Sami und der Wunsch nach Freiheit -  Rafik Schami

Sami und der Wunsch nach Freiheit (eBook)

Roman

(Autor)

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2017 | 1. Auflage
320 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-74696-2 (ISBN)
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Die unglaubliche Geschichte von Sami und seinem abenteuerlichen Leben in den Gassen von Damaskus. Geschichten um Geschichten reihen sich aneinander. Sie alle erzählen von einer innigen Freundschaft, der Sehnsucht zweier Jungen nach Freiheit und dem Ausbruch der syrischen Rebellion: Sami und Scharif sind unzertrennlich, sie wachsen wie Brüder auf. Nach seiner Flucht aus Syrien erzählt Scharif von ihrer Kindheit in den verwinkelten Gassen von Damaskus, ihren teuflischen Tricks, die Schule zu überstehen, und von ihrem Beschützer, dem weisen Postboten Elias, dem besten Lautenspieler aller Zeiten. Wie Sami sich mutig in jedes Abenteuer stürzt, weil er Unrecht nicht erträgt, und für seine Liebe Josephine sein Leben aufs Spiel setzt. Und wie er sich im Laufe der Jahre so viele Narben holt, die jede wieder ihre eigene Geschichte hat. Bald passieren Dinge, die ihnen die Augen öffnen. Als der Widerstand gegen den Diktator wächst und der Aufstand in Daraa ausbricht, müssen die Freunde abtauchen. Seitdem hat sich die Spur von Sami verloren ...

Rafik Schami, geboren 1946 in Damaskus, siedelte 1971 in die Bundesrepublik Deutschland über. Er promovierte in Chemie. Seit 1982 ist er freier Schriftsteller und lebt in Marnheim/Pfalz. Für sein literarisches Werk erhielt er viele wichtige Auszeichnungen, u.a. den Adalbert-von-Chamisso-Preis, den Hermann-Hesse-Preis und den Großen Preis der Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Seine Werke, darunter die Romane »Eine Hand voller Sterne«, »Erzähler der Nacht« und »Der ehrliche Lügner«, wurden vielfach ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt.

1.

Scharif


oder Wie man durch Zufall zu Geschichten kommt

Scharif habe ich zufällig kennengelernt. Ich war mit meiner Frau bei einem befreundeten Ehepaar zum Essen eingeladen. Sie wohnen in einer kleinen Stadt in unserer Nähe. Wir sind mit ihnen seit über zwanzig Jahren befreundet. Sie sind gastfreundliche Menschen.

Die Vorstellung, um ihren offenen Kamin zu sitzen und das knisternde Holz zu betrachten, war mir an diesem Tag Grund genug, mich darauf zu freuen. Dienstag, der 11. Dezember 2012, war hier ein eiskalter Tag, die Wettervorhersage versprach Schlimmeres, es werde in der Nacht noch frostiger und das Wochenende werde regnerisch sein.

Das Ehepaar, beide Mitte sechzig, war kinderlos. Klaus war nach dreißig Jahren Arbeit als Chemiker bei einem großen Konzern seit drei Jahren Rentner. Franziska war bis zu ihrer Pensionierung vor einem Jahr eine leidenschaftliche Lehrerin. Beide langweilten sich nie. Wir scherzten oft, dass sie, seitdem sie Rentner waren, kaum noch Zeit hatten.

Und an diesem Abend saß auf einmal der blasse junge Mann im Wohnzimmer. »Scharif Surur«, stellte ihn Franziska vor, »ein Syrer. Er will Musiker werden und kann gut Englisch, aber er lernt auch schon fleißig Deutsch und bringt uns ein paar arabische Höflichkeitsfloskeln bei.«

Klaus lachte. »Und er hat seit heute keine Angst mehr vor unserem Hund!«, fügte er ironisch hinzu, um auf meine ewige unbegründete Angst vor Hunden anzuspielen. Die Hunde sind ja in Deutschland alle lieb und wollen nur spielen. Nur ich glaube das nicht, weil ich als Kind zweimal von Hunden gebissen wurde. »Ich habe zu viel Respekt, um mit eurem Argos zu spielen«, war meine etwas unglaubwürdige Standardantwort.

