Strom auf der Tapete -  Badey,  Kühn

Strom auf der Tapete (eBook)

Roman

, (Autoren)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
192 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-74671-9 (ISBN)
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Mit dem Schneewittchen ans Ende der Welt ... Ron Robert Ranke hat keinen Plan. Das ist der Plan. Logisch. Aber er hat ein altes Foto aus der Küchenschublade. Deswegen fahren er und die geheimnisvolle Clara mit dem Schneewittchen zur Wahl der Oderbruchkönigin in ein gottverlassenes Dorf an der polnischen Grenze. Damit sich die Wölfe endlich vom Acker machen, und weil er wissen will, wer sein Vater ist. Mann, Mann, Mann ... »Eine Reise ans Ende der Welt, das in diesem Roman im Oderbruch liegt. Stilsicher, witzig und zugleich mit großem Ernst lotsen die Autorinnen ihre Figuren durch die kleinen und großen Katastrophen dieses Roadmovies, durch Beinahe-Unfälle und Prügeleien mit angejahrten Dorf-Casanovas, durch Exzesse und Momente der Stille. Kann das gut gehen? Es geht gut, in jeder Hinsicht, in diesem rasanten, gegenwartstrunkenen und überraschend zärtlichen Jugendroman.« Aus der Jury-Begründung des Peter-Härtling-Preises

Andrea Badey, geboren und aufgewachsen in Oberhausen; nach einer Ausbildung zur Stenotypistin Schauspielstudium in Hamburg. Es folgten Auftritte an Stadt- und Staatstheatern und freien Bühnen sowie ein Engagement am Berliner Kabarett Die Distel. Die Autorin, Schauspielerin, Kabarettistin und Sängerin lebt mit ihrer Familie in Köln. www.andreabadey.de

Fünfuhrzweiunddreißig


Ich fliege.

Unter mir eine Meute Wölfe. Mit aufgerissenen Mäulern springen sie jaulend und hechelnd im Kreis. Ihre Blicke zielen nach oben. Zu mir, in den Himmel.

Sie warten nur drauf, dass der Fleischbrocken da oben schlappmacht, damit sie ihn sich holen können. Aus ihren Schnauzen tropft der Geifer, gierig warten sie auf ihr Futter. Kurz bevor mich die Kraft verlässt, wache ich auf, schwitzend, hechelnd wie die Meute in meinem Traum.

Das Laken in meinem Bett ist klatschnass, wie früher, wenn Peggy vergessen hat, mir eine Windel umzubinden. Früher, als ich mir noch regelmäßig nachts in die Hose gepisst habe. Lang ist’s her.

Wenn diese Scheißträume nicht aufhören, werde ich mir irgendwann da oben in die Hose machen. Im Himmel. Das ist Fakt. Und dann?

Wird es Pisse auf die Wölfe regnen. Vielleicht hauen sie dann endlich ab.

Trotz allem muss ich grinsen.

Es ist stockdunkel und ich knipse die Nachttischlampe an. 5:34 Uhr. Die Nacht geht mal wieder früh von Bord, an Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken. Ich versuche, den Zeiger der Stressuhr in meiner Birne umzulegen.

Ich habe eine Uhr in meinem Kopf. Eine, die tickt und Meldung macht. Aber nur einen Zeiger hat. Der geht vor und zurück. Und zwar exakt.

Von eins bis drei ist alles richtig tutti. Zwischen zehn und elf heißt höchste Alarmbereitschaft. Bei zwölf geht nix mehr. Davor ist alles möglich.

Vier – so fühle ich mich gerade – ist aufsteigend nervös, aber noch keine Panik. Bis vier habe ich alles relativ im Griff. Relativ. Ab sechs, sieben ist zunehmende Panik angesagt.

Ich will zurück auf zweieinhalb, mindestens. Eins ist vollchillig. Kenne ich nicht.

