Der Clan der Otori. Der Pfad im Schnee (eBook)
400 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-4972-2 (ISBN)
Lian Hearn wurde 1942 geboren und wuchs in Nigeria und Großbritannien auf. Sie studierte moderne Sprachen und arbeitete anschließend als Filmkritikerin und Redakteurin. Sie ist die Autorin zahlreicher Kinder- und Jugendbücher, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Ein lebenslanges Interesse an Japan und seiner Kultur führte dazu, dass sie Japanisch lernte und das Land unzählige Male bereiste. Lian Hearn lebt heute in Australien.
Lian Hearn wurde 1942 geboren und wuchs in Nigeria und Großbritannien auf. Sie studierte moderne Sprachen und arbeitete anschließend als Filmkritikerin und Redakteurin. Sie ist die Autorin zahlreicher Kinder- und Jugendbücher, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Ein lebenslanges Interesse an Japan und seiner Kultur führte dazu, dass sie Japanisch lernte und das Land unzählige Male bereiste. Lian Hearn lebt heute in Australien. Irmela Brender war Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie veröffentlichte zahlreiche Kinder- und Jugendpublikationen, Funkfeatures und Übersetzungen.
Kapitel 1
Shirakawa Kaede lag in dem tiefen, der Bewusstlosigkeit nahen Schlaf, den Angehörige der Familie Kikuta durch ihren Blick bewirken konnten. Die Nacht verging, die Sterne verblassten im Morgengrauen, die Geräusche des Tempels um Kaede herum schwollen an und nahmen ab, doch sie regte sich nicht. Sie hörte nicht, wie ihre Begleiterin Shizuka sie immer wieder besorgt beim Namen rief, um sie zu wecken. Sie spürte nicht Shizukas Hand auf der Stirn. Sie hörte nicht, wie Lord Arai Daiichis Männer mit wachsender Ungeduld zur Veranda kamen und Shizuka mitteilten, der Kriegsherr warte darauf, mit Lady Shirakawa zu sprechen. Kaedes Atem ging friedlich und ruhig, ihre Züge waren so unbewegt wie die einer Maske.
Gegen Abend schien sich ihr Schlaf zu verändern. Kaedes Lider zuckten, und auf ihren Lippen lag ein Lächeln. Die Finger, die sich locker zu den Handflächen gebogen hatten, streckten sich.
Hab Geduld. Er wird dich holen.
Kaede träumte, dass sie in Eis verwandelt worden war. Die Worte klangen hell in ihrem Kopf wider. In ihrem Traum gab es keine Angst, nur das Gefühl, von etwas Kühlem und Weißem in einer stillen, gefrorenen und verzauberten Welt gehalten zu werden.
Sie öffnete die Augen.
Es war noch hell. Die Schatten sagten ihr, dass es Abend sei. Ein Glockenspiel erklang leise, dann war die Luft wieder ruhig. Der Tag, an den sich Kaede nicht erinnerte, musste warm gewesen sein. Ihre Haut unter dem Haar war feucht. Vögel zwitscherten vom Dachgesims, und Schwalben klapperten mit den Schnäbeln, während sie die letzten Insekten des Tages fingen. Bald würden sie nach Süden fliegen. Es war schon Herbst.
Die Geräusche der Vögel erinnerten Kaede an das Bild, das Takeo ihr hier vor vielen Wochen geschenkt hatte, eine Skizze von einem Waldvogel, der sie damals an Freiheit denken ließ. Sie hatte die Zeichnung und alles, was ihr sonst noch gehörte, ihre Hochzeitsgewänder und alle anderen Kleider, beim Schlossbrand in Inuyama verloren. Jetzt besaß sie nichts mehr. Shizuka war es gelungen, in dem Haus, in dem sie gewohnt hatten, ein paar alte Kleider für sie aufzutreiben und Kämme und andere Sachen zu leihen. Nie zuvor war Kaede an einem solchen Ort gewesen, im Haus eines Händlers, wo es nach gärender Soja roch und sich viele Leute befanden, denen sie fernzubleiben versuchte, obwohl hin und wieder die Dienerinnen kamen und durch die Ritzen der Wandschirme nach ihr spähten.
Kaede fürchtete, dass jeder ihr ansah, was in der Nacht, als das Schloss zerstört wurde, mit ihr geschehen war. Sie hatte einen Mann getötet, sie hatte einem anderen beigelegen, sie hatte neben ihm gekämpft und dabei das Schwert des Toten geschwungen. Sie konnte nicht glauben, dass sie das alles getan hatte. Manchmal fürchtete sie, verflucht zu sein, wie die Leute behaupteten. Sie sagten über sie, dass jeder Mann, der sie begehrte, starb – und das stimmte. Männer waren gestorben. Aber nicht Takeo.
