Dunkles Gold (eBook)
336 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-75799-9 (ISBN)
Mirjam Pressler (1940 - 2019) lebte bis zu ihrem Tod in Landshut. Sie gehört zu den bekanntesten Kinder- und Jugendbuchautoren und hat mehr als 30 eigene Kinder- und Jugendbücher verfasst, darunter »Bitterschokolade« (Oldenburger Jugendbuchpreis), »Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen« (Deutschen Jugendliteraturpreis), »Malka Mai« (Deutscher Bücherpreis) »Nathan und seine Kinder«,»Ich bin's Kitty. Aus dem Leben einer Katze« und zuletzt »Dunkles Gold« sowie die Lebensgeschichte der Anne Frank »Ich sehne mich so«. Außerdem übersetze sie viele Bücher aus dem Niederländischen, Englischen und Hebräischen. Für ihre »Verdienste an der deutschen Sprache« wurde sie 2001 mit der Carl-Zuckmayer-Medaille ausgezeichnet, für ihr Gesamtwerk als Übersetzerin mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises und für ihr Gesamtwerk als Autorin und Übersetzerin 2004 mit dem Deutschen Bücherpreis, der Corine und der Buber-Rosenzweig-Medaille sowie mit dem Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung.
1 Der Schatz
Ich war so naiv gewesen. Obwohl mir »naiv« damals als letztes Adjektiv eingefallen wäre, um mich zu beschreiben, ich hielt mich eher für misstrauisch und skeptisch, auf jeden Fall für klug genug, Zusammenhänge zu verstehen und einzuordnen. Trotzdem war etwas geschehen, was ich nicht verstand.
Wenn man von früheren Ereignissen erzählt, erkennt man plötzlich Dinge, die man vorher nicht gesehen hat, findet manches wichtig, was man nur nebenbei wahrgenommen hat, oder man stellt fest, dass man sich grundlos aufgeregt oder geärgert hat, Überflüssiges gedacht und getan hat, und dass manches, was einem schrecklich vorkam, im Grunde nur banal war. Oder umgekehrt. Denn in dem Moment, in dem man eine Situation erlebt, ist es unmöglich zu wissen, ob sie später irgendeine besondere Bedeutung haben wird oder nicht.
So geht es mir heute, wenn ich an die vielen Streitereien mit meiner Mutter denke, übers Aufräumen, nicht erledigte Aufträge, nicht eingehaltene Versprechungen. Es ist nicht so, dass ich mich jetzt nicht mehr über sie ärgere, aber manchmal denke ich, was soll’s, in einem Jahr sieht alles anders aus. Und ich glaube, meine Mutter empfindet es mir gegenüber ganz ähnlich. Wenn wir uns heute streiten, habe ich oft das Gefühl, als würden wir aus lauter Gewohnheit ein altes Spiel weiterführen, ein Spiel, über das wir manchmal sogar lachen können. Und wir können miteinander sprechen. Das ist erstaunlich, denn ich habe früher sehr wenig gesprochen. »Verschlossen wie eine Auster«, hat meine Mutter oft geklagt, »die Schalen schön fest geschlossen halten. Es könnte ja jemand auf die Idee kommen, sie aufzubrechen, um nach einer Perle zu suchen.«
Man weiß auch nicht wirklich, an welcher Stelle der Geschichte man mit dem Erzählen anfangen soll, was nichts mehr mit ihr zu tun hat oder bereits dazugehört. Ich habe beschlossen, mit meiner fixen Idee anzufangen, auch wenn ich nicht sagen kann, wann genau sie entstanden ist.
