Dinge, die so nicht bleiben können (eBook)
224 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27027-5 (ISBN)
Wer sind wir? Und wie wollen wir von anderen wahrgenommen werden? Mit seinem besten Freund Tolly besucht Sebastian den Tag der offenen Tür an der Uni. Dort begegnet er Frida. Frida ist schräg, frech und äußerst schlagfertig. Scheinbar mühelos schwindelt sie die abenteuerlichsten Geschichten zusammen. Doch so unterhaltsam das auch zunächst ist, wenn es um ihre Person geht, verstrickt sich Frida immer wieder in Ungereimtheiten. Sebastian fällt es zunehmend schwer, Wahres von Erfundenem zu unterscheiden. Trotzdem ist er beeindruckt von Frida, vielleicht sogar mehr als das. Wer ist sie wirklich? Und wie nah kann er ihr an einem einzigen Tag kommen? Aber vor allem: Was ist er bereit, dafür von sich preiszugeben?
Michael Gerard Bauer, geboren 1955, lebt mit seiner Familie in Brisbane. Sein Debüt Running Man (2007) wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und mit dem Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2008 ausgezeichnet. Bei Hanser erschien außerdem 2008 Nennt mich nicht Ismael!, 2009 Ismael und der Auftritt der Seekühe und schließlich 2012 Ismael - Bereit sein ist alles. Ebenfalls 2012 erschien Mein Hund Mister Matti. 2015 folgte die 3-bändige Reihe um Rupert Rau in der Reihe Hanser bei dtv. Und zuletzt 2018 das Jugendbuch Die Nervensäge, meine Mutter, Sir Tiffy, der Nerd & Ich. 2021 folgt sein Jugendbuch Dinge, die so nicht bleiben können.
2.
Das perfekte weibliche Wesen
Ja, offensichtlich mache ich mir etwas vor. Das ist die einzige plausible Erklärung.
Aber (und das ist die entscheidende Frage): Handelt es sich wirklich um eine totale, komplette und absolute Selbsttäuschung? Oder gibt es einen schmalen Silberstreifen Hoffnung am Horizont, dass das Szenario »Stinknormaler Typ schleppt supersüßes Mädchen ab« Wirklichkeit werden könnte?
Hier hilft nur eines: Alles, was an diesem Vormittag passiert ist, noch einmal genau durchgehen und nach Anzeichen für den trügerischen Silberstreifen abchecken. Dann schauen wir mal. Zuletzt bei Aus dem Leben eines stinknormalen Typen …:
Es ist Tag der offenen Tür an der Landesuniversität, und wie unzählige andere Elft- und Zwölftklässler sind auch unser stinknormaler Typ (ja, da bin ich wieder) und sein bester Freund Tolly in den Frühlingsferien hierhergekommen, um herauszufinden, wie ihre zukünftigen Kurse und Karrieren aussehen könnten.
Schon bald nach ihrer Ankunft trennten sich der stinknormale Typ und sein Freund. Während sich sein bestens vorbereiteter und informierter Kollege zu drei verschiedenen Vorträgen aufmacht, die bei den Naturwissenschaftlern und Medizinern angeboten werden, streift unser stinknormaler Typ durch die herumschlendernden Gruppen von Schülern, Eltern und freiwilligen Helfern im Hauptgebäude und macht sich dann mit der halbherzigen Absicht, betriebs- und wirtschaftswissenschaftliche Präsentationen anzuschauen und eine Vorlesung über Stadtplanung zu hören, auf den Weg zum Gebäude der Wirtschaftswissenschaftler.
Frag ihn bloß nicht, warum er das tut. Er hatte eigentlich nie den brennenden Ehrgeiz, eine Stadt zu planen. Tatsächlich ist es eine Weile her, seit er überhaupt einen brennenden Ehrgeiz verspürte, irgendetwas zu tun. Aber seine Eltern freuen sich über seinen Plan, und er schätzt, dass es immer Städte geben wird. Das ist doch immerhin was, oder?