Seit sie als Geisel auf Schloss Noguchi von einem Wachtposten angegriffen worden war, fürchtete sie sich vor allen Männern. Ihre Furcht vor Iida war so groß gewesen, dass sie sich gegen ihn verteidigt hatte; doch vor Takeo hatte sie sich nicht geängstigt. Ihm wollte sie nur näher sein. Seit ihrer ersten Begegnung in Tsuwano hatte ihr Körper sich nach seinem gesehnt. Sie hatte sich gewünscht, seine Haut an ihrer zu fühlen. Jetzt, als sie sich an diese Nacht erinnerte, wurde ihr erneut unmissverständlich klar, dass sie keinen anderen als ihn heiraten könne, keinen anderen als ihn lieben werde. Ich werde geduldig sein, versprach sie. Doch woher waren diese Worte gekommen?
Sie drehte leicht den Kopf und sah den Umriss von Shizukas Gestalt am Rand der Veranda. Dahinter ragten die uralten Bäume des Schreins empor. Die Luft roch nach Zedern und Staub. Die Tempelglocke schlug die Abendstunde. Kaede sagte nichts. Sie wollte mit niemandem sprechen, keine Stimme hören. Sie wollte zurück zu diesem eisigen Ort, an dem sie geschlafen hatte. Dann bemerkte sie etwas jenseits der winzigen Staubteilchen, die in den letzten Sonnenstrahlen flirrten: ein Geist, dachte sie, doch mehr als ein Geist, weil es Substanz hatte; es war da, unleugbar und tatsächlich, leuchtend wie frischer Schnee. Kaede starrte wie gebannt hin und richtete sich dabei halb auf, doch sowie sie die Erscheinung erkannt hatte, die Weiße Göttin, die große Mitfühlende, die große Gnädige, war sie verschwunden.
»Was ist?« Shizuka hörte, dass sich etwas bewegte, und lief zu ihr. Kaede schaute Shizuka an und sah die tiefe Besorgnis in ihren Augen. Sie erkannte, wie wichtig diese Frau für sie geworden war, ihre engste, eigentlich ihre einzige Freundin.
»Nichts. Ein Halbtraum.«
»Geht es Ihnen gut? Wie fühlen Sie sich?«
»Ich weiß nicht. Ich fühle …« Kaedes Stimme erstarb. Sie betrachtete Shizuka einige Augenblicke. »Habe ich den ganzen Tag geschlafen? Was ist mit mir passiert?«
»Er hätte Ihnen das nicht antun sollen.« Shizukas Ton war scharf vor Sorge und Wut.
»War es Takeo?«
Shizuka nickte. »Ich hatte keine Ahnung, dass er über diese Fähigkeit verfügt. Es ist eine Begabung der Kikutafamilie.«
»Das Letzte, an das ich mich erinnere, sind seine Augen. Wir haben einander angeschaut, und dann bin ich eingeschlafen.«
Nach einer Pause sagte Kaede: »Er ist fort, nicht wahr?«
»Mein Onkel Muto Kenji und das Familienoberhaupt der Kikuta, Kotaro, haben ihn letzte Nacht abgeholt«, antwortete Shizuka.
»Und ich werde ihn nie wiedersehen?« Kaede dachte an ihre Verzweiflung in der vergangenen Nacht, vor dem langen, tiefen Schlaf. Sie hatte Takeo gebeten, sie nicht zu verlassen. Sie hatte sich vor der Zukunft ohne ihn geängstigt, war wütend und gekränkt gewesen, weil er sie zurückwies. Doch dieser ganze Sturm hatte sich gelegt.
