Gewissensfragen - Rainer Erlinger

Gewissensfragen

Streitfälle der Alltagsmoral

(Autor)

Buch | Softcover
272 Seiten
2007
Goldmann Verlag
978-3-442-16966-5 (ISBN)
7,95 inkl. MwSt
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Gewissensfragen, die jeden zwicken – erhellende Antworten, die weiterhelfen.


Kann der Schmuck für die Ex auch die neue Flamme zieren? Darf man am Wahlsonntag ruhigen Gewissens daheim bleiben? Was ist moralisch korrekt? Woche für Woche ergründet der beliebte SZ-Kolumnist Rainer Erlinger Gewissensfragen seiner Leser – und präsentiert nun die spannendsten Fälle gesammelt in seinem Leitfaden der Alltagsmoral. Ob man ein besserer Mensch werden kann? Mit diesem Buch bestimmt!


• Die spannendsten Beiträge aus der beliebten SZ-Kolumne


• Der geistreiche und vergnügliche Leitfaden der Alltagsmoral


Rainer Erlinger, geboren 1965, ist promovierter Mediziner und Jurist. Als Autor, vor allem auf den Gebieten des Medizinrechts und der Ethik, schreibt er Bücher, Rundfunk- und Fernsehbeiträge und hält Vorträge zu medizinisch-rechtlichen und ethischen Frage

