1. KAPITEL
Blätter streiften Häherjunges’ Pelz wie fallender Schnee. Laub raschelte unter seinen Pfoten, steif gefroren bedeckte es den Boden so hoch, dass er sich Pfotenschritt für Pfotenschritt vorwärts kämpfen musste. Ein eisiger Wind kroch ihm unter seinen kinderstubenweichen Pelz und er zitterte.
»Warte auf mich!«, maunzte er. Er hörte die Stimme seiner Mutter, die mit ihrem warmen Körper stets ein paar Pfotenschritte vor ihm unerreichbar blieb.
»Die kriegst du nie!«
Ein hohes Miauen riss ihn aus seinem Traum und Häherjunges schreckte auf. Mit gespitzten Ohren lauschte er auf die vertrauten Geräusche in der Brombeer-Kinderstube. Schwester und Bruder krabbelten verspielt herum. Rauchfell leckte ihre dösenden Jungen. Es gab hier keinen Schnee, er war im Lager, warm und sicher. Der Geruch seiner Mutter wehte aus ihrem Nest zu ihm herüber, immer noch frisch, obwohl sie es längst verlassen hatte.
»Autsch!«, rief er erschrocken, als seine Schwester Disteljunges mit einem Plumps auf ihm landete. »Pass doch auf!«
»Endlich bist du wach!« Sie ließ sich von ihm herunterrollen und stürzte sich auf etwas ganz in der Nähe.
Maus! Häherjunges konnte sie riechen. Sein Bruder und seine Schwester hatten vermutlich Fangen gespielt, mit der Frischbeute, die gerade ins Lager gebracht worden war. Er sprang auf die Pfoten und streckte sich ausgiebig, bis sein kleiner Körper zitterte.
»Fang, Häherjunges!«, miaute Disteljunges. Pfeifend saus-te die Maus an seinem Ohr vorbei.
»Lahme Schnecke!«, foppte sie ihn, als er sich zu spät umdrehte, um danach auszuholen.
»Ich hab sie!«, rief Löwenjunges. Pfoten plumpsten auf den festgetretenen Boden, als er mit der Frischbeute landete.
So einfach würde sich Häherjunges die Beute nicht von seinem Bruder wegschnappen lassen. Er war vielleicht der Kleinste im Wurf, aber er war schnell. Mit einem Satz in Löwenjunges’ Richtung schubste er ihn aus dem Weg und streckte eine Vorderpfote nach der Maus aus.
Er rutschte aus und landete ungelenk am Boden, überschlug sich und zuckte vor Schreck zusammen, als er merkte, dass das kein Moos war, was er da unter sich spürte, sondern eins von Rauchfells winzigen Jungen. Rauchfell stieß ihn mit den Hinterläufen beiseite.
Häherjunges schnappte nach Luft. »Habe ich ihr wehgetan?«
»Natürlich nicht«, antwortete Rauchfell schroff. »Du bist so klein, dass du nicht einmal eine Fliege zerquetschen könntest!« Fuchsjunges und Eisjunges maunzten, ihre Mutter schob sie dichter an ihren Bauch. »Aber ihr drei werdet allmählich zu wild für die Kinderstube!«
»Entschuldige, Rauchfell«, miaute Disteljunges.
»Entschuldige, Rauchfell«, echote Häherjunges verzagt, obwohl ihn Rauchfells Bemerkung über seine Größe gekränkt hatte. Doch der Ärger der Königin würde schnell verfliegen. Jungen, die sie selbst aufgezogen hatte, konnte sie nie lange böse sein – Rauchfell war es gewesen, die Häherjunges, Disteljunges und Löwenjunges in den Monden vor Fuchsjunges’ und Eisjunges’ Geburt gesäugt hatte, als bei Eichhornschweif der Milchfluss ausblieb.
»Es wird Zeit, dass euch Feuerstern zu Schülern ernennt, damit ihr in den Bau der Schüler umzieht«, miaute Rauchfell.