»Wie bist du eigentlich auf diese Idee gekommen?«, hat Alexej mich gefragt, als ich ihm zum ersten Mal einige zusammengeheftete Blätter überreicht habe. Ich habe nur mit den Schultern gezuckt. »Keine Ahnung. Manche Ideen sind plötzlich da, ohne dass man vorher darüber nachgedacht hat, es ist, als wären sie vom Himmel gefallen.«
Doch eigentlich glaube ich das nicht. Vermutlich schleichen sich Ideen heimlich ein, sind anfangs nur flüchtige Gedankenfetzen, die aufblitzen und sofort wieder verschwinden, weil sie von anderen Überlegungen verdrängt werden oder sich in ihnen auflösen. Trotzdem bleiben sie in irgendwelchen Winkeln des Gehirns hängen und warten auf eine günstige Gelegenheit, um wieder aufzutauchen.
Vielleicht hatte sich der Anfang zu meiner Idee bereits in meinen Gedanken festgesetzt, als es in der Schule mal wieder um den Schatz ging und Frau Küppers sagte, wir sollten uns doch mal vorstellen, wie vierzehn-, fünfzehnjährige jüdische Kinder in der Mitte des 14. Jahrhunderts in Erfurt wohl gelebt haben, und sofort hatte sie hinzugefügt: »Laura, du könntest doch mal ein Referat über dieses Thema halten, deine Mutter weiß bestimmt viel darüber.«
Ich spürte, wie Ärger in mir aufstieg, ich ballte die Fäuste und schüttelte heftig den Kopf. Nicht schon wieder! Ich hatte keine Lust, ein Referat über irgendetwas zu halten, was mit dem Schatz oder dem jüdischen Leben in Erfurt zu tun hatte, mir gingen die Gespräche darüber, die mich so ungefähr seit meiner Geburt verfolgten, auf die Nerven. Der Schatz war das ewige Thema meiner Mutter, und ich hatte nicht die geringste Lust, es von mir aus anzuschneiden. Im Gegenteil, ich setzte meine ganze Geschicklichkeit ein, ihm auszuweichen.
Den nächsten Anstoß für meine Idee bekam ich ein paar Wochen später, als ich meine Mutter aus irgendeinem Grund, den ich vergessen habe, fragte, ob es eigentlich heute noch Juden in Erfurt gäbe. An ihre Antwort erinnere ich mich ganz genau.
»Nicht noch, sondern wieder«, sagte sie.
»Kennst du welche?«
Sie nickte. »Du auch. Erinnerst du dich an den alten Mann von der Weinhandlung in der Rumpelgasse?«
»Klar«, sagte ich, »der mit dem witzigen Schild im Schaufenster, über das wir immer gelacht haben: Im Weinhaus hier, da gibt’s auch Bier.«
»Ja«, sagte meine Mutter, »ja, der Spruch war irgendwie rührend. Herr Bamberger, der Inhaber, war Jude. Ich nehme an, dass er inzwischen gestorben ist, die Weinhandlung gibt es jedenfalls seit über zwei Jahren nicht mehr, jetzt ist dort ein Laden für Modeschmuck. Und was Juden betrifft: Bei uns im Institut haben wir eine jüdische Assistentin, und im Klinikum arbeiten, soviel ich weiß, zwei jüdische Ärzte. Es gibt in Erfurt sogar eine jüdische Gemeinde, allerdings hauptsächlich wegen der vielen Einwanderer aus Russland, denn die Juden, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Erfurt gekommen sind, sterben langsam aus. Übrigens, du müsstest auch einen jüdischen Jungen bei dir in der Schule kennen, den Sohn eines Professors an der Uni, Tschernowitzer heißt er.«
Ich schaute sie verblüfft an. »Alexej Tschernowitzer? Er geht in meine Parallelklasse, aber ich habe nicht gewusst, dass er Jude ist. Ich habe immer nur gehört, dass er aus Russland stammt, alle nennen ihn ›den Russen‹.«
Meine Mutter nickte. »Stimmt, Professor Tschernowitzer ist aus Russland gekommen und lehrt Slawistik, irgendjemand hat mir mal gesagt, er sei Jude. Seine Frau ist ebenfalls Dozentin, in Jena, Pharmazeutin mit Schwerpunkt mittelalterliche Heilpflanzen, glaube ich. Ich habe ihn ein paarmal getroffen, seine Frau allerdings noch nicht.«
Der Russe war also ein Jude, zumindest dachte das meine Mutter und im Allgemeinen hatte sie recht. Ich fand das spannend, für mich waren Juden bis dahin nur mit historischen Ereignissen wie zum Beispiel dem Schatz oder mit dem Holocaust verbunden gewesen, und natürlich mit Israel, das in den Nachrichten oft »der Judenstaat« genannt wird. Abfällige Bemerkungen über Juden fielen mir ein, sie wurden als »grausame Aggressoren« bezeichnet, wenn an der Grenze zu Gaza israelische Soldaten arabische Zivilisten erschossen oder wenn im Westjordanland neue jüdische Siedlungen gebaut wurden. Und natürlich hatte ich auch von dem wachsenden Antisemitismus in Deutschland gehört. »Du Jude« galt unter Schülern ebenso als Schimpfwort wie »du Loser« oder »du Opfer«.
