Der Clan der Otori. Das Schwert in der Stille (eBook)
384 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-4971-5 (ISBN)
Lian Hearn wurde 1942 geboren und wuchs in Nigeria und Großbritannien auf. Sie studierte moderne Sprachen und arbeitete anschließend als Filmkritikerin und Redakteurin. Sie ist die Autorin zahlreicher Kinder- und Jugendbücher, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Ein lebenslanges Interesse an Japan und seiner Kultur führte dazu, dass sie Japanisch lernte und das Land unzählige Male bereiste. Lian Hearn lebt heute in Australien.
Lian Hearn wurde 1942 geboren und wuchs in Nigeria und Großbritannien auf. Sie studierte moderne Sprachen und arbeitete anschließend als Filmkritikerin und Redakteurin. Sie ist die Autorin zahlreicher Kinder- und Jugendbücher, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Ein lebenslanges Interesse an Japan und seiner Kultur führte dazu, dass sie Japanisch lernte und das Land unzählige Male bereiste. Lian Hearn lebt heute in Australien. Irmela Brender war Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie veröffentlichte zahlreiche Kinder- und Jugendpublikationen, Funkfeatures und Übersetzungen.
Kapitel 1
Meine Mutter drohte oft, mich in acht Stücke zu reißen, wenn ich den Wassereimer umstieß oder vorgab, ihren Ruf nicht zu hören, während die Dämmerung dichter wurde und die Zikaden lauter schrillten. Dann hörte ich ihre Stimme, die rau und heftig durch das einsame Tal schallte. »Wo ist dieser schreckliche Junge? Den zerreiße ich, wenn er zurückkommt.«
Aber wenn ich dann zurückkam, schmutzig vom Hangrutschen, grün und blau geschlagen von Raufereien und einmal mit einer stark blutenden Kopfwunde von einem Stein (ich habe immer noch die Narbe, wie ein versilberter Daumennagel), dann warteten auf mich das Feuer, der Duft der Suppe und die Arme meiner Mutter. Sie zerriss mich keineswegs, sondern versuchte, mich festzuhalten, mir das Gesicht abzuwaschen oder das Haar zu ordnen, während ich mich wand wie eine Eidechse, um von ihr loszukommen. Meine Mutter war kräftig durch endlose harte Arbeit und nicht alt: Sie hatte mich geboren, bevor sie siebzehn war, und wenn sie mich festhielt, sah ich, dass wir die gleiche Haut hatten, auch wenn wir uns sonst nicht sehr ähnlich waren; sie hatte flächige, sanfte Züge, während meine, wie man mir sagte (denn wir hatten keine Spiegel in dem abgelegenen Bergdorf Mino), feiner waren, wie die eines Falken. Der Ringkampf endete meistens mit ihrem Sieg, und ihr Preis war die Umarmung, der ich nicht entfliehen konnte. Und ihre Stimme flüsterte mir die Segensworte der Verborgenen ins Ohr, während mein Stiefvater nachsichtig murrte, dass sie mich verwöhne, und die kleinen Mädchen, meine Halbschwestern, um uns herumsprangen und ihren Anteil an der Umarmung und den Segensworten verlangten.
Deshalb hielt ich es für eine Redensart. Mino war ein friedlicher Ort, zu abgeschieden, als dass er mit den wilden Schlachten der Clans in Berührung gekommen wäre. Nie hatte ich mir vorgestellt, dass Männer und Frauen tatsächlich in acht Stücke zerrissen werden könnten, dass man ihre starken, honigfarbenen Glieder aus den Gelenken zerrte und den wartenden Hunden vorwarf. Aufgewachsen unter den Verborgenen, wusste ich nicht, dass Menschen einander so etwas antaten.
Ich wurde fünfzehn, und meine Mutter begann, unsere Ringkämpfe zu verlieren. Ich wuchs in einem Jahr zwölf Zentimeter und war mit sechzehn größer als mein Stiefvater. Er murrte öfter, ich solle zur Ruhe kommen, aufhören, wie ein wilder Affe über den Berg zu streifen, und in eine der Dorffamilien einheiraten. Ich hatte nichts gegen den Vorschlag, eines der Mädchen zu heiraten, mit denen ich aufgewachsen war, und in diesem Sommer arbeitete ich fleißiger neben ihm, bereit, meinen Platz unter den Männern des Dorfs einzunehmen. Aber hin und wieder konnte ich dem Ruf des Bergs nicht widerstehen und stahl mich am Ende des Tages durchs Bambusgehölz mit seinen hohen, glatten Stämmen und dem schrägen grünen Lichteinfall davon, folgte dem steinigen Pfad hinauf am Schrein des Berggotts vorbei, wo die Dorfbewohner Hirse und Orangen als Opfergaben hinterließen, in den Birken- und Zedernwald, wo der Kuckuck und die Nachtigall lockend riefen, wo ich Füchse und Hirsche beobachtete und den melancholischen Ruf der Milane über mir hörte.
