunder im Lichtquadrat schmelzen.

Wenn. Wennwennwenn.

Stattdessen Februar. Immer noch. Februar, bei dem man sich wie jedes Jahr fragt, ob der Winter niemals endet. Ich ziehe mir die Bettdecke wieder über die Schultern. Mein Handy summt. WhatsApp.

Mona: Denkst du noch an das Buch? Wäre wirklich cool, wenn du es mir später mitbringst.

Ach Mist, vergessen.

Ich: Klar, kriegst du. Dann: das Grinse-Emoji.

In der Uni reden jetzt alle von Prokrastination. Das klingt gleich viel besser als Nicht-das-machen-was-man-eigentlich-machen-soll und meint meistens soziale Netzwerke. Ich nenne es Rotation der Sinnlosigkeit: von WhatsApp zu Instagram zu Facebook und dann wieder von vorne. Ein Strudel, der einen immer weiter runterzieht, bis einem irgendwann schwindelig wird. Mir zumindest.

Aber Wilhelm Meister nervt auch. Wie er da auf meiner rechten Betthälfte schläft, eigentlich viel zu dick für ein Reclam-Heft. Wie ein gelber Merkzettel, der mich daran erinnert, dass ich endlich mit meiner Bachelorarbeit weiterkommen muss. Nicht wegen einer Frist, das nicht. In Theaterwissenschaften gilt die Frist erst, wenn man das Thema beim Prüfungsausschuss eingereicht und bestätigt bekommen hat. Aber ich will. Fertig werden. Weitermachen. Irgendwas!

Ich versuche es noch mal mit ihm. Blättere durch die Seiten des gelben Klotzes. Starre in den dicht gedruckten Text auf dünnem Papier, bei dem ich immer ein paar Minuten brauche, bis ich mich wieder an die gestelzte Sprache gewöhnt habe. An Worte wie Dilettantismus und Phrasen wie Bretter, die die Welt bedeuten. Aber vor allem an seine gescheiterte Theaterlaufbahn, nicht grade erfreuliche Berufsaussichten.

Wobei das natürlich eine völlig andere Zeit war. Vielleicht wäre Wilhelm Meister als Schauspieler total durchgestartet und hätte das Theater nicht aufgeben müssen, wenn es 1795 schon professionelle Social-Media-Accounts gegeben hätte. Dann hätte er sich vielleicht @theaterismylife oder @stagelover auf Instagram genannt. Nein, @masterwilhelm. Das passt! Online hätte er sich bestimmt besser vermarkten können, mit Selfies und Geheimtipps, was @masterwilhelm zum Frühstück isst. Dann könnte ich seinen Account zumindest abonnieren und meine Zeit auf Instagram damit zur Arbeitszeit machen und endlich meine Bachelorarbeit schreiben.

Wobei es auch traurig wäre, wenn der Account wirklich einen Unterschied gemacht hätte. Wenn nicht die Qualität seiner Arbeit, sondern die Vermarktungsstrategien und Follower-Zahlen entscheidend für seinen Erfolg gewesen wären.

»Mila!«, hallt es leise aus dem Hausflur. Mama. Klopfen. Dann: »Schätzchen, das Abendessen ist in fünfzehn Minuten fertig.«

17:46 Uhr zeigt mein Handy. Montag, 5. Februar. Nicht mal mehr zwei Wochen bis zu den Semesterferien.

»Komme gleich!«, rufe ich zurück.

Zum Glück wollte sie nicht reingekommen. Dann hätte ich mir wieder einen Vortrag über Unordnung als Spiegel der Seele oder Marie Kondo anhören müssen.

Jetzt lohnt es sich auch nicht mehr, anzufangen. Ich lege Wilhelm Meister wieder auf seinen Platz und ziehe den Laptop auf meinen Schoß. Öffne WhatsApp Web: Nichts. Instagram: Nervt. Dann tippe ich Facebook in die Tastatur. Meine Pinnwand zeigt wie immer nichts Interessantes. Unter dem facebookblauen Balken wachsen die Pinnwand-Beiträge ins Unendliche: gesponserte Werbeanzeigen, irgendwelche Videos, deren Unterhaltungswert das Ablaufdatum überschritten hat. Und Beiträge von Menschen, die ich kaum noch kenne. Ein Buch der Gesichter, die nichts mehr erzählen. Auch das kurze Glücksgefühl von Rot auf Blau ist weg. Die Freundschaftsanfragen, Nachrichten und Benachrichtigungen halten nicht mehr, was sie versprechen.

Hendrik hat heute Geburtstag. Wer war das noch mal?

Robin, Martin und Lisa interessieren sich für eine Veranstaltung in der Griessmühle. Robin! Toll. Kann eh nicht hin. Und trotzdem bleibt mein Blick an der Pinnwand kleben, während mein rechter Zeigefinger den Cursor auf die Freundschaftsanfragen zieht. Ich scrolle die Liste aus unbekannten Männern herunter. Bis zu den Freundschaftsvorschlägen: Ole Berger, Jana Wagner, Karl Schilling, Marie Gramont.

Stoppe.

Marie Gramont. Schwarz glänzende Haarwellen, die sich um ein Püppchengesicht mit Hollywoodlächeln schmiegen, strahlend weiße Zähne, umrundet von knallrotem Lippenstift.