Ich grüßte den jungen Mann auf Arabisch und wir unterhielten uns eine Weile. Scharif hatte bis zu seiner Flucht im christlichen Viertel von Damaskus gelebt. Seine Gasse war nicht einmal fünfhundert Meter von unserem Haus entfernt. Er kannte meine Familie nicht, dafür aber unsere Bäckerei.

Im Jahre 2012 waren noch nicht viele Flüchtlinge nach Europa gelangt. Scharif musste schon damals die Flucht ergreifen, denn er wurde gesucht wegen seiner Aktivitäten in einem Komitee, das Demonstrationen über soziale Medien wie Facebook und Twitter koordinierte und einen Online-Blog herausgab, der den Aufstand begleitete. Sie waren immer schneller als der Geheimdienst gewesen, sodass die Gegenangriffe von Polizei und Armee ins Leere liefen. »Aber dann bekam der Geheimdienst modernste Geräte und Programme, die innerhalb von Minuten reagierten und das Zentrum der Datenverbreitung erkannten, und umzingelte kurz darauf das Haus«, erzählte er leise. Er entkam mehrmals in letzter Sekunde.

Sein Weg nach Deutschland war ein lebensgefährliches Abenteuer. Im Oktober 2011 flüchtete er aus Damaskus über Umwege in die Türkei und von dort über mehrere Länder bis nach Deutschland. Weite Strecken musste er zu Fuß zurücklegen, in Wäldern schlafen, fast verhungert um Essen betteln und immer weiter Richtung Norden gehen. Er hatte nur einen kleinen billigen Kompass, und der sei, wie er sagte, sein Navigator gewesen. Unterwegs wurde er mehrmals ausgeraubt und geschlagen, auch davon erzählte er, und lachte sogar dabei, als er von einem Albaner berichtete, der ihn in Österreich überfiel und nichts fand, was er rauben konnte. Er verfluchte den auf dem Boden liegenden Syrer und ging. Den billigen Kompass warf der Mann weg. Scharif stand auf und steckte den kleinen Kompass in seine Tasche, nachdem er ihn geküsst hatte, als wäre er eine Ikone, die man um Verzeihung für die grobe Behandlung bittet. Der Albaner kehrte aber nach einer Weile mit Eiern und Kartoffeln zurück. Sie machten ein Feuer und genossen gemeinsam die gekochten Eier und Kartoffeln.

Im Mai kam Scharif in Deutschland an. Nach drei Monaten Wartezeit bekam er Asyl in der Pfalz. Da hatte er bereits den ersten Deutschkurs erfolgreich abgeschlossen. Durch Zufall lernte er Klaus und Franziska kennen. Beide sind gläubige Protestanten, und Scharif, der, wie ich, der katholischen Minderheit in Syrien angehört, war zum ersten Mal in seinem Leben in einer evangelischen Kirche und wunderte sich, dass die Kirche ohne Bilder und Figuren so karg und »nackt« sei, wie er sich ausdrückte. Weit und breit sah er keinen Beichtstuhl und der Gottesdienst kam ihm ziemlich nüchtern vor. Und kein Weihrauch! Klaus und Franziska mussten lachen, als er sie auf Englisch fragte, ob die Bilder gerade restauriert würden und die Kirche so arm sei, dass sie nicht einmal Weihrauch kaufen konnte. In Syrien gehört die Mehrheit der Christen entweder der katholischen oder der orthodoxen Kirche an.

In einem nahe gelegenen Café unterhielten sie sich lange mit ihm, und weil sie ihn sehr sympathisch fanden, trafen sie sich mit ihm bald täglich. Bis dahin hatte er in einem kleinen Zimmer in einem heruntergekommenen Hochhaus im sogenannten »sozialen Brennpunkt« der kleinen pfälzischen Stadt gelebt. Nach einem Monat stand ihr Entschluss fest: Scharif sollte in ihrem weitläufigen Landhaus die Einliegerwohnung beziehen. Und Franziska begleitete ihn bei seinem Deutschkurs.