An diesem Abend war ich über den Berg gegangen, zu einem Platz, wo die besten Pilze wuchsen. Mein Tuch war voll von den kleinen, fadenartigen weißen und den dunklen, fächerförmigen orangefarbenen. Ich stellte mir vor, wie sich meine Mutter freuen würde und wie die Pilze meinen Stiefvater vom Schimpfen abhielten. Schon konnte ich sie auf der Zunge kosten. Während ich durch den Bambus lief und hinaus in die Reisfelder, wo die roten Herbstlilien schon blühten, glaubte ich, Essensgeruch im Wind zu riechen.
Die Dorfhunde bellten wie so oft am Ende des Tages. Der Geruch wurde stärker und beißend. Ich hatte keine Angst, noch nicht, aber irgendeine Vorahnung ließ mein Herz schneller schlagen. Vor mir war ein Feuer.
Im Dorf brachen oft Feuer aus; fast alles, was wir besaßen, war aus Holz oder Stroh. Doch ich konnte kein Rufen hören, kein Geräusch von Eimern, die von Hand zu Hand gereicht wurden, keine der üblichen Schreie und Flüche. Die Zikaden schrillten so laut wie immer; Frösche quakten im Reis. In der Ferne grollte Donner um die Berge. Die Luft war drückend und feucht.
Ich schwitzte, aber der Schweiß wurde kalt auf meiner Stirn. Ich sprang über den Graben des letzten Terrassenfelds und schaute hinunter auf die Stelle, wo mein Zuhause immer gewesen war. Das Haus war weg.
Ich ging näher. Flammen züngelten immer noch und leckten an den geschwärzten Balken. Von meiner Mutter oder meinen Schwestern war nichts zu sehen. Ich wollte rufen, aber meine Zunge war plötzlich zu groß für meinen Mund, und der Rauch nahm mir den Atem und ließ meine Augen tränen. Das ganze Dorf brannte. Aber wo waren alle?
Dann hörte ich die Schreie.
Sie kamen aus der Richtung des Schreins, um den sich die meisten Häuser drängten. Sie klangen wie das Schmerzgeheul eines Hundes, nur dass der Hund menschliche Worte sprechen, sie unter Höllenqualen brüllen konnte. Ich glaubte, die Gebete der Verborgenen zu erkennen, und im Nacken und auf den Armen standen mir alle Haare zu Berge. Wie ein Geist glitt ich zwischen den brennenden Häusern auf die Schreie zu.
Das Dorf war verlassen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wo alle hingegangen waren. Ich sagte mir, sie seien weggelaufen: Meine Mutter habe meine Schwestern in die Sicherheit des Waldes gebracht. Ich würde ihnen nachgehen und sie finden, sobald ich festgestellt hätte, wer schrie. Doch als ich aus der Gasse auf die Hauptstraße kam, sah ich zwei Männer am Boden liegen. Ein leichter Regen fiel, und die Männer sahen überrascht aus, als hätten sie keine Ahnung, warum sie da im Regen lagen. Sie würden nie wieder aufstehen, und es machte nichts, dass ihre Kleidung nass wurde.
Einer von ihnen war mein Stiefvater.
In diesem Moment veränderte sich die Welt für mich. Eine Art Nebel stieg vor meinen Augen auf, und als er sich auflöste, schien nichts mehr wirklich. Ich hatte das Gefühl, in die andere Welt hinübergegangen zu sein, die neben unserer eigenen liegt, und die wir in Träumen besuchen. Mein Stiefvater trug seine besten Sachen. Das indigoblaue Tuch war dunkel vom Regen und vom Blut. Es tat mir leid, dass sie ruiniert waren: Er war so stolz darauf gewesen.
Ich ging an den Leichen vorbei, durch die Tore und in den Schrein. Der Regen war kühl auf meinem Gesicht. Die Schreie hörten plötzlich auf.
Auf dem Gelände waren Männer, die ich nicht kannte. Sie sahen aus, als würden sie irgendein Ritual für ein Fest durchführen. Sie hatten Tücher um die Köpfe gebunden; ihre Jacken hatten sie ausgezogen, die Arme glänzten von Schweiß und Regen. Sie keuchten und ächzten und fletschten die weißen Zähne, als wäre Töten eine ebenso harte Arbeit wie das Einbringen der Reisernte.
