Die psychologische Hintertreppe - Wolfgang Schmidbauer

Die psychologische Hintertreppe

Kleines 1 x 1 der Seelenkunde
Buch | Hardcover
208 Seiten
2008
Gütersloher Verlagshaus
978-3-579-06982-1 (ISBN)
14,95 inkl. MwSt
  • Titel ist leider vergriffen, Neuauflage unbestimmt
  • Artikel merken
Ein psychologischer Ratgeber, lexikalisch angelegt und verständlich geschrieben.


- Neue Zugangswege zu komplexen Sachverhalten
- Ein kleines, nützliches »Taschen«-Kompendium


Wer sich zu einem bestimmten Thema mit der Hilfe eines Fachbuches informieren möchte, der hat ein Problem: Komplizierte Sachverhalte und zahllose Fachbegriffe machen dem Laien das Verstehen nahezu unmöglich.
Der bekannte und renommierte Psychotherapeut Wolfgang Schmidbauer wählt hier einen anderen Weg: Er nimmt die Hintertreppe - die zum gleichen Ziel führt. Für sein kleines 1 x 1 der Seelenkunde hat er emotional aufgeladene Begriffe des Alltags von Abhängigkeit bis Zusammenleben gesammelt und erklärt diese so, dass jede und jeder sie verstehen und nutzen kann.


Wolfgang Schmidbauer, geboren 1941, Dr. phil., studierte Psychologie und promovierte 1968 über "Mythos und Psychologie". Er lebte dann einige Jahre als Autor in Italien. 1972 gründete er mit Kollegen ein Institut für analytische Gruppendynamik und wenig s

VORBEMERKUNG Jede Wissenschaft hat einen Haupteingang und eine Hintertreppe. Wer viel Zeit und die richtigen Zeugnisse hat, kann den Haupteingang benutzen; alle anderen tun sich schwer, am Portier vorbeizukommen und einen Platz zu finden, an dem sie sich wohlfühlen. Wenn sie aber nicht ganz darauf verzichten wollen, sich selbst und andere Menschen besser zu verstehen und sich die eine oder andere Hilfe zu holen, schlage ich die Hintertreppe vor. Sie führt direkt in die Küche, und oft sind Abende in der Küche besonders gemütlich, in denen der Gast nicht das perfekt zubereitete Mahl genießen soll, sondern zusammen mit dem Gastgeber improvisiert, bis beide das Menu fertiggestellt haben, das ihnen am meisten zusagt. So verwende ich auch in Therapien manchmal die Floskel: »Meine Küchenpsychologie würde jetzt nahelegen ...« oder »Gemäß meiner Hintertreppenpsychologie ...«, um einer Deutung sozusagen das bescheidene Kleid anzulegen, das sie meines Erachtens tragen sollte, um dem Gesprächspartner nichts vorzugeben, sondern ihn als Kooperationspartner zu gewinnen. Um etwas von dieser Hintertreppenpsychologie festzuhalten, habe ich in den letzten zehn Jahren während meiner Ferien versucht, emotional aufgeladene Begriffe des Alltags aus diesem Blickwinkel zu betrachten. Ich schrieb diese Betrachtungen in eines jener schwarzen Hefte »Made in china« mit roten Ecken und habe sie hier gesammelt. Kein Analytiker, der seine Methode ernst nimmt, hat reale Aussichten auf den Nimbus des rechten, des allein selig machenden Glaubens. Er wird sich immer eher auf die Seite der Unterdrückten als auf die Seite der Mächtigen schlagen. So hätte, als die SED in der DDR noch mächtig war, kein Psychoanalytiker die Chance erhalten, im »Neuen Deutschland« eine Kolumne zu schreiben. Aber als die mächtige SED zur verfemten PDS wurde und das »Neue Deutschland« mehr schlecht als recht überlebte, fragte mich Christine Matte, eine der Kämpferinnen für dieses Überleben, ob ich nicht eine solche Kolumne