Ich atme etwas ruhiger. Geht doch. Langsam komme ich hoch, stehe auf und schaue aus dem Fenster. Es ist stockdunkel. Draußen setzt sich gerade sehr gemächlich der Frühschichtbus in Richtung Kunststofffabrik in Bewegung, exakt eine Minute zu früh. Es ist 5:36 Uhr. Ich kann nicht erkennen, ob der Bus voll ist, die Scheiben sind beschlagen. Um die Zeit ist er aber immer überfüllt. Schweigende Männer auf dem Weg in die Hölle. Na ja, Peggy übertreibt.

Es ist kalt. In meinem Zimmer. In mir drin. Alles ist wie immer, auch heute.

Ich hab noch eine Menge Zeit, ehe mein 7:16er-Bus fährt, mit dem ich überpünktlich in die Schule komme.

Mein Blick wandert durchs Zimmer: schmales Bett, darüber ein Poster mit dem neuesten BMW-Modell, ein Geschenk von Muckimann Bert. Fand ich eigentlich klasse, als er damit ankam, gleich am ersten Tag, obwohl ich BMW mal grundsätzlich scheiße finde. Ich habe mir aber nichts anmerken lassen und Peggy hat sich gefreut. Und darüber habe ich mich wieder gefreut. Da wusste ich aber noch nicht, dass Muckibert bleibt.

Dann ein Schrank, ein kleiner Tisch, ein Stuhl. Mehr brauche ich auch nicht. Und mein Materiallager. Mein gut gefülltes Regal, mein Überlebensdepot. An- und Verkauf Ron Robert Ranke: Er hat’s oder besorgt’s.

Ich streife mir die Socken über. In der Mitte vom Fuß geht’s nicht weiter. Mann, ist der Kleine groß geworden. Ich mustere mein vollgestopftes Depot an der Wand. Keine Socken, aber Mischgemüse aus der Schulkantine, Ravioli und Fliegerschokolade, die Klamotten aus dem Armeelager, ein Trainingsanzug, unbenutzt. Auch vor den Regalen liegt ziemlich viel rum. Eines der Regalfächer ist ultraordentlich, fällt auf und macht richtig was her: meine gesammelten Matchbox-Autos, in Reih und Glied. Da herrscht voll die Systematik. Mit dieser Sammlung könnte ich bei eBay Kasse machen. Würde ich aber nie tun. Alles andere ja, aber nicht die Matchbox-Sammlung.

Dann: bergeweise Klopapier. Ist letzte Woche der Bushäuschenkaiserin an der Tanke vor die Füße gefallen. War ein Lkw aus Polen, die sind oft schlecht gesichert. »Manchmal hat so ein Grenzgebiet auch Vorteile«, hat sie gesagt.

Als ich mir den Weg freischaufle, falle ich über eine Palette Büchsenmais. Geschenk von der Kantinenköchin, war abgelaufen, ist aber noch genießbar. Neulich hat die Englischpaukerin erzählt, dass auf den Ami-Konserven best before steht. Das hat mir gefallen. Da sagt niemand: abgelaufen, also ab in die Tonne, sondern die sagen dir einfach, wie lange es richtig gut ist und dann vielleicht ein bisschen weniger gut. Aber jedenfalls nicht schlecht. Diese Info hat mein Materiallager irre bereichert und meine Verkaufsquote in die Höhe katapultiert.

Peggys Schlafzimmertür geht auf. Verschlafen stolpert sie in einem dünnen, fast durchsichtigen Fetzen über den Flur, zum Bad. Der Fetzen soll wohl ein Nachthemd sein, quietschgrün mit Punkten.

Wenig später höre ich die Klospülung.

»Was machst du, Dicki?«

»Siehst du doch.«

»Schon wieder Inventur?«

Peggy bringt ein verrutschtes, irgendwie verschwörerisches Lächeln zustande, zwinkert mir zu, und für einen Augenblick denke ich, dass sie mich jetzt umarmen wird. Von der Logik her wär’s jedenfalls passender als heute Nachmittag in der Schule. Obwohl ich’s ja eigentlich gut fände; aber eben nicht vor den andern.

»Käffchen?«, frage ich leise in die Stille hinein.

Ehe Peggy antworten kann, läuft Muckimann Bert über den Flur, nackt, tätowiert und überflüssig.