»Das wäre schön«, seufzte Löwenjunges.
»Wird nicht mehr lange dauern«, verkündete Disteljunges. »Wir sind schon fast sechs Monde alt.«
Wie immer, wenn er an sein künftiges Schülerdasein dachte, begann Häherjunges’ Bauch vor Aufregung zu rumoren. Er konnte es kaum erwarten, mit dem Training zu beginnen. Aber auch ohne Rauchfells Miene zu sehen, spürte er den leisen Zweifel, der sich unter dem Pelz der Königin regte, und wusste, dass sie ihn mitfühlend ansah. Sein Fell sträubte sich vor Enttäuschung – er war für seine Ernennung zum Schüler bereit, genau wie Disteljunges und Löwenjunges!
Ohne zu merken, dass Häherjunges ihr Zögern mitbekommen hatte, antwortete Rauchfell an Disteljunges gewandt: »Noch seid ihr keine sechs Monde alt! Und deshalb müsst ihr vorerst draußen weiterspielen!«
»Wir gehen schon, Rauchfell«, antwortete Löwenjunges kleinlaut.
»Komm, Häherjunges«, rief Disteljunges. »Und nimm die Maus mit.« Der raschelnde Brombeerstrauch sagte ihm, dass sie durch den Eingang der Kinderstube schlüpfte.
Häherjunges packte die Maus vorsichtig mit den Zähnen. Sie war frisch gefangen und noch weich, er wollte nicht, dass sie zu bluten anfing – noch konnten sie hübsch mit ihr spielen. Gefolgt von Löwenjunges, kroch er hinter seiner Schwester her. Die Ranken vor dem Ausgangstunnel kratzten ihn im Pelz. Sie waren spitz genug, um sich in seinem Fell zu verhaken, aber nicht so scharf, dass sie ihm wehgetan hätten.
Draußen roch die Luft frisch und frostig. Feuerstern gab sich mit Sandsturm unter der Hochnase Zungen. Borkenpelz saß auch bei ihnen. »Wir sollten darüber nachdenken, wie wir den Bau der Krieger erweitern können«, riet der Krieger mit dem dunklen Pelz seinem Anführer. »Er ist jetzt schon überfüllt und die Jungen von Minka und Ampferschweif werden nicht ewig Schüler bleiben.«
Wir erst recht nicht!, dachte Häherjunges.
Lichtherz und Wolkenschweif putzten sich gegenseitig bei einem Sonnenbad auf der anderen Seite der Lichtung. Häherjunges hörte ihre Zungen stetig lecken. Sie hatten dicke Pelze wie alle DonnerClan-Katzen in der Blattleere, aber darunter waren die Muskeln wegen der spärlichen Beute und der anstrengenden Jagd sehnig geworden.
Außer Hunger hatte die Blattleere noch anderes Unheil mitgebracht. Maulwurfpfote, eines von Ampferschweifs Jungen, war an einem Husten gestorben, auf den Blattsees Kräuter nicht angesprochen hatten. Und Regenpelz war in einem Sturm von einem abgebrochenen Ast getötet worden.
Lichtherz hielt im Putzen inne. »Wie fühlst du dich heute, Häherjunges?«
Häherjunges legte die Maus zwischen seinen Pfoten ab, wo sie vor Disteljunges sicher war. »Gut geht es mir, was sonst?«, miaute er. Warum musste Lichtherz immer so viel Getue um ihn machen? Er hatte schließlich nur eine Nacht in der Kinderstube hinter sich und keine wilde Jagd! Ständig schien sie ihn mit ihrem einen gesunden Auge zu überwachen. Um zu zeigen, dass er genauso stark war wie sein Bruder und seine Schwester, schleuderte Häherjunges die Maus hoch über Disteljunges’ Kopf hinweg.
