Das Mädchen im blauen Mantel (eBook)
Amsterdam ist von den Nazis besetzt. Hanneke trauert dort um ihren Freund, der an der Front gefallen ist. Als kleinen Akt der Rebellion gegen die Deutschen beschafft sie Schwarzmarktgüter. So hält sie sich und ihre Eltern über Wasser. Doch eines Tages erhält sie einen sehr ungewöhnlichen Auftrag: Sie soll ein jüdisches Mädchen finden, das aus einem Geheimversteck verschwunden ist. Auf der Suche nach diesem Mädchen gerät Hanneke in ein Netz aus Lügen, Rätseln und Geheimnissen.
Die vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin Monica Hesse stammt aus Illinois und ist außerdem Journalistin bei der Washington Post. Sie lebt mit ihrem Mann und einem verrückten Hund in Washington. »Das Mädchen im blauen Mantel«, ihr erster Roman, der auf Deutsch erschien, stand auf der New-York-Times-Bestsellerliste und erhielt zahlreiche Preise, darunter den renommierten Edgar Award in der Kategorie »Junge Erwachsene«, und wurde von der Jugendjury für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2019 nominiert.
KAPITEL 1
Dienstag
»Hallo, Kleine. Was hast du da? Ist das für mich?«
Ich halte an, weil der Soldat ein junges, hübsches Gesicht hat und weil in seiner Stimme ein Zwinkern mitschwingt und weil er mich garantiert zum Lachen brächte, würden wir nachmittags im Kino sitzen.
Das ist gelogen.
Ich halte an, weil der Soldat ein nützlicher Kontakt sein könnte, weil er vielleicht Dinge beschaffen kann, die nicht mehr zu kriegen sind, weil er garantiert haufenweise köstliche Schokoladentafeln und Strümpfe ohne Laufmaschen zu Hause hat.
Auch das ist nicht die Wahrheit.
Aber manchmal ist mir die Wahrheit egal, weil ich mir dann leichter einbilden kann, ich würde aus Vernunftgründen entscheiden. Weil ich mir dann leichter einbilden kann, ich hätte die Freiheit, zu entscheiden.
Ich halte an, weil der Soldat eine grüne Uniform trägt. Nur deshalb halte ich an. Weil seine Uniform grün ist, und weil das bedeutet, dass ich gar keine andere Wahl habe.
»Das sind viele Päckchen für so ein hübsches Mädchen.«
Er spricht mit leichtem Akzent, aber ich bin überrascht, wie gut sein Niederländisch ist. Viele von der Grünen Polizei sprechen überhaupt kein Niederländisch und ärgern sich, wenn wir kein Deutsch verstehen. Als hätten wir nichts Besseres zu tun gehabt, als uns unser ganzes Leben lang auf den Tag vorzubereiten, an dem sie unser Land besetzen würden.
Ich halte an, steige aber nicht vom Rad. »Die Anzahl der Päckchen stimmt genau.«
»Was hast du da drin?« Er beugt sich über die Lenkstange und wühlt seelenruhig in dem Korb, der daran befestigt ist.
»Sie wollen sie sehen? Sie wollen alle Päckchen aufmachen?«
Ich kichere und schlage meine Augen nieder, damit er nicht sieht, wie viel Routine in meiner Entgegnung steckt. Mein Kleid ist über die Knie gerutscht. Der Soldat bemerkt es. Das Kleid ist marineblau und sitzt viel zu eng und der Saum ist ausgefranst, es ist uralt, aus der Zeit vor dem Krieg. Ich verlagere ein wenig das Gewicht, der Saum rutscht noch höher, bis halb über meine Schenkel, die von einer Gänsehaut überzogen sind.
Die Begegnung wäre mir unangenehmer, wenn er älter wäre, wenn er Falten hätte oder schlechte Zähne oder einen Hängebauch. Es wäre unangenehmer, aber ich würde ebenso mit ihm flirten. Ich habe das schon unzählige Male gemacht.
Er beugt sich weiter vor. Hinter ihm liegt die trübe, nach Fisch stinkende Herrengracht. Ich könnte ihn in den Kanal stoßen und auf meinem klapperigen Gebrauchtfahrrad davonfahren und wäre schon halb zu Hause, bevor er wieder herausgekraxelt wäre. Ich mache ein Spiel daraus, mir so etwas auszumalen, wenn ich von einem Grünen Polizisten angehalten werde. Wie kann ich dich bestrafen, und wie weit komme ich, bevor du mich kriegst?