Wussten die anderen überhaupt, dass »der Russe« eigentlich ein Jude war?
Meine Neugier war geweckt, ich fing an, diesen Alexej Tschernowitzer in den Pausen zu beobachten. Er hatte offenbar nicht viele Freunde, er lief selten mit anderen Jungen herum, sondern stand meist irgendwo am Rand des Schulhofs und spielte mit seinem Handy, ein ziemlich großer, schlaksiger Junge, der erstaunlich gut aussah, was sogar mir auffiel, obwohl ich mich überhaupt nicht für Jungs interessierte. Ein Aufreißertyp, hätte man meinen können, aber dafür zog er sich zu unauffällig an, Jeans und einfache dunkle T-Shirts, er hatte auch keine Tattoos oder Piercings, zumindest keine sichtbaren. Und seine Haare waren einfach nur ziemlich lang und lockig, ohne ausrasierte Streifen oder Ecken.
»Kennst du ›den Russen‹?«, fragte ich Vanessa, von der ich annahm, dass sie alle Jungs der Schule kannte. Sie lachte und sagte: »Nicht besser als du. Schade eigentlich, der wäre wirklich ein Sahnestückchen. Aber er scheint sich nicht für Mädchen zu interessieren, jedenfalls habe ich ihn noch nie mit einer gesehen. Vielleicht ist er ja schwul. Die hübschesten Jungen sind immer schwul, sagt meine Schwester, und die muss es ja wissen, ihr bester Freund ist schwul.«
Vanessas Verdacht kam mir plausibel vor, auch wenn es mir egal war, ob der Russe schwul war oder nicht. Jedenfalls stand er in den Pausen meist allein unter der Kastanie am Zaun und starrte auf sein Handy, nur manchmal spielte er mit ein paar anderen Jungs Basketball. Ein paar Tage lang nahm ich Anlauf, um ihn anzusprechen, gab das Vorhaben aber jedes Mal wieder auf und ging zurück. Wie spricht man einen Jungen an, mit dem man noch nie ein Wort geredet hat? Hey du, ich möchte dich gern ein bisschen ausfragen? Das wäre zwar die Wahrheit, klang aber absolut bescheuert. Oder sollte ich sagen: Hey du, ich möchte dich gern kennenlernen? Das klang erst recht blöd. Außerdem hätte er es für simple Anmache halten können und das wäre mir noch peinlicher gewesen. Deshalb ließ ich es lieber bleiben.
Der wichtigste Schritt, der zur Geburt meiner Idee führte, geschah aber, als ich der verschwommenen, eher nebelhaften Gestalt in meinem Kopf einen Namen gab. Denn um wirklich an...
Erscheint lt. Verlag | 13.3.2019 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-407-75799-9 / 3407757999 |
ISBN-13 | 978-3-407-75799-9 / 9783407757999 |
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