Das Weihnachtsgeheimnis (NA) (eBook)
278 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-24456-6 (ISBN)
Jostein Gaarder, 1952 in Norwegen geboren, studierte Philosophie, Theologie und Literaturwissenschaften. Er war lange Philosophielehrer und lebt heute als freier Schriftsteller in Oslo. Sein Roman Sofies Welt (1993) wurde in über 50 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen von ihm Ein treuer Freund (Roman, 2017) und Genau richtig (2019). 2023 folgte Ist es nicht ein Wunder, dass es uns gibt? Eine Lebensphilosophie.
1. Dezember
Es war in der Abenddämmerung. Die Weihnachtsbeleuchtung war eingeschaltet, dicke Schneeflocken tanzten zwischen den Lichtern. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen.
Zwischen all den Eilenden gingen auch Papa und Joachim. Sie waren in die Stadt gefahren, um einen Adventskalender zu kaufen – leider aber erst in allerletzter Minute. Morgen war schon der 1. Dezember. Am Kiosk und in dem großen Buchladen am Marktplatz waren die Adventskalender schon ausverkauft.
Doch plötzlich zerrte Joachim an Papas Hand und zeigte auf ein kleines Schaufenster. An einem Bücherstapel lehnte ein grellbunter Kalender.
»Da!«, sagte Joachim.
Papa drehte sich um.
»Gerettet!«
Sie betraten den winzig kleinen Buchladen. Joachim fand alles darin alt und heruntergekommen. Die Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen zugestellt, und in sämtlichen Regalen reihten sich die Bücher dicht an dicht. Kaum zwei davon sahen sich gleich. Auf dem Ladentisch lag ein ganzer Stapel Adventskalender. Es gab zwei Sorten. Der eine Kalender zeigte vorn einen Weihnachtsmann mit Rentier und Schlitten. Auf dem anderen war eine Scheune zu sehen, in der ein winzig kleiner Weihnachtsmann aus einer großen Schüssel aß.
Papa hielt die beiden Kalender hoch.
»In dem hier sind Schokoladenfiguren«, sagte er. »Das findet der Zahnarzt wahrscheinlich nicht so gut. Im andern sind Plastikpüppchen.«
Joachim betrachtete die beiden Kalender. Er konnte sich nicht entscheiden.
»Als ich klein war, war das alles ganz anders«, sagte sein Vater.
Joachim blickte zu ihm hoch. Das wollte er doch gern genauer wissen.
»Und wie?«
»Damals war immer nur ein kleines Bild unter den Klappen des Kalenders, für jeden Tag eins. Aber wir waren trotzdem jeden Morgen von neuem gespannt. Wir haben immer erst zu raten versucht, was für ein Bild wohl als Nächstes kommen würde. Und dann … ja, danach haben wir dann die Klappe aufgemacht. Es war, als ob wir die Tür zu einer anderen Welt öffneten.«
Joachim hatte plötzlich etwas entdeckt. Er zeigte auf eines der Bücherregale.
»Da ist noch einer.«
Er lief hinüber, holte den Adventskalender und hielt ihn seinem Vater entgegen. Der Kalender hatte vorn ein Bild von Josef und Maria, die sich über das Jesuskind in der Krippe beugten. Im Hintergrund knieten die drei Weisen aus dem Morgenland. Vor dem Stall standen die Hirten mit ihren Schafen, und vom Himmel schwebten die Engel herab. Einer von ihnen blies eine Trompete.
Die Farben des Kalenders waren blass, als ob er einen Sommer lang in der Sonne gelegen hätte. Aber das Bild war so schön, dass Joachim beim Angucken fast ein bisschen traurig wurde.
»Den will ich«, sagte er.
Papa lächelte.
»Der ist bestimmt unverkäuflich. Ich fürchte, der ist sehr alt. Kann sein, so alt wie ich.«
Joachim ließ nicht locker.
»Die Türchen sind alle noch zu.«
»Der steht nur zur Dekoration.«
Joachim konnte den Blick nicht von dem alten Adventskalender wenden.
»Den will ich«, rief er noch einmal. »Den, der nur einmal da ist.«
Jetzt erschien der Ladenbesitzer. Es war ein weißhaariger Mann. Er machte große Augen, als er den Adventskalender sah, den Joachim in der Hand hielt.
»Ein wunderschönes Stück!«, sagte er. »Und noch … ja, noch ganz im Originalzustand. Er sieht beinah handgefertigt aus.«
»Mein Sohn möchte ihn kaufen«, erklärte Papa und zeigte auf Joachim. »Ich versuche, ihm zu erklären, dass er wohl unverkäuflich ist.«
Der weißhaarige Mann hob die Augenbrauen.
»Sie haben ihn … hier im Laden gefunden? Ich habe so einen Kalender seit Jahren nicht gesehen.«
»Er stand da vor den Büchern«, sagte Joachim und zeigte auf das Regal.
Der Buchhändler nickte.
»Das war wohl wieder der alte Johannes.«
Papa musterte den weißhaarigen Mann.
»Der alte Johannes?«
»Ja, ein komischer Vogel … er verkauft auf dem Markt Rosen, aber niemand weiß, wo er sie herhat. Manchmal kommt er zu mir in den Laden und bittet um ein Glas Wasser. Im Sommer, wenn es heiß ist, gießt er sich schon mal den Rest über den Kopf, ehe er wieder geht. Zweimal hat er auch mich mit ein paar Tropfen bespritzt.«
Papa nickte, und der Weißhaarige fuhr fort:
»Als Dank für das Wasser legt er ab und zu ein oder zwei Rosen auf den Ladentisch … oder stellt ein altes Buch ins Regal. Einmal hat er das Bild einer jungen Frau ins Schaufenster gestellt. Es stammte aus einem fernen Land. Vielleicht kommt er ja selber daher. Auf dem Bild stand: Elisabet.«
Papa blickte dem Buchhändler in die Augen.