»Sie müssen ihn vergessen.« Shizuka nahm Kaedes Hand und streichelte sie sanft. »Von jetzt an können sein und Ihr Leben einander nicht berühren.«
Kaede lächelte schwach. Ich kann ihn nicht vergessen, dachte sie. Und er kann mir nie genommen werden. Ich habe im Eis geschlafen. Ich habe die Weiße Göttin gesehen.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Shizuka wieder, diesmal drängend. »Nicht viele Menschen überleben den Kikutaschlaf – die meisten werden getötet, bevor sie wieder daraus erwachen können. Ich weiß nicht, wie er auf Sie gewirkt hat.«
»Er hat mir nicht geschadet. Aber er hat mich in gewisser Weise verändert. Ich habe das Gefühl, nichts zu wissen. Als müsste ich alles neu lernen.«
Shizuka kniete sich verwirrt vor sie, forschend betrachtete sie Kaedes Gesicht. »Was werden Sie jetzt tun? Wohin werden Sie gehen? Werden Sie mit Arai nach Inuyama zurückkehren?«
»Ich glaube, ich sollte nach Hause, zu meinen Eltern. Ich muss meine Mutter sehen. Ich habe solche Angst, dass sie gestorben ist, während wir die ganze Zeit in Inuyama aufgehalten wurden. Ich werde am Morgen aufbrechen. Wahrscheinlich solltest du Lord Arai davon unterrichten.«
»Ich verstehe Ihre Sorge«, entgegnete Shizuka. »Aber Arai möchte Sie vielleicht nicht gehen lassen.«
»Dann werde ich ihn überreden müssen«, sagte Kaede ruhig. »Zuerst muss ich etwas essen. Lässt du mir eine Kleinigkeit zubereiten? Und bring mir Tee, bitte.«
»Lady.« Shizuka verneigte sich vor ihr und verließ die Veranda. Während sie davonging, hörte Kaede die klagenden Klänge einer Flöte, die jemand, der nicht zu sehen war, im Garten hinter dem Tempel spielte. Sie glaubte den Musiker, einen der jungen Mönche, von ihrem ersten Besuch im Tempel zu kennen, aber sie erinnerte sich nicht an seinen Namen. Damals hatten sie sich die berühmten Gemälde von Sesshu angesehen. Die Musik machte ihr das Unvermeidliche von Leiden und Verlust klar. Die Bäume rauschten im aufkommenden Wind, und Eulenrufe tönten vom Berg herab.
Shizuka kam mit dem Tee zurück und goss Kaede eine Tasse ein. Kaede trank, als würde sie zum ersten Mal Tee kosten, jeder Tropfen offenbarte ihrer Zunge seinen eigenen unverkennbaren, rauchigen Geschmack. Und als die alte Frau, die sich um Gäste kümmerte, Reis und Gemüse mit Bohnenmus brachte, war es, als hätte Kaede noch nie zuvor Essen geschmeckt. Sie staunte im Stillen über die neuen Kräfte, die in ihr geweckt worden waren.
»Lord Arai wünscht, Sie zu sprechen, bevor der Tag zu Ende geht«, sagte Shizuka. »Ich habe ihm erklärt, dass Sie sich nicht wohl fühlen, aber er hat darauf bestanden. Wenn Sie ihn jetzt nicht sehen möchten, richte ich ihm das aus.«
»Ich weiß nicht, ob wir uns gegenüber Lord Arai so verhalten können«, sagte Kaede. »Wenn er es befiehlt, muss ich zu ihm gehen.«
»Er ist sehr wütend«, sagte Shizuka leise. »Dass Takeo verschwunden ist, hat ihn beleidigt und erzürnt. Er sieht darin den Verlust von zwei wichtigen Verbündeten. Jetzt ist fast sicher, dass er ohne Takeo an seiner Seite gegen die Otori kämpfen muss. Er hatte auf eine rasche Hochzeit zwischen Ihnen gehofft …«
»Sprich nicht davon«, unterbrach sie Kaede. Sie aß den letzten Reis, legte die Stäbchen auf das Tablett und verneigte sich zum Dank für das Essen.
Shizuka seufzte. »Arai versteht den Stamm nicht richtig, er weiß nicht, wie er organisiert ist, welche Forderungen er an die stellt, die ihm angehören.«
»Hat er niemals bemerkt, dass du eine vom Stamm bist?«
»Er wusste, dass ich mich darauf verstehe, Dinge in Erfahrung zu bringen, Botschaften weiterzugeben. Er nutzte mit Vergnügen meine Fähigkeiten, als es darum ging, eine Allianz mit Lord Shigeru und Lady...
Erscheint lt. Verlag | 26.10.2017 |
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Reihe/Serie | Clan der Otori | Clan der Otori |
Übersetzer | Irmela Brender |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Amélie Wen Zhao • Asien • Asien Fantasy • Aussätzige • Berge • Bücher für Teenager • China • Clan • Clanführer • Deutscher Jugendliteraturpreis • Die sechs Kraniche • Ein Kleid aus Seide und Sternen • Elizabeth Lim • Erbe • fantasy ab 14 • Fantasy Bücher Jugendliche • Flucht • High Fantasy • Intrige • Japan • Jugendbuch ab 14 • Kaede • Kampf • Kampfkunst • king of thieves • Kings and Thieves • Krieg • Lian Hearn • Liebe • Loyalität • Macht • Mord • Mythologie • Onkel • Otori • Pfad • Rache • Samurai • Schwert • Schwestern • Shikanoko • Shirakawa • Song of Silver • Sophie Kim • Stamm • Strafe • Tod • Training • Vater • Verrat • Vormund |
ISBN-10 | 3-7336-4972-9 / 3733649729 |
ISBN-13 | 978-3-7336-4972-2 / 9783733649722 |
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