Nachdem sich unser stinknormaler Typ ungefähr eine Stunde lang eine nicht besonders anregende Präsentation angeschaut hat, betritt er den Hörsaal, wo die Vorlesung über Stadtplanung stattfinden soll. Er sucht sich einen Platz und vertreibt sich die Zeit damit, die vielen Dutzend Broschüren zu lesen, die ihm begeisterte Helfer auf dem Weg in die Hand gedrückt haben. Der Hörsaal ist ziemlich voll, aber zu seiner Rechten ist immer noch ein Platz frei beziehungsweise war frei, bis sich jemand an einer Reihe von vorstehenden Knien vorbeigedrückt hat und fragt: »Sitzt hier jemand?«
Der stinknormale Typ schaut auf. Und sieht ein Mädchen. Sie hat hellbraune, mittellange Haare, die ihr direkt oberhalb ihrer blauen, mandelförmigen Augen als Pony in die Stirn fallen. Sie trägt weiße Shorts und einen blauen Pullover mit den Worten NEW YORK auf der Vorderseite. Um Zeit zu sparen, lasst uns einfach sagen, dass sie perfekt ist. Denn das ist sie. Sie ist ein PWW. Ein perfektes weibliches Wesen.
Der stinknormale Typ lässt sie wissen, dass der Platz frei ist. Er bemüht sich an dieser Stelle, richtige Wörter hervorzubringen, schafft es aber nicht, mit seinem Mund mehr als ein paar grunzende, murmelnde Geräusche zu fabrizieren und seinen Kopf auf und ab zu bewegen wie ein geistesgestörter Wackeldackel. Er erwartet natürlich nicht, noch mehr mit seiner Banknachbarin zu kommunizieren, denn sie ist, wie ich bereits ausgeführt habe, ein perfektes weibliches Wesen, und zwischen perfekten weiblichen Wesen und stinknormalen Typen findet keine ausgedehnte Kommunikation statt. Das gehört zu den großen universellen Wahrheiten. Ein bisschen wie die Schwerkraft und das Gesetz von der Erhaltung der Energie.
Sie setzt sich. Der stinknormale Typ stellt sicher, dass er das PWW neben sich nicht anstarrt, aber er spürt natürlich das Prickeln ihrer elektrisierenden Gegenwart. Aus dem Augenwinkel sieht er, wie sie einen Notizblock und einen Kuli herauszieht und etwas oben auf die Seite schreibt. Eine Sekunde später hört er sie seufzen, und dann sagt sie etwas zu ihm. Zu ihm! Zu einem stinknormalen Typen!
»’tschuldigung, aber du kannst mir nicht zufällig einen Kuli leihen? Meiner hat gerade den Geist aufgegeben.«
Er kann sein Glück nicht fassen. Danke, Herr der Kulis, sagt er zu sich selbst.
Laut sagt er: »Klar. Kein Problem.« Er greift in seinen Rucksack und zieht ein prall gefülltes Mäppchen heraus. Nachdem er den Reißverschluss geöffnet hat, hält er es ihr hin wie die Opfergabe für eine Göttin. Ziemlich genau das ist es schließlich auch.
»Such dir einen aus.«
Sie kichert in sich hinein. Perfekt.
»Wow. Bist du sicher, dass du auch genügend mitgebracht hast?«
Der stinknormale Typ erkennt sofort, wie albern und idiotisch er ihr vorkommen muss. Wer besitzt im digitalen Zeitalter eine Sammlung von verschiedenen Stiften? Wer hat überhaupt noch ein Mäppchen? Und vor allem eines, das noch aus Grundschulzeiten stammt? Natürlich will er seine Verlegenheit durch einen Scherz oder eine witzige Bemerkung überspielen, aber das würde ja bedeuten, dass er sich einen Scherz oder eine witzige Bemerkung einfallen lassen müsste, was unter dem Druck, sich in nächster Nähe zu einem PWW zu befinden, völlig unmöglich ist.
Also kichert er stattdessen selbst. Idiotisch.
Sie sucht sich einen Kuli aus, und daraufhin entspinnt sich folgender tiefschürfender Dialog:
»Danke. Ich geb ihn dir gleich nach der Vorlesung zurück.«
»Schon okay, behalt ihn.«
»Nein, alles gut. Du bekommst ihn zurück.«
»Eigentlich brauche ich ihn nicht. Ich hab genügend.«
»Bist du sicher? Scheint ein guter Stift zu sein.«
»Nö. Ist einfach nur ein Kuli. Ich hab haufenweise andere. Und du brauchst ja auch noch für den Rest des Tages einen.«
»Ich kann mir bestimmt irgendwo einen kaufen.«
»Nicht nötig. Es ist okay. Kein Problem. Behalt ihn.«
»Na ja, wenn du sicher bist …«
»Bin ich. Echt.«
»Okay. Danke. Aber wenn du’s dir anders überlegst …«
»Tu ich nicht. Es ist okay. Er gehört dir.«
»Danke.«
Und das war’s.