schreiben wolle. Ich war einverstanden und habe es nicht bereut, diese Hintertreppe in die Medienwelt zu benutzen. Das Interesse der Leser und der Redaktion hat mich ermutigt, aktuellen Problemen eine psychologische Seite abzugewinnen und so Zugangswege zu erschließen. Wenn also einem regelmäßigen Leser des »Neuen Deutschland« manches vertraut erscheint, was er auf der Hintertreppe findet, ist das kein Zufall. Wolfgang Schmidbauer ABHÄNGIGKEIT Viele Organismen sind voneinander abhängig. Dieser Begriff beschreibt das Wesen des Sozialen. Geschlechtliche Fortpflanzung bindet den einen an die andere; ohne die das Geschäft scheitern muss. Radikal unabhängig sind nur die Einzeller, die sich ohne Einwirken Dritter teilen und damit vermehren können. In mehrzelligen Organismen können die einzelnen Bestandteile in der Regel nur zum Schaden aller voneinander getrennt werden. Psychologisch interessant und typisch menschlich scheint die Angst vor Abhängigkeit. Gar nicht selten äußern Menschen den Wunsch, eine Beziehung zu beenden, weil sie sonst fürchten müssten, abhängig zu werden. Andere kappen Bindungen, ohne sich dieser Angst überhaupt bewusst zu sein. Sie tun es einfach und beklagen nachher ihre Einsamkeit. Dieses Verhalten signalisiert ein nicht überwundenes Trauma durch einen Verlust. Gesunde Kinder kennen diese Angst nicht, sie eilen zur Mutter, lassen sich mit allem Notwendigen versorgen. Sie laufen von der Mutter fort, wenn sie sich von ihr zu sehr gehemmt fühlen, suchen ihre Nähe, wenn sie sich zu fern erleben. Das traumatisierte Kind weist bald alle zärtlichen Bemühungen der Mutter zurück, bald will es sie nicht mehr loslassen und fürchtet jede Trennung. Schmerzliche Abhängigkeit ist mit der Phantasie von Einseitigkeit verbunden. Wir haben keine Kontrolle über den anderen, fühlen uns ihm aber auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das Urbild ist der Säugling, der vergebens nach der Mutter schreit, weil sie entweder nicht kommt oder zwar kommt, ihm aber verweigert, was er will. Diese Abhängigkeit erscheint zweckmäßig - das Kind braucht schließlich den zugewandten Erwachsenen und weiß in der Regel, dass es alles tun muss, um ihn nicht zu verlieren. Doch es gibt viele Abhängigkeiten Erwachsener, deren Sinn wir erst verstehen, wenn wir uns klarmachen, dass unser Selbstwertgefühl während dieser frühen Wechselbeziehungen mit der Sicherheit spendenden Mutter entsteht und wir unser Leben lang dazu neigen, ähnliche Beziehungen herzustellen. Solche Beziehungen werden durch Idealisierung gewonnen, die wir meist als Verliebtheit oder Verehrung erleben. Wir wollen sie kontrollieren, um uns sicher zu fühlen. Solange uns das im Guten gelingt, wir gar solche Sicherheitsspenden austauschen können (»Ich liebe dich« - »ich dich auch«), sitzen wir fest im Sattel. Aber wehe, wenn der Partner sich nicht mehr kontrollieren lässt. Es gibt Fälle, in denen ein Mann nach kurzer Liebesbeziehung die Trennung nicht erträgt, seine einstige Geliebte verfolgt, nur noch an sie zu denken scheint und sich immer mehr in einen Zustand verrennt, in dem er sie entweder in unbedingter Unterwerfung zurückhaben oder sich nur noch rächen, sie vernichten will. All dies deutet auf eine emotionale Abhängigkeit hin. Er aber hat dieses Gefühl nicht ertragen