Die Nachtbushelden (eBook)
288 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-174-6 (ISBN)
Onjali Q. Raúf ist Autorin, Journalistin und Gründerin der Menschenrechtsorganisation Making Herstory, die sich gegen Gewalt gegenüber Frauen auf der ganzen Welt einsetzt. Außerdem engagiert sie sich als ehrenamtliche Helferin für Flüchtlinge, wobei ihr die Idee zu ihrem Debütroman ?Der Junge aus der letzten Reihe? kam. Dieser eroberte binnen kürzester Zeit die britische Bestsellerliste und gewann gleich mehrere Preise, u. a. den Waterstones Children's Book Prize 2019 und den Blue Peter Book Award. Onjali Q. Raúf lebt in London.
Onjali Q. Raúf ist Autorin, Journalistin und Gründerin der Menschenrechtsorganisation Making Herstory, die sich gegen Gewalt gegenüber Frauen auf der ganzen Welt einsetzt. Außerdem engagiert sie sich als ehrenamtliche Helferin für Flüchtlinge, wobei ihr die Idee zu ihrem Debütroman ›Der Junge aus der letzten Reihe‹ kam. Dieser eroberte binnen kürzester Zeit die britische Bestsellerliste und gewann gleich mehrere Preise, u. a. den Waterstones Children's Book Prize 2019 und den Blue Peter Book Award. Onjali Q. Raúf lebt in London.
1
Zwei Schlangen in der Suppe
»HECTOOOOOOOOORRRRRRRGGGGGR! HÖR SOFORT AUF!«
Ich erstarrte, die Hand über dem großen Kessel mit der leuchtend roten Tomatensuppe ausgestreckt. Es war ein ganz gewöhnlicher Topf Suppe, außer dass jetzt eine lange, leuchtend grüne Gummischlange darin schwamm.
»HECTOOOOORRR! ICH WARNE DICH!«
Langsam drehte ich mich um und blickte über die Schulter. Alle Mensa-Tanten in ihren leuchtend blauen Uniformen starrten mich an – mit offenen Mündern, wie Türen, die jemand zu schließen vergessen hatte. Keiner in der Mensa rührte sich. Außer Mr Lancaster. Sein Mund war ebenfalls weit aufgerissen und wurde immer größer. Ich wusste, dass er kurz davor war zu explodieren, weil sein Gesicht so pink angelaufen war wie ein Pavianpopo und seine Nase zu zucken begann.
»Wag es ja nicht!«, zischte er mit einem bösen Blick auf die zweite Gummischlange, die ich in der Hand hielt.
Ich sah auf die zweite Schlange hinab. Sie war rot. Fast genauso rot wie die blöde Suppe, die Mrs Baxter gekocht hatte.
Mir war klar, dass ich zwei Möglichkeiten hatte. Entweder ich warf die zweite Schlange nicht rein. Für die grüne Schlange würde ich trotzdem bestraft werden, aber vielleicht kam es dann nicht ganz so schlimm.
Oder ich warf die Schlange rein. Das würde Mr Lancaster noch wütender machen, als er jetzt schon war, und Mrs Baxter richtig wütend. Aber das geschähe ihr gerade recht, weil sie die schlimmste Mensa-Tante war, die wir je gehabt hatten – ständig runzelte sie die Stirn, gab uns nur Miniportionen von den Sachen, die wir mochten, und schaufelte uns Riesenportionen von den Sachen, die wir nicht ausstehen konnten, auf die Teller. Es war höchste Zeit, dass ihr das jemand heimzahlte. Außerdem würde es Will und Katie, meine besten Freunde, zum Lachen bringen.
»ALSO? WAS IST?«, sagte Mr Lancaster.
Den Blick auf Mr Lancaster gerichtet, grinste ich und ließ das Gummitier los. Ein Keuchen ging durch die Mensa, als die zweite Schlange mit einem Klatschen neben der ersten landete. Tomatensuppe flog durch die Gegend. Ein Klecks spritzte mit einem PITSCH auf Mrs Baxters Kopf. Ein zweiter Batzen traf mit einem PLATSCH die Wange einer anderen Mensa-Tante. Ein dritter landete mit einem PATSCHOFF auf Mr Lancasters zuckender Nase und rann tropf, tropf, tropf zu Boden.