Die Wahrheit ist: Der stinknormale Typ hätte ihr einen ganzen Schreibwarenladen angeboten, wenn er einen dabeigehabt hätte. Er schaut ihr zu, wie sie die Seite oben mit dem Datum versieht. Sie hat eine saubere, gleichmäßige, runde Schrift. Ein perfektes weibliches Wesen schreibt mit einem seiner Kulis. Was für ein Leben!
Der stinknormale Typ widmet sich wieder der Durchsicht seiner Broschüren. Sie machen Werbung für verschiedene universitäre Clubs und Organisationen, aber nur die Broschüre vom Uni-Kino, »The Hub«, erregt seine Aufmerksamkeit. Es laufen ein paar aktuelle Mainstream-Filme, aber am Tag der offenen Tür zeigt der Uni-Filmclub auch Klassiker und kurze Stummfilme. Unter den Klassikern sind Die Faust im Nacken mit Marlon Brando und Casablanca mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergman.
Das springt dem stinknormalen Typ gleich ins Auge, denn der Vater seines Freundes Tolly ist ein großer Cineast, der schon mehrfach behauptet hatte, besser als Casablanca könne ein Film gar nicht sein. Und nicht nur das. Als der Vater seines Freundes herausfand, dass keiner von ihnen von Die Faust im Nacken auch nur gehört hatte, bekam er fast einen Herzinfarkt. »Was? Ihr kennt Die Faust im Nacken nicht? Na, dann habt ihr nicht gelebt, Jungs! Die Taxiszene? Steiger und Brando? Die beste Szene der ganzen Filmgeschichte. ›Du verstehst nicht! Ich hätte Klasse haben können! Ich hätte um den Titel kämpfen können!‹«
Der stinknormale Typ mag Tollys Vater wirklich sehr (einer der Gründe, warum er in diesem Schuljahr den Kurs »Film und Fernsehen« belegt hat), aber für seine geistige Zurechnungsfähigkeit kann er sich nicht wirklich verbürgen. Jedenfalls befindet er sich immer noch in seiner kleinen Welt und denkt über all das nach, als …
»Ohhhh, läuft das heute?«
Das PWW schaut herüber und zeigt auf die Casablanca-Anzeige. Ihr Finger berührt die Broschüre, die er in der Hand hält. Also berührt sie indirekt ihn. Und sie spricht mit ihm. Schon wieder. Ein PWW spricht mit einem stinknormalen Typ, obwohl sie eigentlich gar nicht unbedingt muss. Sie sucht keinen Platz. Sie braucht keinen Kuli. Sie redet einfach davon, dass sie einen Film sehen will. Sie redet mit ihm. Das gab es noch nie. Genau diese Szene würde sich der stinknormale Typ eigens auf den Leib schreiben, wenn er die Hauptrolle in seiner eigenen romantischen Wohlfühlkomödie spielen...
Erscheint lt. Verlag | 15.2.2021 |
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Übersetzer | Ute Mihr |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Things That Will Not Stand |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Ausgezeichnet • Ausgrenzung • Beruf • Berufsorientierung • beste Freunde • bestes Jugendbuch • Bestseller • Bestsellerautor • Coming of Age • Ehrlichkeit • empfehlenswertes Jugendbuch • Empfehlung • Empfehlung Jugendbuch • freie Meinungsäußerung • Freundschaft • Heilung • Identität • Ismael • John Green • Jugendbuch • Jugendfreunde • Kino • Lesetipp • Liebe • Liebesgeschichte • Margos Spuren • Missbrauch • Mobbing • Offenheit • Orientierung • Preise • PRIME MINISTER’S LITERARY AWARDS 2019 • Schlagabtausch • Schullektüre • schwere Kindheit • Theater • Toleranz • Trauma • Universität • Verlust • Vision • Vorurteile • was jeder lesen sollte • Zivilcourage • Zukunft |
ISBN-10 | 3-446-27027-2 / 3446270272 |
ISBN-13 | 978-3-446-27027-5 / 9783446270275 |
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