können, weil er sich zwar wie ein Rasender wünscht, geliebt zu werden, aber selbst nur wenig lieben kann. Ihre Liebe hatte ihn besser gemacht, als er war; ihre Verstrickung, wenn es denn eine gibt (denn manche dieser Verliebtheiten spielen sich ganz in der Phantasie ab) gleicht jener, von der Äsop in der Geschichte von der Schlange erzählt: Ein Mann findet an einem Wintertag eine Schlange, die in der Kälte ganz erstarrt und dem Tode nah ist. Er bedauert das Elend des Tieres und wärmt es unter seinem Mantel, bis die Schlange - zum Leben erwacht - ihre Zähne in ihn schlägt. »Undankbare!«, ruft der Mann. »Nun müssen wir beide sterben, ich aber wollte dir das Leben retten!« »Du wusstest, dass ich eine Schlange bin«, sagt die Schlange. Meine Küchenpsychologie sagt, dass wir darauf achten müssen, unsere Mitmenschen auch nicht mit dem Guten zu überfordern, das wir ihnen antun. Die goldene Regel der Ethik - »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu!« nützt keineswegs immer; ähnlich wie der Kranke oder Allergiker Speisen nicht verträgt, die der Gesunde problemlos genießen kann, ist auch die Liebe nicht für jeden bekömmlich. Wer einer Schlange helfen will, muss sie in ihrem Wesen achten und darf nicht glauben, dass seine Bedürfnisse auch die ihren sind. ABLÖSUNG Dieser Ausdruck wird gebraucht, um das Erwachsenwerden von Kindern zu beschreiben: Sie lösen sich von den Eltern, vom Nest, werden unabhängig, versorgen sich, hinterlassen Leere oder Freiheit, je nachdem, wie die Eltern es sehen. Verwandt ist ein Bedeutungsfeld, in dem ein Soldat den erschöpften Kameraden auf seinem Posten ablöst. Nach dieser Metapher lösen sich die Kinder nicht von den Eltern, sondern sie lösen die Eltern ab, indem sie selbst Eltern werden. Diese Qualität hat etwas Tröstliches: Die Ablösung schafft keine Leere, sondern nur einen Wechsel; die abgelösten Eltern atmen auf, jetzt treten andere ihren Dienst an. Wenn ein 40-Jähriger »noch« bei den Eltern wohnt und sein viertes Studium beginnt, heißt es: Die Ablösung ist verzögert. Er löst sich/die Eltern nicht ab. Meist hat das mit Störungen der Aggressionsverarbeitung zu tun. Die Mutter hat ihrem Jüngsten, ihrem Liebling, nach einem Jähzornsanfall gesagt, er werde ein Verbrecher, wenn er so weitermache. Darauf hat der 10-Jährige sich in seine Bücher vertieft und die Philosophie Senecas als Lebensmaxime gewählt. Er hat Soziologie studiert, Volkswirtschaft, schließlich Pädagogik, hat promoviert und lebt, inzwischen 42 Jahre alt, im Haushalt der Eltern, als einziger Sohn, unverheiratet und arbeitslos. Bei den Pavianen ist es die Mutter, die den erwachsenen Sohn wegschubst: Er soll für sich sorgen und ihr nichts mehr wegnehmen. Zur »Affenliebe« sind nur die Menschen fähig. Im Tierreich sind Erwachsene keine Kinder mehr; menschliche Eltern und Kinder hingegen werden so stark durch Phantasien beeinflusst, dass Kinder Spiegelbilder der eigenen Eltern sein können. So kann der 40-Jährige den Eltern verlorene Väter, uneinfühlsame Mütter ersetzen - ihm wiederum eigene Kinder. Die Unabgelösten befreien sich aus der Realität (der Sexualität, der Zeit) und schaffen Illusionen einer absoluten Dauer. ADRENALINKICK In dem Märchen der Brüder Grimm von dem Mann, der auszog, das Gruseln zu lernen, finden wir die schönste Darstellung