»Und jetzt hat er einen Adventskalender hinterlassen?«
»Sieht so aus.«
»Auf dem Kalender steht was«, sagte Joachim. Er las laut vor: »MAGISCHER ADVENTSKALENDER. PREIS: 75 ÖRE.«
Der Ladenbesitzer nickte.
»Dann muss er schon sehr alt sein.«
»Kann ich ihn für 75 Öre haben?«, fragte Joachim.
Der weißhaarige Mann lachte.
»Ich glaube, du kannst ihn umsonst haben. Bestimmt hat ihn der alte Johannes genau für dich da hingestellt.«
»Tausend Millionen Dank«, antwortete Joachim, der schon mit dem Kalender unterwegs aus dem Laden war.
Papa gab dem Buchhändler die Hand, und gleich darauf stand auch er wieder auf der Straße.
Joachim drückte den Kalender an sich.
»Morgen mach ich ihn auf«, sagte er.
In der Nacht wurde Joachim immer wieder wach. Er dachte an den weißhaarigen Buchhändler und an Johannes mit den Rosen, die er auf dem Markt verkaufte. Einmal ging Joachim ins Badezimmer und trank Wasser aus dem Hahn. In dem Moment fiel ihm wieder ein, dass sich Johannes angeblich Wasser über den Kopf gegossen hatte.
Vor allem dachte Joachim aber an den magischen Adventskalender, der mindestens so alt wie Papa war. Merkwürdig war nur, dass trotz dieses Alters niemals jemand die Türchen geöffnet hatte. Vor dem Schlafengehen hatte Joachim immer wieder alle Klappen von 1 bis 24 betrachtet. Für Heiligabend war das Türchen viermal so groß wie die anderen. Es reichte fast über die ganze Krippe im Stall.
Wo hatte nur der magische Adventskalender über vierzig Jahre verbracht? Und was würde passieren, wenn Joachim in ein paar Stunden die erste Klappe öffnete? Sie hatten den Kalender über sein Bett gehängt.
Als er wieder wach wurde und der Wecker sieben Uhr zeigte, stand Joachim auf und versuchte, das erste Türchen zu öffnen. Er war so nervös, dass er das Türchen kaum zu fassen kriegte. Schließlich gelang es ihm aber doch, eine Ecke loszupulen, danach ging alles ganz leicht.
Joachim starrte auf das Bild eines Spielwarenladens. Zwischen den Spielsachen und den Menschen davor standen ein kleines Lamm und ein Mädchen. Doch er konnte sich das Bild gar nicht genau ansehen, denn beim Öffnen des Türchens war etwas auf sein Bett gefallen. Er bückte sich und hob es auf. Es war ein dünner, viele Male zusammengefalteter Zettel. Als er ihn auseinanderfaltete, sah er, dass auf beiden Seiten etwas geschrieben stand. Er versuchte, die winzige Schrift zu entziffern und las:
Das Glockenlamm
Elisabet!«, rief die Mutter hinter ihr her.
Elisabet Hansen hatte den großen Haufen Teddys und Kuscheltiere angestarrt, während ihre Mutter nach Weihnachtsgeschenken für die Cousinen suchte. Plötzlich sprang ein kleines Lamm aus dem großen Haufen. Es sprang auf den Boden und schaute sich um. Am Hals trug es eine Glocke, die jetzt mit den Registrierkassen um die Wette bimmelte.
Ein Kuscheltier mit einer Glocke um den Hals hatte Elisabet schon oft gesehen. Aber wie konnte ein Stofftier plötzlich lebendig werden? Elisabet war so verblüfft, dass sie einfach hinter dem Lamm herrannte, quer durch den Laden auf die Rolltreppe zu.
»Komm her, mein Lämmchen!«, lockte sie.
Bald stand das Glockenlamm auf der Rolltreppe, die zum nächsten Stockwerk hinunterführte. Die Treppe bewegte sich ziemlich schnell, und das Lamm war noch ein bisschen schneller. Elisabet musste jetzt also schneller sein als Rolltreppe und Lamm zusammen, wenn sie das Lamm noch einholen wollte.
»Komm jetzt, Elisabet!«, sagte in dem Moment ihre Mutter mit mürrischer Stimme.
Aber Elisabet war schon auf die Rolltreppe gesprungen. Sie sah, dass das Lamm durch das Erdgeschoss wanderte, wo Unterwäsche und Schlipse verkauft wurden.
Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, lief sie in dieselbe Richtung wie das Lamm. Das hatte jetzt schon die Straße erreicht, wo die Schneeflocken zwischen den vielen Weihnachtslichtern tanzten, die an dünnen Drähten über die Straße hingen.
Elisabet stieß ein Gestell mit Winterhandschuhen um und stürzte hinter dem Lamm her.
Draußen im Straßenlärm konnte sie kaum noch hören, ob im Kirkeveien eine Glocke bimmelte. Aber Elisabet gab nicht auf. Sie war fest entschlossen, dem Lamm das weiche Fell zu streicheln.
»Komm her, mein Lämmchen!«
Das Glockenlamm lief bei Rot über die Kreuzung. Vielleicht glaubte es,...
Erscheint lt. Verlag | 30.9.2013 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Julemysteriet |
Themenwelt | Literatur |
Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre | |
Schlagworte | Advent • Geschichte • Reise • Vorlesegeschichten • Weihnachten |
ISBN-10 | 3-446-24456-5 / 3446244565 |
ISBN-13 | 978-3-446-24456-6 / 9783446244566 |
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