Der Chip (eBook)

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2021 | 1. Auflage
224 Seiten
cbt Jugendbücher (Verlag)
978-3-641-27371-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Chip -  Manfred Theisen
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Wenn eine Künstliche Intelligenz an der Schule jeden Schritt überwacht ...
Berlin, in naher Zukunft. Die 15-jährige Kim, Tochter einer alleinerziehenden niederländischen Diplomatin, besucht das umstrittene Elite-Internat Galileo. Kameras und implantierte Chips übermitteln die Hirntätigkeit und Körperdaten aller Schüler an eine KI namens Brain. Presse und Politiker, die der Schule aus humanitären und Datenschutzgründen kritisch gegenüberstanden, sind verstummt. Der Erfolg gibt der Betreiberfirma BrainVision Recht. Dank der eingreifenden und regulierenden Funktion von Brain hat Galileo ausnahmslos Musterschüler. Doch dann geschieht das Unfassbare: Ein Schüler verunglückt - und ein anderer Schüler trägt die Schuld daran. Kim beginnt, Brain und dessen Methoden zu hinterfragen und gerät bald in tödliche Gefahr ...

Manfred Theisen wurde 1962 in Köln geboren. Der Politologe forschte zwei Jahre für das deutsche Innenministerium in der Sowjetunion und arbeitete als leitender Redakteur einer Kölner Tageszeitung. Er hat im Nahen Osten und in Afrika recherchiert und dort für das Auswärtige Amt und für das Goethe-Institut gearbeitet. Seit 2000 ist er freier Autor und lebt mit seiner Familie in Köln. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und ausgezeichnet.

Dienstag, 8. Mai 2032


Sie lag in seinem Arm. Sein Herz schlug sanft wie das eines Walfischs. Alles war federleicht, sie waren zusammen, die Welt eine Oper aus rosafarbenem Licht. Kim schwebte mit Julian in diesem Traumschiff aus Wolken. Unter ihnen hockten Mitschüler auf gut abwaschbaren Stühlen im Big Rest – der Kantine der Galileo-Schule. Münder öffneten und schlossen sich wie Ladeluken. Es wurde gegessen, geredet, gelästert, zerkaut und gelogen. Einer der Roboter servierte Tuna einen grünen Salat mit weißen Bohnen, Cocktailtomaten und Heuschreckendressing. Letzteres wäre Kim zu nussig gewesen.

»Hör dir Tuna an, wie sie redet – jedes Wort ist vergiftet«, flüsterte Kim ihrem Freund ins Ohr.

»Sei nicht so streng mit deiner Freundin. Jeder am Galileo bemüht sich, besser zu werden. Sieh es als Gladiatorenschule. Nur wer besser werden will, ist gut. Und wirklich gut ist nur der Beste. It’s the struggle for life, Kim.« Sie hörte seine Stimme, sein Herz. Ihre Fingernägel waren rot lackiert. Ihre Zimmergenossin Henriette saß ebenfalls dort unten am Tisch, direkt neben Tuna. Sie hatte einen Bowl mit geröstetem Blumenkohl und Mangold, geröstetem Sesam und Cranberrys. Das Wasser lief Kim im Mund zusammen.

Oder war es Schweiß?

Schweiß im Mund?!

Kim hörte eine Stimme, die von ganz weit her an ihr Ohr drang. Nein, diese Stimme gehörte nicht in diesen Traum, sie war zu nervend.

»Go! Keep going! Don’t stop! Don’t dream!«

Kim hatte tatsächlich vor sich hin geträumt. In Wirklichkeit schwebte sie in keinem Wolkenschiff über dem Big Rest, lag nicht bei Julian im Arm, sondern sie ging die graue Linie entlang, die sie immer und immer wieder im Kreis herumführte. Der Blick auf die Watch sagte Kim, dass ihr Puls bei 102 lag und die Atmung erhöht war. Sie musste immer nur der Linie folgen, Runde um Runde wie der Zeiger auf dem Zifferblatt.

»Are you sleeping? Go!«

Ted gab das Tempo vor. Immer im Kreis gehen. Einmal, zweimal, dreimal, viermal … Dieses Gehen war so eintönig gewesen, dass ihre Gedanken abgeschweift waren.

»Don’t sleep! Go run! Start running!«, trieb Ted sie an.

Sie lief los wie ein Pferd in der Manege.