»Das hier ist ein Buch für meine Mutter.« Ich zeige auf ein in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen. »Und das sind die Kartoffeln fürs Abendessen. Und das ist der Pullover, den ich vom Flicken geholt habe.«
»Hoe heet je?« Er will wissen, wie ich heiße, und er fragt es auf eine lässige, beiläufige Art – so wie ein junger Draufgänger auf einem Fest ein unerfahrenes Mädchen ansprechen würde. Das ist gut, denn es ist besser, er interessiert sich für mich als für die Päckchen in meinem Fahrradkorb.
»Hanneke Bakker.« Ich würde ihn lieber anlügen, aber da wir jetzt alle Ausweispapiere dabeihaben müssen, wäre das zwecklos. »Und wie heißen Sie, Soldat?«
Er reckt seine Brust, als ich ihn mit »Soldat« anspreche. Die Jungen unter ihnen sind noch verliebt in ihre Uniform. Ein Goldkettchen blitzt an seinem Hals auf.
»Und was haben Sie da für einen Anhänger?«, frage ich.
Sein Lächeln stockt, und er greift hastig an die Kette, die von seinem Kragen halb verdeckt wird. An der Kette hängt ein goldenes, herzförmiges Medaillon. Wahrscheinlich mit der Fotografie eines rotbackigen deutschen Mädels, das ihm in Berlin die Treue geschworen hat. Es war ein Risiko, ihn danach zu fragen, aber wenn ich richtig getippt habe, funktioniert es immer.
»Ist das eine Fotografie Ihrer Mutter? Sie muss Sie abgöttisch lieben, wenn sie Ihnen so eine hübsche Kette geschenkt hat.«
Das Gesicht des Soldaten läuft rot an und er stopft die Kette wieder unter seinen gestärkten Kragen.
»Oder von Ihrer Schwester?«, frage ich weiter. »Oder Ihrem Schoßhündchen?« Es ist eine Gratwanderung, genau das richtige Maß an Naivität zu treffen. Es muss so unschuldig klingen, dass er keinen Grund sieht, mir böse zu sein, aber gleichzeitig so abweisend, dass er mich lieber loswerden will, als mich wegen der Päckchen zu verhören. »Ich habe Sie noch nie gesehen. Sind Sie jeden Tag hier auf Posten?«, frage ich.
»Ich habe keine Zeit für dumme Mädchen wie dich. Geh nach Hause, Hanneke.«
Ich strample davon, die Lenker zittern kaum merklich. Ich habe nicht gelogen. Die oberen drei Päckchen enthalten tatsächlich ein Buch, einen Pullover und ein paar Kartoffeln. Doch unter den Kartoffeln liegen Würste im Gegenwert von vier Lebensmittelmarken, sie gehörten einem Verstorbenen. Und darunter sind Lippenstifte und Salben, ebenfalls aus der Ration eines Toten, und darunter Zigaretten und Alkohol, von dem Geld gekauft, das mir mein Chef, Herr Kreuk, für diesen Zweck heute Morgen ausgehändigt hat. Nichts davon gehört mir.
Die meisten Leute würden sagen, ich bin Schwarzmarkthändlerin und tausche illegal Waren. Ich bezeichne mich aber lieber als »Finderin«. Ich suche und finde Sachen. Ich finde eine Extraration Kartoffeln, Fleisch und Speck. Am Anfang fand ich Zucker oder Schokolade, aber das ist in letzter Zeit schwierig geworden, das passiert nur noch ab und zu. Ich finde Tee. Ich finde Speck. Wegen Leuten wie mir bleiben die reichen Holländer dick und rund. Ich finde Sachen, auf die man hier schon lange verzichten muss, außer man weiß, wo man suchen muss.
Meine letzte Frage, ob diese Straße sein neuer Posten ist, hat er nicht beantwortet – schade. Wenn er nämlich jetzt immer hier steht, muss ich überlegen, ob ich nett zu ihm bin oder lieber meine Route ändere.
Meine erste Station an diesem Morgen ist Fräulein Akkerman, die mit ihren Großeltern in einem alten Haus beim Museum wohnt. Fräulein Akkerman bekommt die Salben und den Lippenstift. Letzte Woche war es Parfüm. Ich kenne wenige Frauen, denen solche Dinge noch wichtig sind, aber sie hat mir einmal erzählt, sie hofft, dass ihr Freund ihr vor ihrem nächsten Geburtstag einen Antrag macht. Menschen geben für abwegigere Gründe Geld aus.
Sie öffnet mir die Tür mit aufgesteckten, noch feuchten Haaren. Wahrscheinlich ist sie heute Abend mit Theo verabredet.