eines Phänomens, das die Psychologen »Angstlust« nennen. Die meisten Menschen empfinden es als Zumutung, zur Geisterstunde über einen Friedhof zu laufen oder im Vertrauen darauf, dass Gummiseile sie an den Fußknöcheln halten, in einen Abgrund zu springen. Aber es gibt eine qualifizierte Minderheit, welche solche Erlebnisse »toll« findet. Diese Minderheit wächst parallel zum Wohlstand und der Sicherheit eines Lebens in Frieden, und mit ihr auch die Faszination durch den Adrenalinstoß, nach dem sich auch der Held des Märchens sehnt. Den Boden unter den Füssen aufzugeben, sich ins Bodenlose zu stürzen, den Tod vor sich zu fühlen, ihn aber gleichzeitig rational ausschließen zu können, ist keine Perversion. Hier wird eine Lust formuliert, die schon kleine Kinder kennen, welche nicht mehr von der Schaukel herunter wollen. Auch diese wirft sie doch in raschem Wechsel ins Bodenlose und hält sie zurück, was ein wohliges Kribbeln in den Bauch jagt. Solche Empfindungen werden gesteigert und mit hohem technischem Aufwand befriedigt, wenn Ingenieure eine neue Achterbahn konstruieren. Diese soll mehr Angst bieten, aber nicht weniger Sicherheit als die alte. Sie schleudert kreischende Insassen in Höhen und Abgründe, bringt sie dazu, sich vor Schreck zu übergeben. Sie zahlen willig für diese Leiden; das Glücksgefühl setzt ein, wenn der Event überstanden ist. Freud hat in seinem Text über das Unbehagen in der Kultur die technischen Erleichterungen unseres Lebens mit jenem »billigen Vergnügen« verglichen, das man sich verschafft, »indem man in kalter Winternacht ein Bein nackt aus der Decke herausstreckt und es dann wieder einzieht.« Der Bungee-Sprung passt in dieses Muster, er ist allerdings - anders als das billige Vergnügen - nicht umsonst. Der Kunde springt, ohne genau zu wissen, warum er das gerade in diesem Augenblick tut - er will es einfach hinter sich haben. Er fürchtet anfangs, dass die Gummiseile nicht funktionieren, die seinen Sturz dämpfen und auffangen sollen. Sobald sie greifen und er weiß, dass er überleben wird, macht sich das Glücksgefühl breit. Das Ganze wird als Erweiterung menschlicher Potenziale gerühmt. Das könnte auch jemand sagen, der uns Kokain verkauft, und wir könnten antworten, dass der Gewinn für unsere Psyche zweifelhaft, der für sein Bankkonto jedoch eindeutig sei. Tatsächlich haben »legale« und »illegale« Risikoaktivitäten viel gemeinsam: Bungee-Jumping und Kokain schnupfen, die schwarze Piste fahren und in der Disco Ecstasy einwerfen. Aus diesem Grund ist es auch der Bevölkerung schwer vermittelbar, dass nur die eine Variante eines möglicherweise gesundheitsschädlichen Nervenkitzels von den Gesetzen toleriert wird. Unter den Szenen in Grimms Märchen ist mir eine in Erinnerung geblieben, in der sich der Held mit Schnitzmesser und Drechselbank in einem Gespensterschloss einschließen lässt. Es kommen grauenhafte Geister, die mit Totenschädeln und -gebeinen kegeln wollen. Sie fordern den Menschen in drohendem Ton auf, mitzumachen. Dieser spannt unbeirrt die Totenschädel in seine Drehbank, drechselt sie schön rund und sagt, dass sie jetzt doch besser rollen. So muss sich der Spuk geschlagen geben - dem Angstlosen ist nicht beizukommen. Eine Mutter stellte mir in den 80er Jahren ihren Sohn vor: Ob etwas mit dem 10-Jährigen