Damit entkam Scharif seiner Einsamkeit und Tatenlosigkeit, unter der er am Anfang sehr gelitten hatte. Er half im Garten und im Haushalt und freute sich, Franziska zur Hand zu gehen und bei ihr das Kochen zu lernen. Von Klaus lernte er als unerfahrener Städter die Kunst, einen Garten schön zu halten. Scharif war eher schüchtern und äußerst höflich. Er hörte genau zu und war sehr neugierig auf das Leben in Deutschland.

Merkwürdigerweise war er sehr interessiert an meiner Arbeit als Schriftsteller und stellte viele Fragen nach dem Leben eines Künstlers im Exil. Er wünschte sich meine Bücher auf Arabisch. Ein paar Tage darauf schenkte ich sie ihm. Franziska sagte mir später, er lese fieberhaft, jeden Tag bis spät in die Nacht und manchmal sogar, bis der Morgen dämmerte.

Da ich auf einer großen Lesetour war, sah ich ihn nicht mehr, und fast hätte ich ihn vergessen. Eines Tages tauchte eine arabische E-Mail auf. Absender: Scharif Surur.

Ich habe gerade die arabische Übersetzung von Eine Hand voller Sterne zu Ende gelesen. Vielleicht interessiert Dich die Geschichte meines Freundes Sami. Und vor allem die Geschichte seiner Narben. Was dieser Junge durchgemacht hat, ist unglaublich. Aber wenn du keine Zeit hast, macht das nichts. Ich kann warten. Der Deutschkurs läuft klasse. Franziska und Klaus sind meine Schutzengel.

Herzliche Grüße, Scharif

Selbstverständlich habe ich nichts Besonderes erwartet. Viel zu oft, vor allem am Anfang meines Weges als Schriftsteller, ließ ich mich verführen, und ich hörte oder las nächtelang Schicksale von Menschen, die privat vielleicht tragisch oder glücklich, traurig oder witzig und für die betreffende Person womöglich abenteuerlich waren, aber sie hatten alle keine Spur von dem – wie ich es nenne – »universellen Kern« einer Geschichte, die etwas Einmaliges hat, dass man sie einem anderen unbedingt erzählen müsste. Irgendwann habe ich es aufgegeben, und ich bedauere es bis heute nicht, denn ich habe nicht einmal genug Zeit, um all meine eigenen Geschichten zu erzählen.

Aber Narben? Was für Geschichten von Narben? Ich schrieb ihm. Ich würde mir den Anfang anhören und ihm, wenn die Geschichte in Ordnung sein sollte, Tipps geben, wie er das glaubwürdig erzählen könne. Er solle alles auf Arabisch schreiben und dann würden wir für eine gute Übersetzung sorgen.

Wir trafen uns in einem ruhigen Stadtpark. Er eröffnete seine Rede damit, dass er einigermaßen gut erzählen könne, aber Texte und Aufsätze seien nie sein Ding gewesen. Er besitze jedoch ein Gedächtnis, dem nichts entginge, auch nach zehn Jahren nicht. »Die Kamele würden blass werden, wenn sie von meinem Gedächtnis wüssten«, fügte er hinzu und lächelte. Er würde mir alles von seinem Freund Sami und dessen Narben erzählen und mir die Geschichte schenken, aber es wäre schön, wenn ich ihm dafür eine einfache arabische Laute schenken würde. Er habe kein Geld und wolle niemandem zur Last fallen, schon gar nicht Klaus und Franziska. Seine Finger brannten nach einer Laute.

Die Damaszener waren schon immer charmante Händler, aber mich rührte seine Offenheit zutiefst. Irgendwie hatte der Aufstand seine Generation mutiger gemacht. Es waren Kinder in der südlichen Stadt Daraa gewesen, die den Aufstand auslösten, und es waren Jugendliche, die ihn austrugen.

Man merkte ihm seine Verzweiflung an, die ihn mutig werden ließ, so direkt zu werden.

»Du kannst Laute spielen?«

»Ja, der Postbote Elias, ein Nachbar, hat mir ihre...

Erscheint lt. Verlag 31.7.2017
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-407-74696-2 / 3407746962
ISBN-13 978-3-407-74696-2 / 9783407746962
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