»NUN GUT, JUNGER MANN! DAS WAR’S DANN! KOMM MIT!«
So werde ich immer genannt, wenn die Leute richtig sauer werden – »junger Mann«. Als ob sie so wütend wären, dass sie sich nicht mehr an meinen Namen erinnern könnten. Eigentlich sagt keiner mehr ganz normal meinen Namen. Entweder heißt es »junger Mann«, oder sie brüllen »HECTOOOOOOOORRRR!«, mit einer Stimme, die mir sofort klarmacht, dass die Person sauer auf mich ist. Sogar Will und Katie nennen mich bloß »H«. Aber das macht mir nichts aus. Früher schon, aber jetzt nicht mehr. Die meisten Leute sind sowieso so blöd, dass es mir egal ist, was sie von mir halten. Sie sind wie diese nervigen kleinen Fliegen, die um einen rumschwirren, wenn man versucht, ein Eis zu essen. Das Schlimmste ist, dass die dümmsten, nervigsten Viecher des ganzen Landes offenbar alle auf meine Schule gehen.
Ich stellte mir gerade vor, wie es wohl wäre, Leute mit einer riesigen Fliegenklatsche wegzuwedeln, als Mr Lancaster mich aus der Mensa führte. Auf dem Weg zwinkerte ich Will und Katie zu – schließlich hatte ich unsere Wette gewonnen! Aber sie mussten so lachen, dass sie mich wahrscheinlich gar nicht sahen.
»SETZ DICH DAHIN UND HALT BLOSS DEN MUND!«, fuhr Mr Lancaster mich an und zeigte auf das Sofa in seinem Büro.
Mr Lancaster ist der Schulleiter, und manchmal frage ich mich, ob die vielen Urkunden an seiner Wand in Wirklichkeit Auszeichnungen dafür sind, dass er der dümmste und nervigste Lehrer im ganzen Land ist. Das Komische daran ist, dass er sich selbst für unheimlich schlau hält. Dauernd beobachtet er mich und wartet nur darauf, mich bei etwas zu erwischen, damit er vor der ganzen Schule »HECTOOOOORRRRR!« brüllen kann. Dabei schwellen jedes Mal die Adern an seinem Hals voll an. Außerdem lässt er immer seltsame Warnungen ab. Letzte Woche war es: »Noch EINMAL, und ich ziehe dich so schnell an den Ohren raus, dass dein Kopf sich dreht wie das Sonnensystem!«
Heute war es: »Du bist SO kurz davor, die Beine abgehackt zu bekommen, junger Mann! Und dann? Was bist du dann? Beinlos! Das bist du dann!«
Aber wenn Mr Lancaster mich oder meine Beine wirklich loswerden will, muss er sich schon mehr Mühe geben. Heute hatte er Glück; wahrscheinlich hat er mir ganz besonders nachspioniert. Aber die Hälfte von allem, was ich so anstelle, kriegt er gar nicht mit, weil ich seine blöden Fallen schon von Weitem entdecke. Wie damals, als er winzige Kameras, die aussahen wie glänzende schwarze Käfer, vor dem Jungsklo installiert hat. Er hatte gehofft, mich dabei zu erwischen, wie ich den kleineren Kindern Geld abknöpfe. Aber natürlich habe ich die Kameras sofort entdeckt. Jetzt winke ich ihnen täglich im Vorbeigehen zu, bevor ich den Leuten das Geld in der hintersten Schulhofecke abknöpfe.
Letztes Jahr hat Mr Lancaster dann die Klassensprecher zu Mensa-Aufpassern ernannt und ihnen riesige glänzende Abzeichen verliehen. Sie sollten mich davon abhalten, dass ich Leuten ein Bein stelle, während sie ihre Tabletts zum Tisch tragen. Aber stattdessen stellte ich einfach den Mensa-Aufpassern ein Bein, und am nächsten Tag gaben sie den Job alle wieder auf.