nicht in Ordnung sei? Dieser habe auf einem Dorffriedhof Knochen gefunden und sie mit nach Hause genommen, um sie in sein Spiel mit den Figuren von He-Man und Skeletor einzubauen. Diese beiden waren die Helden einer damals beliebten, sowohl für Plastikspielzeug wie für Zeichentrickfilme und Computerspiele verwendeten Ereigniswelt mit muskulösen Männern, bösen Feinden, schönen Frauen, Magie und Zauberwaffen. Skeletors Schloss Castle Grayscull ist wie ein Totenkopf gestaltet, der böse Held selbst trägt (ähnlich dem bösen Imperator in »Mortal Combat«) einen Totenschädel über muskulösem Oberkörper. Wer als Schulkind Skeletor in Plastikausführung besaß, soll einen echten Totenschädel finden und nicht mit ihm spielen? Angesichts der Bundeswehrsoldaten, die in Afghanistan mit Schädeln und Knochen posierten, verwundert eher die Aufregung der Medien als die Aktion selbst. Im Kampf gegen den Terror ist der Tod ebenso unfassbar wie allgegenwärtig. Die europäischen Soldaten haben kaum Möglichkeiten, ihr Selbstbewusstsein so zu entwickeln, wie das Soldaten seit Jahrhunderten tun: indem sie kämpfen und siegen. Gesunde, kräftige junge Männer sind monatelang damit beschäftigt, sich zurückzuhalten, Zivilisten zu kontrollieren, die guten Bürger vor den bösen zu schützen, wobei sie keine Ahnung haben, wer jetzt welcher Seite zuzuordnen ist. Sie sammeln vor allem Erlebnisse des Versagens: Wenn nichts passiert, sind sie überflüssig und kosten nur Geld. Wenn sie die Attentate nicht verhindern können - warum sind sie überhaupt da? Da mag es ein makaberer Trost sein, endlich des Todes habhaft zu werden, der sonst doch nur ungreifbar und unauffindbar in der Menge schutzbedürftiger Zivilisten steckt, endlich beweisen zu können, dass sich ein deutscher Panzersoldat vor nichts fürchtet und kein Grausen, kein Gruseln kennt. In den Medien wurden »pädagogische Defizite« beklagt. Freilich ist eine gewisse Unsicherheit darüber entstanden, wo diese liegen: bei den Soldaten, die in einer Kiesgrube mit den Knochen gespielt haben, oder bei der Bildzeitung, die Fotos dieser Taten einem breiten Publikum erschließt. AFFÄREN stellen wir uns vor, dass Flugreisen geheim gehalten werden und die geräuschlosen Maschinen nur nachts verkehren. In dieser Situation erfahren wir von solchen Reisen nur dann, wenn wir selbst in einem Flugzeug sitzen, oder wenn wir davon hören, dass eins abgestürzt ist. Dieser Vergleich hat seinen Zweck erfüllt, wenn er veranschaulicht hat, dass sehr viel an heimlicher Liebe ohne jede Auffälligkeit abläuft. Je mehr von ihr bekannt wird, desto reizloser wird sie. Die heimliche Liebe oder Affäre ist häufig ein Versuch, die anfängliche Verliebtheit zu retten. Sie soll so schnell wieder verlassen oder sichtgeschützt und möglichst taktvoll ausgedehnt werden, dass die Hauptbeziehung nicht leidet. Die heimliche Liebe kann gelingen, das ist weder unmoralisch noch unmöglich. Aber sie setzt, nicht anders als der Ehealltag, ein Mindestmaß an Reife, an Vernunft, an Bereitschaft voraus, Grenzen zu akzeptieren und sich in menschliche Belastungen einzufühlen. Eine Affäre wird riskant, wenn versucht wird, sie wichtiger zu machen als die Hauptbeziehung und sie nur fortgeführt werden kann, indem diese entwertet wird. Wer behauptet, sich eigentlich von einem bösen