»Faaaaster!«

Er schwang einem Zirkusdirektor gleich mit seinen Worten die Peitsche: »Ruuuuun!«

Der Raum war wie ein Würfel, kahl und weiß und klimatisiert. Trotzdem schwitzte sie. Kameras hingen an den Wänden, den Decken und über den Fußbodenleisten, es war ein Raum voller Augen. Sie beobachteten Kim, das Mädchen mit dem leicht pausbackigen Gesicht und dem strohblonden Pferdeschwanz, das so gerne träumte. Kim lief schneller und schneller. Diese Kameraaugen registrierten jeden Punkt an ihrem Körper, jede Bewegung, die Knie, Po, Schultern, Bauch, Brust, Hüften – keine Regung entging diesen Augen, die niemals blinzelten, niemals schliefen, immer wach waren wie ein Raubtier, dessen Beute sich vor seiner Nase im Kreis bewegt.

»Hey, faster! Faaaster!«

Es wurde ihr zu schnell. Sie konnte fast nicht mehr, atmete hektisch. Sie war der Sekundenzeiger auf diesem Zifferblatt. Der befehlsgebende Ted saß hinter der verspiegelten Scheibe in einer Kammer vor dem Bildschirm und hatte sicherlich Kims Datei aufgerufen: Kim van Ter, 15 Jahre, 9. Klasse, 1,66 Meter, grüne Augen, BMI 19,2, 53 Kilogramm, Grundumsatz … in der Ruhephase … Kim wusste, dass ihre Körperdaten nicht optimal waren. Ein BMI von 17,1 war ihr Ziel. Sie sah sich selbst in der Scheibe, sah den weißen Raum, der sich darin dunkel spiegelte. Taille, keine Wespentaille. Nichts bewahrt uns mehr vor der Selbstüberschätzung als ein Blick in den Spiegel.

Ted wurde lauter: »Don’t let up, Kim!«

Nein, sie ließ nicht nach. Sie lief, als laufe sie um ihr Leben. Die KI Brain brauchte ihre Bewegungsabläufe, sowohl die langsamen als auch die schnellen. Brain brauchte Informationen. Früher hatte die KI jeden Schüler an seinen biometrischen Gesichtsdaten erkannt, aber das Tragen von Kappen, Mützen oder Masken konnte Brain ablenken. Die Bewegungsdaten eines jeden Menschen jedoch waren unverwechselbar. So wurden nun die Bodydaten gescannt, deshalb musste Kim im Kreis laufen.

Sicherheit und Selbstoptimierung waren die beiden wichtigsten Prinzipien am Galileo.

Kim stellte sich Teds Gesicht vor. Mitte dreißig, rötlicher Fusselbart, und schlampig sah er aus in seiner zerschlissenen Jeans und dem ausgeblichenen Metallica-T-Shirt. Er war der Leiter der Technik im Galileo. Eine Machtposition, die er auskostete. Denn das Scannen der Bodydaten hätte er auch von einem Assistenten machen lassen können, aber warum? Es machte ihm Spaß, sie zu dirigieren. Da war Kim sich sicher. Sie stellte sich vor, wie er hinter der Scheibe seine Cola Light trank. Sie selbst bekam davon stets einen faden Geschmack im Mund. Das miese Karma kam vom Zuckerersatz.

Sie lief in schwarzen Leggings, schwarzem langärmeligem und eng anliegendem T-Shirt. Genau so war es ihr vorgeschrieben worden. Sie hörte ihre Schritte und spürte ihre Brüste, die sich auf und ab bewegten. Es war ihr peinlich vor Ted, der sich womöglich hinter der Scheibe darüber amüsierte. 18.13 Uhr. Gleich würde sie Julian wiedersehen, mit ihm aufs Zimmer gehen, sie würden sich küssen und …

»Slow down, please!«, sagte Ted. Sein Amerikanisch war breit wie das von einem Texasranger, dabei kam er direkt aus dem BrainVision Headquarter in Silicon Valley, Califonia. Teds Nachname kannte Kim nicht. Die Leute von BrainVision wurden nur mit Vornamen angesprochen, ein Vorname ist anonymer als ein Nachname. Zu oft schon waren die Mitarbeiter des Konzerns hier in Berlin von Aktivisten privat belästigt worden. Das wollte die Firma vermeiden.

Erst jetzt, wo Kim langsamer wurde, spürte sie die Anstrengung. Sie hob ihr Stirnband an und wischte sich den Schweiß darunter weg. Ein weiterer Blick auf die Watch zeigte ihr den Puls. Er war zu hoch, genau wie der Blutdruck. Vielleicht irritierte der Schweiß die Datenübermittlung von der Haut auf das Stirnband. Kim hasste diese Ungenauigkeiten. Sie ersehnte den Chip, der ihr bald injiziert werden sollte.