»HECTOOOOOORRRR! HÖRST DU MIR ZU?!« Mr Lancasters wütende Stimme unterbrach meine glücklichen Erinnerungen daran, wie ich Katie Lang ein Bein gestellt hatte und dabei zusehen konnte, wie sie kopfüber durch die Mensa stolperte, während ihre Schüssel mit Chili die Hälfte der Zweitklässler vollspritzte. »KOMM BLOSS NICHT AUF DIE IDEE, HEUTE DAS NACHSITZEN ZU SCHWÄNZEN!«
Bevor Mr Lancaster weitersprechen konnte, läutete die Schulglocke, als hätte auch sie genug von ihm. Ich versuchte mir das Grinsen zu verkneifen, während ich nickte und mich langsam – ganz, ganz langsam – auf den Weg zurück ins Klassenzimmer machte. Als ich dort ankam, saßen schon alle und packten ihre Hefte aus.
»Hectorrrr!« Mrs Vergara seufzte, holte das Klassenbuch wieder hervor und schüttelte den Kopf. »Warum musst du IMMER zu spät kommen?«
Ich zuckte die Achseln und ließ mich auf meinen Platz neben Rajesh fallen. Mrs Vergara schüttelt immer den Kopf über mich.
»Okay, okay. Ruhe jetzt«, sagte sie und ging mit einem leuchtend grünen Stift zum Whiteboard. »Nachdem nun endlich alle da sind, wollen wir die Ereignisse wiederholen, die zum Großen Brand von London geführt haben.«
Mir fiel ein, dass mein Heft in der Schublade vorne im Klassenzimmer lag, und ich stöhnte leise. Aber eigentlich war es mir egal. Ich sah zu, wie Mrs Vergaras Stift große schwungvolle Buchstaben auf die Tafel malte und dabei eine glänzend grüne Spur hinterließ wie eine Schnecke.
»Psssssst! Rajesh!«, flüsterte eine Stimme vom Tisch vor uns, an dem Mei-Li und Robert saßen. Ein kleines zusammengefaltetes Stück Papier landete neben meinem Ellbogen.
Bevor Rajesh danach greifen konnte, nahm ich die Nachricht und faltete sie auf. Es war eine witzige Zeichnung von Mrs Vergara, aus deren Hintern Flammen schlugen, als ob sich ihre Fürze entzündet hätten. Darüber stand: »Was den Großen Brand von London wirklich verursacht hat.« Beeindruckt sah ich zu Robert hinüber. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Schleimer wie er sich trauen würde, etwas so Witziges über eine Lehrerin zu zeichnen. Normalerweise waren alle Nachrichten, die er an Rajesh weitergab, Rechenaufgaben oder so was wie: »Wir treffen uns in der Chemieabteilung der Bücherei.« Aber dann bemerkte ich Karina, die mich nervös über Roberts Schulter hinweg ansah. Es war offensichtlich ihre Zeichnung, die er weitergegeben hatte.
»Hectorrrrrrrrrrrrr. Du bist ja anscheinend schwer beschäftigt.«
Schnell zerknüllte ich den Zettel. Aber es war zu spät. Mrs Vergara stand bereits vor mir.
»Gib mir das. Sofort«, sagte sie sanft mit schräg gelegtem Kopf.
Ich warf Rajesh einen Blick zu. Seine Augen traten so weit vor, als würden sie gleich durchs Zimmer fliegen. Dann sah ich zu Mei-Li und dem blöden Robert rüber. Mei-Li funkelte Robert an, und Robert saß ganz gerade und blickte zur Decke hinauf, als hätte er die Nachricht noch nie zuvor gesehen. Genauso machte es Karina. Mit einem Stirnrunzeln gab ich Mrs Vergara die Zeichnung.
Ich wusste genau, was als Nächstes passieren würde, denn leider ist Mr Lancaster nicht der einzige rekordverdächtige Spaßverderber an meiner Schule. Mrs Vergara ist...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2021 |
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Illustrationen | Pippa Curnick |
Übersetzer | Katharina Diestelmeier |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Abenteuer • England • Freundschaft • London • Mobbing • Nachtbus • Obdachlose • Obdachlosigkeit • Suppenküche • Toleranz |
ISBN-10 | 3-03792-174-9 / 3037921749 |
ISBN-13 | 978-3-03792-174-6 / 9783037921746 |
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