Als Löwenjunges’ Pfoten an ihm vorbeitrommelten, der sie sich vor Disteljunges schnappen wollte, ertönte Eichhornschweifs Stimme von einer Seite der Kinderstube. »Ihr solltet eurer Beute mehr Respekt erweisen!« Ihre Mutter war damit beschäftigt, Blätter in die stacheligen Löcher an der Außenwand des Baus zu stopfen. Minka half ihr dabei. »Junge sind und bleiben eben Junge«, schnurrte die Kätzin besänftigend.
Häherjunges’ Nasenflügel bebten, wenn ihm Minkas seltsamer Geruch entgegenwehte. Sie roch anders als die im Clan geborenen Katzen und einige Katzen sagten immer noch Hauskätzchen zu ihr, weil sie früher am Pferdeort gelebt und Zweibeinerfraß gegessen hatte. Minka war keine Kriegerin, denn sie hatte nicht vor, die Kinderstube zu verlassen, aber ihre Jungen Mauspfote, Haselpfote und Beerenpfote waren jetzt Schüler und Häherjunges konnte keinen Unterschied zwischen ihnen und seinen übrigen Clan-Gefährten erkennen.
»Sie werden nicht mehr lange Junge bleiben«, sagte Eichhornschweif zu Minka, während sie ihr mit ihrem langen Schwanz mehr Blätter hinschob. Das harsche Rascheln erinnerte Häherjunges an seinen Traum.
Häherjunges mochte die cremeweiße Kätzin sehr. Minka war zwar nicht seine Mutter, hatte ihn aber zusammen mit Rauchfell gewärmt und gewaschen, wenn Eichhornschweif wegen ihrer Pflichten für den Clan von der Kinderstube ferngehalten wurde. Seine Mutter hatte sehr bald nach der Geburt ihrer Jungen ihre Kriegerpflichten wieder aufgenommen. In der Kinderstube lag zwar noch ein Nest für sie bereit, aber sie benutzte es immer seltener und zog es vor, im Bau der Krieger zu übernachten, wo sie die Jungen und die säugenden Königinnen nicht störte, wenn sie früh aufstand, um auf Morgenpatrouille zu gehen.
»Zieht es jetzt immer noch, Rauchfell?«, rief Eichhornschweif durch den Außenwall der Kinderstube.
»Nein«, ertönte Rauchfells Stimme hinter dem Gewirr aus Ranken. »Wir haben es hier drinnen warm wie Fuchsjunge.«
»Gut«, miaute Eichhornschweif. »Würdest du hier aufräumen, Minka? Ich habe Brombeerkralle meine Hilfe angeboten, wenn er rund um den Felsenkessel nach losen Steinen Ausschau hält.«
»Lose Steine?«, fragte Minka entsetzt.
»Ein solider Schutzwall wie unserer ist sehr nützlich.« Eichhornschweifs Stimme hallte, während sie den Blick über die kahlen Felswände schweifen ließ, die das Lager fast überall umgaben. »Aber bei diesem Frost könnten sich hier und da Steine gelockert haben und wir wollen verhindern, dass sie ins Lager fallen.«
Häherjunges wurde abgelenkt, weil der bittere Gestank nach Mäusegalle vom Bau der Ältesten herüberwehte. Vermutlich befreite Blattsee Langschweif und Mausefell gerade von Zecken. Ein wesentlich angenehmerer Duft kündigte die Rückkehr von Mauspfote und Haselpfote an – Minkas Junge brachten Frischbeute von ihrer Jagdpatrouille mit. Aufgeregt kamen sie ins Lager gerannt, Mauspfote mit zwei Mäusen und Haselpfote mit einer riesigen Drossel zwischen den Zähnen. Sie ließen ihren Fang auf den Frischbeutehaufen fallen.
Plötzlich kam eine pelzige Kugel angesaust und riss Häherjunges von den Pfoten.
»Spielst du jetzt...