Peggy guckt mich an, in dem Blick liegt ein kleines schlechtes Gewissen. Dann fängt sie sich aber gleich wieder und schaut leicht verpeilt durch das Zimmer. Zuletzt auf das Mischgemüse im Regal. Sie legt den Kopf schief und fragt: »Weißt du, wie spät es ist? Geh ins Bett!«

Doch da ist Bert schon wieder und prollt: »Peggy, los, komm wieder in die Heia.«

Und weg ist sie.

Ich sortiere, staple, ordne und schreibe. Dabei kann ich die Zeit vergessen und auch sonst alles. Nur Bert in Peggys Bett nicht. Den nicht, der ist Fakt. Ist aber im Moment nicht zu ändern. Noch.

Ich sortiere, staple, ordne, schreibe. Das geht eine Stunde. Dann ist es genug.

Ich prüfe den Zeiger im Kopf. Er zeigt auf vier, das ist noch relativ okay. Eins brauch ich auch gar nicht. Das wäre das vollkommene Glück. Wie im Himmel. Und im Himmel, da ist man tot. Das hat noch Zeit.

Mein Blick geht zur Wand. Das Materialdepot sieht aus, wie ich’s mir in der Armee vorstelle: eins-a geordnet. Meine Laune bessert sich von Minute zu Minute. Draußen wird es langsam heller.

Ich bin fertig mit Rechnen und Ordnen und klappe mein Buch zu. Dann schlappe ich in die Küche, stoße mir den Kopf am Türrahmen, wie jeden Morgen. Als Nächstes drehe ich den Lichtschalter an – und die Glühbirne knallt durch. Mann. Mann. Mann.

Blind krame ich in der Schublade rum, meine Finger stolpern über die Schere, mit der Peggy mir die Haare schneidet. Wäre auch mal wieder nötig, schießt es mir durch den Kopf. In der Schublade befindet sich der gesammelte Killefit der letzten hundert Jahre. Ich taste alles durch und finde einen winzigen Kerzenstumpen neben einem Feuerzeug. Und ein Foto. Dabei dachte ich, ich kenne hier alles. Aber das Foto hab ich noch nie gesehen.

Die Kerze gibt ein bisschen Licht und Wärme. Jedenfalls bilde ich mir das ein, das mit der Wärme. Sieht beinahe gemütlich aus, die Küche, denke ich. Auf dem Foto ist ein blondes Mädel mit einer goldenen Krone. Das Gesicht total zugekleistert. Nur die braunen Augen leuchten. Die kenn ich, aber woher?

Ich starre das Mädel an, als wäre sie die Königin von Mesopotamien. Ich kann nicht weggucken.

Ich drehe das Foto um und lese: Zur Erinnerung, von Ronni, für die Königin aus Letschow. Und dann ein runder Stempel: Fotostudio Letschow steht da und in der Mitte ein unleserlicher Name. Irgendwas mit K.

Ich weiß, wer das auf dem Foto ist!, schießt es mir durch den Kopf. Und mit der Kerze und dem Foto fühle ich so was wie einen Anflug von Glück. Ein Geburtstagsgeschenk für mich, so früh am Morgen …

Der Zeiger steht jetzt auf circa drei. Wenn der Pegel meiner Stressuhr sich Richtung zwei zurückbewegt, fängt das Leben an, echt interessant zu werden.

Die Kerze flackert. Sogar das ausgefranste, fettige Eiffelturmposter neben dem Kühlschrank bekommt jetzt einen Anflug von Romantik. Wenn sie jetzt aufstehen würde, würde ihr das gefallen. Peggy, meiner Mutter.

Ob ich sie wecken soll, ausnahmsweise? Ich schaue durch das Küchenfenster in den grauen Morgen.

Nee, lass ich lieber, ist eindeutig nicht Peggys Zeit. Außerdem liegt ja der Muckimann in ihrem Bett.

Der Kühlschrank ist leer bis auf eine Dose Cola. Ich stelle das Radio an. Fetzen von ...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2017
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-407-74671-7 / 3407746717
ISBN-13 978-3-407-74671-9 / 9783407746719
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