»Stopp!«, hörte sie Teds Stimme. »Du bist fertig. Schick bitte den Nächsten rein. Es müsste Ben sein.«

»Okay«, sagte Kim in Richtung der verspiegelten Scheibe und drehte sich zur Tür. Sie erschrak, denn gerade als sie die Klinke hatte herunterdrücken wollen, senkte sich diese wie von Geisterhand, und die Tür ging auf.

»Buh!«, machte Ted und fand sich witzig.

Kim hatte ihn hinter der Scheibe und nicht hinter der Tür vermutet. Da stand er, sein Gesicht dicht vor ihrem. Milchige Augen, weder blau noch grün noch grau.

»Headset«, sagte er. »Ich kann von überall mit dir reden. Von überall. Headset. Klingt irgendwie rhythmisch. Headset.« Er kam sich extrem cool vor, wie er jetzt rhythmisch mehrmals das Wort »Headset« sagte und dazu mit den Fingern schnippte.

Hinter Ted betrat Ben den Raum, er trug ebenfalls schwarze Leggings, ein schwarzes T-Shirt und sah damit aus wie ein schmallippiger Balletttänzer. Wo war sein Stirnband? Vorgestern hatte Kim ihn noch im Chemielabor damit gesehen.

»Hab mich gestern chippen lassen. Ein Termin war frei geworden«, sagte er im Vorübergehen.

»Und?«, wollte Kim wissen.

»Wehgetan hat es bestimmt nicht«, mischte sich Ted ein. »Ein kurzer Piks in die Schläfe, schon ist das Leben leichter.«

»Ich weiß.«

»Warum fragst du ihn dann?« Ted starrte ihr dreist in die Augen. »Du träumst einfach zu viel. Das kannst du nachts machen, nicht hier bei mir. Oder willst du Daydreamer werden?« Er war belehrend wie ein alter Typ, der seinen Frust an jungen Mädchen auslässt. Vermutlich hatte er sich alles im Leben erarbeiten müssen und beneidete daher Kim und ihre Mitschüler, die einfach reiche Eltern hatten. Sonst wären sie wohl kaum auf dem Galileo.

»Träumen ist schlecht, wach sein ist gut. Das weißt du doch?«

Kim wich Teds fragendem, hartem Blick aus und landete bei einem goldenen Käfer, den er an einer feinen goldenen Kette um den Hals trug.

»Bald wirst du die Letzte mit einem Stirnband sein«, bemerkte Ben hämisch, bevor er hinter Ted in den Kubus marschierte. Irgendwie passten er und Ted gut zusammen. Kim kotzten solche fiesen Kerle an, vor allem jene, die sich dabei auch noch cool vorkamen.

Sie lief über den Flur. Der alte Google-Spruch Don’t be evil! prangte auf dem Sperrbildschirm ihres Handys. Julian hatte noch nicht geschrieben. Der Boden war grau und glatt, Kim dachte an den grauen Strich, auf dem sie eben im Kreis gelaufen war. Es war gut, dass Brain sie jetzt überall identifizieren konnte. Falls etwas schieflief, könnte ihr Brain sofort helfen. Und falls eine fremde Person das Schulgelände betreten sollte, würde sie sofort entdeckt. Sicherheit und Glück waren zwei Seiten einer Medaille. Rechts und links gingen knallrote Türen ab. Vielleicht hatte sich Kim deshalb eben rote Fingernägel geträumt. Denn sie durfte sich die Nägel nicht lackieren. Ihre Mutter hatte es verboten.

Hinter einer der Türen befand sich der Datenknoten von Brain. Die Daten vom Galileo wurden nach Kalifornien zur Zentrale an BrainVision übermittelt und hierher zurück zu Brain geschickt. Im Silicon Valley gab es noch eine weitere Schule mit Namen Galileo. Demnächst sollten zwei neue Galileos in Südkorea und eines in New York entstehen. Die...

Erscheint lt. Verlag 13.12.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte 1984 • ab 12 • ab 14 • Cybermobbing • Dystopie • eBooks • Gruppenzwang • Jugendbuch • Jugendbücher • Jugendthriller • Kinderkrimi • Künstliche Intelligenz • Massenüberwachung • mit Unterrichtsmaterial • Mobbing • Orwell • Rot oder Blau • Schullektüre • Sozialthriller • Young Adult • Zusatzmaterial
ISBN-10 3-641-27371-4 / 3641273714
ISBN-13 978-3-641-27371-2 / 9783641273712
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