Partner zu trennen und es nur deshalb nicht längst schon getan hat, weil dieser sonst Selbstmord begeht, die Kinder raubt, den Betrieb ruiniert, macht sich etwas vor. Er erkauft die Illusion der Verliebtheit durch Entwertung eines Dritten. Nachdem die Realität des festen Partners nicht geleugnet werden kann, wird wenigstens sein Wert bestritten. Zu den Argumenten gegen die Affäre gehört, dass sie zu einer Art innerer, andauernder Untreue führt. Der oder die Eifersüchtige neigen sehr häufig zur Phantasie, dass - wer doch intensive Erotik mit einem oder einer Dritten erlebt hat - nur ungern zu Partner oder Partnerin, mit der Vorstellung einer zweiten Wahl zurückkehren wird. Solche Einwände vernachlässigen die ekstatische Beschaffenheit gelingender Erotik. Wer behauptet, mit A zu schlafen sei tausendmal schöner als mit B, sollte nicht mitreden, wenn es um Lust geht. Solange er vergleichen und nachrechnen kann, hat er den Rausch der Liebe nicht genossen. Wer Register anlegt und Liebesspiele vergleicht, wer Zensuren vergibt und andere verdächtigt, ihn zu zensieren, urteilt im Grunde nur über das Maß, in dem Rivalität und Leistungsdenken seine erotischen Bezirke infiltriert haben. Die Affäre ist nicht nur ein wesentlicher Anlass für Eifersucht, umgekehrt ist auch die Eifersucht ein Anlass für die heimliche Liebe: Sie wird verheimlicht, um der Eifersucht des Partners zu entgehen. Ich erinnere mich an ein Lehrerehepaar. Die Frau war irgendwann ihrer dienenden Rolle müde und begann mit einem Freund der Familie ein intimes Verhältnis, von dem sie ihrem Mann nichts erzählte. Er hingegen, - »hier stehe ich und kann nicht anders« - musste sein sexuelles Abenteuer mit der Ehefrau des Familienfreundes und heimlichen Geliebten seiner Frau offenlegen. Zu seiner eigenen Verwirrung verwandelte sich dieser gutherzige, überall beliebte Mann in ein zwischen Selbstmordgedanken und Wutanfällen hin- und hergerissenes Bündel Eifersucht, als er erfuhr, dass seine Partnerin ihm zuvorgekommen war. Er konnte ihr viele Jahre lang nicht verzeihen, was sie ihm angetan hatte, fixierte sich darauf, dass ihr moralischer Verfall unendlich tiefer sei als seiner, den er doch offen bekannt und gleich gebüßt habe. In der Arbeit mit Paaren trifft der Berater häufig auf Personen, die es bedauern, dass sie über eine Affäre berichtet haben. Sie empfinden die Diskrepanz zwischen dem, was der Seitensprung für sie bedeutet hat und dem Ausmaß der Kränkung ihres Partners als unauflösbaren Widerspruch. Sie haben den Eindruck, durch alle Dementis nicht mehr so viel Stimmigkeit in der Beziehung herstellen zu können, wie sie es - den Schuldgefühlen über das Verschweigen der Seitenbeziehung zum Trotz - vor ihrem Geständnis empfanden. Wenn sie noch einmal die Wahl hätten, würden sie sich diesmal dafür entscheiden zu schweigen.

Erscheint lt. Verlag 20.2.2008
Sprache deutsch
Maße 98 x 193 mm
Gewicht 200 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeines / Lexika
Schlagworte Psychologie; Einführung
ISBN-10 3-579-06982-9 / 3579069829
ISBN-13 978-3-579-06982-1 / 9783579069821
Zustand Neuware
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Mehr entdecken
aus dem Bereich
Ein Lesebuch für jeden Tag

von Tobias Nolte; Kai Rugenstein

Buch | Hardcover (2022)
Klett-Cotta (Verlag)
28,00