Schöne Frauen haben mich immer fasziniert. Auch wenn ich natürlich weiß, dass die meisten Bilder bearbeitet sind. Aber mein Blick bleibt trotzdem hängen. Reflex, oder so. Instagram-Logik. Deshalb gehe ich auch gern zum Zahnarzt. Für die ganzen hübschen Zeitschriften mit schönen Frauen, die ich mir nie selbst kaufen würde, weil ich nicht oberflächlich rüberkommen will, wie so eine, die nach Beautytipps auf Papier sucht, statt was Anständiges auf Papier zu lesen. Aber beim Zahnarzt hat man ein Alibi, Wartezeit, in der man schamlos in Frauenzeitschriften blättern kann, weil sie jemand anders für einen gekauft hat.

Marie Gramont sieht sehr schön aus. Schauspielerin. Französin, den Kommentaren nach zu urteilen. 643 Likes unter dem Profilbild, also scheinbar auch bekannter.

Je länger ich ihre Profilbilder durchklicke, umso dezenter wird die Schminke. Oder der Bildkontrast. Ein professionelles Bild folgt dem nächsten. Perfektes Make-up, Licht, Outfit. Paris, Paris, Paris.

Mein Zeigefinger stockt.

Marie Gramont im grün schimmernden Seidenkleid mit Spaghettiträgern auf einem roten Teppich, umringt von einer Gruppe von Leuten. Aber der Typ, der hinter ihr hervorragt, große Statur, athletisch, Anzug, das ist doch … das ist doch … ich spüre meinen Puls in der Schläfe pochen.

Das kann nicht sein!

Mein Zeigefinger macht weiter, klickt auf Download, speichert das Bild für mich auf dem Desktop. Zoomt rein. Lässt den Anzug immer größer und größer werden, bis ich keinen Zweifel mehr habe: Das ist Papa. Das ist mein Papa!

Was zur Hölle macht er da?

Durchatmen.

Vielleicht ist sie eine seiner Mandantinnen? Eine neurotische Schauspielerin, der man eine Rolle versprochen und sie dann last minute doch einer Schöneren gegeben hat? Was sie in eine tiefe Depression gestürzt hat, wofür sie ihre Agentur verklagt und so weiter?

Papa arbeitet in seiner Kanzlei ja öfter für Schauspielerinnen, auch französische, dann über das Büro in Paris. So muss es sein. Sie ist seine Mandantin.

Mein Zeigefinger bleibt misstrauisch. Öffnet meinen Google-Kalender.

Das Bild wurde ziemlich genau vor einem Jahr hochgeladen. Im Februar vor einem Jahr war ich mit Mama in London. Dabei wollten wir eigentlich zu Papa nach Paris. Aber die beiden hatten sich gestritten, worüber, weiß ich nicht mehr. Und dann haben wir stattdessen unseren Städtetrip nach London gemacht, mit Abstecher zu Oma Elly.

»Mila! Das Essen ist fast fertig!«

»Komme«, hauche ich. Dann lauter: »Komme!«

Ich klappe den Laptop zu, lege mein Kissen drauf und schäle mich aus den Decken. Wate über den Fußboden in den Hausflur zu ihrer Wohnung links.

Seit ich vor drei Jahren in meine eigene Wohnung auf der gleichen Etage gezogen bin, hat sich eigentlich nicht viel verändert. Essen gibt’s immer noch nebenan, genau wie früher.

Mama hat die Wohnungstür einen Spalt offen gelassen. Beim Betreten der Wohnung wird mir schlecht. In der Küche wirbelt sie an den Herdplatten, mal wieder völlig in ihrer eigenen Welt. Ihre hellblaue Schürze hat sie um ihre schlanke Taille gebunden und die hellblonden Haare locker mit einer silbernen Spange nach hinten gesteckt. Sie wechselt hektisch zwischen den Gewürzgefäßen, dreht abwechselnd ein paar Prisen über die brutzelnde Pfanne auf dem Herd. Die Küche ist ihr Territorium. Jedes noch so kleine Detail hat sie bestimmt. Den Platz der Salz- und Pfefferstreuer auf der langen Regalreihe rechts, deren Abstand zur Arbeitsfläche und dem Herd sie den Handwerkern millimetergenau angesagt hat, als diese vor drei Jahren die neue Küche eingebaut haben. Die Reihenfolge der Messer, die über dem Spülbecken an dem Magnetstreifen kleben. Das Teeservice aus Porzellan mit Goldrand, das auf der Tischecke links am Fenster steht. Direkt bei den Schnittblumen, die sie alle paar Tage wechselt.

Sie schaut zu mir herüber, hält einen Moment inne. Sagt: »Du bist ja schon im Pyjama.«

Mein pinker Lieblingspyjama, den mir Oma Hildegard mit sechzehn zu Weihnachten geschenkt hat. Ja. Wahrscheinlich war ich da schon zu alt für Pink. Egal. Zu Hause ist sowieso alles egal.

»Bist du nicht später noch verabredet?«, fragt Mama.

»Hm, doch«, antworte ich.

Die Mädels. Ich werde...

Erscheint lt. Verlag 20.8.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Kinder- / Jugendbuch Kinderbücher bis 11 Jahre
Schlagworte Adoleszenz • Anne Freytag • Berlin • Beziehung • Beziehungsprobleme • Bindungsprobleme • Coming-of-age • Debüt • Debütroman • Entwicklungsroman • Erwachsenwerden • Familie • Freundschaft • für Mädchen ab 16 • Identität • jugendbuch ab 16 • jugendroman ab 16 • Liebe • Missbrauch • Nora Hoch • Paris • Praktikum • Selbstfindung • Selbstwert • Selbstwertgefühl • Selbstzweifel • Studium • Zukunftsängste
ISBN-10 3-423-43973-4 / 3423439734
ISBN-13 978-3-423-43973-2 / 9783423439732
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