»Hanneke! Komm herein, ich hole nur schnell mein Portemonnaie.« Sie findet immer einen Grund, mich hereinzubitten. Ich glaube, es ist ihr langweilig den ganzen Tag allein mit den Großeltern, die immer so laut sprechen und nach Kohlsuppe riechen.
Im Haus ist es muffig und düster. Der Großvater von Fräulein Akkerman sitzt in der angrenzenden Küche am Frühstückstisch.
»Wer ist an der Tür?«, brüllt er.
»Eine Lieferung, Opa«, ruft Fräulein Akkerman zurück.
»Wer?«
»Für mich.« Sie dreht sich wieder zu mir um und senkt ihre Stimme. »Hanneke, du musst mir helfen. Heute Abend kommt Theo. Er will meine Großeltern fragen, ob ich bei ihm einziehen darf. Ich weiß noch nicht, was ich anziehen soll. Bleib, wo du bist, ich zeige dir, welche Kleider zur Auswahl stehen.«
Wieso sollte ein Kleid ihre Großeltern dazu bewegen können, damit einverstanden zu sein, dass sie vor der Ehe mit ihrem Freund zusammenzieht? Andererseits wäre dies nicht das erste Mal, dass ein junges Paar in diesem Krieg auf die Tradition pfeift.
Als Fräulein Akkerman wieder in die Diele kommt, heuchle ich großes Interesse an ihren Kleidern, obwohl ich in Wirklichkeit die Wanduhr im Auge habe. Ich habe keine Zeit, mit meinen Kunden privat zu verkehren. Nachdem ich ihr zu dem grauen Kleid geraten habe, zeige ich auf das Päckchen, das ich schon die ganze Zeit in der Hand halte. »Das ist für Sie. Würden Sie bitte nachsehen, ob alles richtig ist?«
»Bestimmt ist alles richtig. Möchtest du zum Kaffee bleiben?«
Ich frage sie nicht, ob es echter Kaffee ist. Ihre einzige Chance, an echten Kaffee zu kommen, wäre über mich, und da ich ihr keinen gebracht habe, meint sie mit Kaffee gemahlene Eicheln oder Wurzeln. Ersatzkaffee.
Der andere Grund, warum ich nicht bleibe, ist derselbe, aus dem ich ihrer wiederholten Aufforderung, sie »Irene« zu nennen, nicht nachkomme. Ich möchte nicht, dass sie unsere Beziehung mit Freundschaft verwechselt. Ich möchte nicht, dass sie glaubt, es würde nichts ausmachen, wenn sie irgendwann einmal nicht zahlen kann.
»Ich kann nicht. Ich muss vor dem Mittagessen noch eine andere Lieferung erledigen.«
»Wirklich? Du könntest doch hier essen – ich mache das Essen sowieso gleich fertig – und dann könnten wir meine Frisur für heute Abend überlegen.«
Ich habe eine eigenartige Beziehung zu meinen Kunden. Sie glauben, wir seien Kameraden. Sie glauben, wir seien durch unser Geheimnis, durch unsere gemeinsame illegale Aktion miteinander verbunden. »Ich esse immer mit meinen Eltern zu Mittag.«
»Natürlich, Hanneke.« Sie ist verlegen, weil sie mich so gedrängt hat. »Dann bis zum nächsten Mal.«
Draußen ist es trüb und bedeckt, Winter in Amsterdam. Ich fahre mit dem...
Erscheint lt. Verlag | 22.1.2018 |
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Übersetzer | Cornelia Stoll |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Girl in the Blue Coat |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | ab 12 • ab 13 • ab 14 Jahre • Amsterdam • Amsterdamse Studenten Groep • Anne Frank • Bücher • Bücher ab 12 • bücher mädchen 12 jahre • Buch Mädchen 12 Jahre • Buecher • Deutscher Jugendliteraturpreis • "Die untergetauchte Kamera" • Die untergetauchte Kamera • eBooks • Erste Liebe • Geschenk • Geschenke • Geschichte • Holocaust • Judenverfolgung • Jugendbuch • Jugendbücher • Jugendbücher ab 12 • Jugendbücher Bestseller • Junge Erwachsene Romane • Mädchen Geschenke • Niederlande • nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis • Onderduiker • ostergeschenke junge • Schwarzmarkt • Teenager Mädchen Bücher • Unterrichtsmaterial • Verlust • Verzet • Wahre Begebenheit • Widerstand im Nationalsozialismus • YA • Young Adult |
ISBN-10 | 3-641-16807-4 / 3641168074 |
ISBN-13 | 978-3-641-16807-0 / 9783641168070 |
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