Wasser rieselte aus dem Brunnen, wo man sich Hände und Mund wusch, um sich beim Eintritt in den Schrein zu reinigen. Früher, als die Welt normal gewesen war, musste jemand Weihrauch im großen Kessel angezündet haben. Die letzten Schwaden wehten über den Hof und überdeckten den bitteren Geruch von Blut und Tod.
Der Mann, der zerrissen worden war, lag auf den nassen Steinen. Die Gesichtszüge des abgetrennten Kopfes waren gerade noch zu erkennen. Es war Isao, der Anführer der Verborgenen. Sein Mund war noch offen, in einer letzten Schmerzverzerrung erstarrt.
Die Mörder hatten ihre Jacken ordentlich neben einer Säule gestapelt. Ich sah deutlich das Wappen mit dem dreifachen Eichenblatt. Das waren Tohanmänner aus der Clanhauptstadt Inuyama. Ich erinnerte mich an einen Reisenden, der am Ende des siebten Monats durch das Dorf gekommen war. Er hatte die Nacht in unserem Haus verbracht, und als meine Mutter vor der Mahlzeit betete, hatte er versucht, sie zum Schweigen zu bringen.
»Weißt du nicht, dass die Tohan die Verborgenen hassen und planen, uns anzugreifen? Lord Iida hat geschworen, uns auszulöschen«, flüsterte er. Meine Eltern waren am nächsten Tag zu Isao gegangen und hatten es ihm erzählt, aber niemand hatte ihnen geglaubt. Wir waren weit von der Hauptstadt entfernt, und die Machtkämpfe der Clans hatten uns nie interessiert. In unserem Dorf lebten die Verborgenen neben allen anderen, sie sahen genauso aus, verhielten sich genauso bis auf die Gebete. Warum sollte jemand uns etwas antun wollen? Es schien undenkbar.
Und so schien es mir immer noch, als ich wie angewurzelt am Brunnen stand. Das Wasser rieselte immer weiter und weiter, und ich wollte damit das Blut von Isaos Gesicht waschen und sanft seinen Mund schließen, aber ich konnte mich nicht rühren. Ich wusste, dass die Männer des Tohanclans sich jeden Augenblick umdrehen und mich sehen könnten, und dann würden sie mich in Stücke reißen. Sie würden weder Mitleid noch Gnade kennen. Sie waren bereits vom Tod besudelt, nachdem sie einen Mann innerhalb des Schreins getötet hatten.
Aus der Ferne hörte ich mit schärfster Klarheit das trommelnde Geräusch eines galoppierenden Pferds. Als die Hufschläge näher kamen, überkam mich ein Gefühl der Vorauserinnerung, wie man es aus Träumen kennt. Ich wusste, wen ich eingerahmt zwischen den Toren des Schreins sehen würde. Noch nie im Leben hatte ich ihn gesehen, doch meine Mutter hatte ihn uns als eine Art menschenfressendes Ungeheuer dargestellt, damit wir gehorchten: Strolcht nicht auf dem Berg herum, spielt nicht am Fluss, sonst erwischt euch Iida! Ich erkannte ihn sofort: Iida Sadamu, Lord des Tohanclans.
Das Pferd bäumte sich auf und wieherte, als es Blut roch. Iida saß so still, als wäre er aus Eisen gegossen. Er...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2017 |
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Reihe/Serie | Clan der Otori | Clan der Otori |
Übersetzer | Irmela Brender |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Adoption • Adption • Amélie Wen Zhao • Asien • Asien Fantasy • Bücher für Teenager • China • Clan • Clanführer • Deutscher Jugendliteraturpreis • Diener • Die sechs Kraniche • Dorf • Ein Kleid aus Seide und Sternen • Elizabeth Lim • Erbe • Familie • fantasy ab 14 • Fantasy Bücher Jugendliche • High Fantasy • Intrige • Japan • Jugendbuch ab 14 • Kaede • Kampfkunst • Kings and Thieves • Lian Hearn • Liebe • Macht • Mord • Mythologie • Nachtigallenboden • Otori • Rache • Schwert • Shigeru • Shikanoko • Song of Silver • Sophie Kim • Stamm • Takeo • Tod • Vater |
ISBN-10 | 3-7336-4971-0 / 3733649710 |
ISBN-13 | 978-3-7336-4971-5 / 9783733649715 |
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