DER LESER INTERVIEWT RAINER ERLINGER

Für den Schreibenden gibt es kein geheimnisvolleres Wesen als – den Leser. Alles geschieht für ihn; der Autor und der gesamte Apparat einer Zeitung leben von seinem kurzen Blick auf die Werbeanzeigen und – hoffentlich – auch auf den Text. Und trotzdem kennt niemand den Leser wirklich; nur selten kommt er zu Wort. Im »Süddeutsche Zeitung Magazin« ist es die »Gewissensfrage«, die ihm Gelegenheit gibt, mit einem Anliegen ins Heft zu gelangen. Seit Februar 2002 beantwortet Rainer Erlinger in seiner wöchentlichen Kolumne Leserzuschriften zu moralischen Alltagsproblemen. Deshalb soll der Leser in dieser Sammlung von »Gewissensfragen« nun das erste Wort erhalten und dem Autor endlich all die Fragen stellen, die bei Lektüre der Rubrik immer wieder auftauchen, für deren Beantwortung im »SZ-Magazin« jedoch kein Platz ist.
Im folgenden daher ein Gespräch des Lesers mit Rainer Erlinger. Man kennt ja Interviews aus dem Fernsehen, bei denen der Befragte unerkannt bleiben will. Das Gesicht ist verfremdet, die Stimme künstlich verzerrt. Hier ist es genau umgekehrt: Der Fragesteller ist unscharf, denn es ist der Leser – das unbekannte Wesen.
Der Leser: Guten Tag.
Rainer Erlinger: Guten Tag.
Herr Erlinger, was mich am meisten interessiert: Die Fragen in Ihrer Kolumne sind doch erfunden?
Komisch, Sie sagen genau das, was ich sehr häufig als Erstes höre, wenn jemand erfährt, dass ich die Gewissensfragen im SZ-Magazin beantworte. Die Antwort auf diese Frage ist einfach: Nein! Die Leserfragen sind echt. Alle. Ausnahmslos.
Und das soll ich Ihnen jetzt glauben? Nun ja, für die allerersten beiden »Gewissensfragen«, die im Heft erschienen sind, mussten wir natürlich im Umkreis der Redaktion herumhorchen, um entsprechende Fragen zu erhalten.
Also doch! Aber bereits nach der ersten Kolumne kamen so viele Zuschriften, dass wir das nicht mehr nötig hatten. Außerdem kann ich es beweisen, ich kann für jede veröffentlichte Frage die entsprechende E-Mail oder den entsprechenden Brief vorweisen. Bitte, sehen Sie hier.
Hmmm. (blättert einen Ordner durch) Und außerdem: Es wäre nahezu unmöglich, sich so interessante Fragen auszudenken wie jene, die die Leser einsenden. Die meisten der veröffentlichten Probleme wären mir jedenfalls beim besten Willen nicht eingefallen. Auf die Idee, eigene Kerzen in eine Kirche mitzubringen oder mein Surfbrett zu entsorgen, indem ich es am Strand klauen lasse, käme ich einfach nicht. Und ich war auch noch nie im Sudan und habe dort einen verurteilten Mörder für achthundert Dollar aus dem Gefängnis freigekauft.
Gut, das überzeugt, und Sie sehen ja eigentlich ganz ehrlich aus.
Danke!
Aber die ganzen Fragen, die ich Ihnen in diesem Gespräch stelle, erfinden Sie?
Auch nicht richtig. Zum Teil gehen Ihre Fragen auf Leserzuschriften zurück, denen ich dasselbe geantwortet habe wie jetzt Ihnen – Sie können es in dem anderen Ordner hier nachlesen. Zum Teil sind es Fragen, die mir in den vergangenen dreieinhalb Jahren in Interviews gestellt wurden. Und nur zum kleinsten Teil sind es Fragen, die zu Antworten führen, welche ich immer schon geben wollte, um die mich bisher aber niemand gebeten hat. In meiner wöchentlichen Kolumne kann ich diese Dinge nicht loswerden, denn dort erscheinen wie gesagt nur echte Fragen. Übrigens stets in der Form und im Wortlaut, wie sie bei mir ankommen. Manchmal muss ich ein wenig kürzen, dabei achte ich aber darauf, den Sinn der Frage und damit den Inhalt der Antwort nicht zu beeinflussen.
Erhalten Sie denn viele Zuschriften?
Zwischen fünfzig und hundert pro Monat.
Und was ist mit den vielen Fragen, die nicht veröffentlicht werden?
Die können wir leider nicht beantworten, der Aufwand wäre zu groß. Meist handelt es sich ja um ein Problem, über das der Einsender selbst schon länger nachdenkt; es wäre ihm also nicht damit gedient, würde ich eine Antwort aus dem Ärmel schütteln. Um mich jedoch den unveröffentlichten Fragen genauso intensiv zu widmen wie den veröffentlichten, fehlt mir einfach die Zeit. Oft recherchiere ich, um zur Antwort zu gelangen, frage Experten oder Behörden. Und in jedem Fall denke ich lange nach. Schließlich bin ich auch nicht klüger als andere – ich denke nur länger nach.
Woher nehmen Sie eigentlich das Recht, anderen zu sagen, was sie tun sollen?
Da kann ich jetzt formal argumentieren und sagen: aus der Frage. Bei Pippi Langstrumpf habe ich den Satz gelesen: »Na ja, eine höfliche Frage verlangt eine höfliche Antwort.« Wenn mir jemand eine Frage schickt, dann gibt er mir das Recht, darauf zu antworten.
Das ist aber wirklich sehr formal. Ich meinte eigentlich mehr: Woher nehmen speziell Sie das Recht?
Da könnte ich wieder ebenso antworten, denn die Briefe sind ja an mich gerichtet, aber es gibt einen anderen, wesentlich überzeugenderen Grund.
Und der wäre? Ich weiß nicht, ob Ihnen schon aufgefallen ist, dass ich jede Antwort begründe; wo ich es ausnahmsweise einmal nicht tue, kennzeichne ich das als meine persönliche Meinung.
Eigentlich noch nicht. Dachte ich mir doch, so ist halt der Leser. Ich bin der Meinung, dass jede Antwort ihre Legitimation aus sich selbst heraus beziehen muss. Ich habe ja sonst keine Autorität außer der sachlichen. Die Antworten, jede einzelne Antwort muss nachvollziehbar und sauber begründet sein. Wenn die Leser…
Also ich. Ja, genau, wenn Sie nun meine Antwort lesen und sich denken, was ist denn das für ein abgehobener Unsinn, davon verstehe ich kein Wort, dann ist die Autorität der Kolumne am Ende. Sie, der Leser, haben also das Letztentscheidungsrecht.
Aha, Sie möchten also, dass alle stets derselben Meinung sind wie Sie!
Oh nein, ich freue mich sogar über Widerspruch. Ein Zweck der Kolumne besteht darin, zu Diskussionen anzuregen.
Haben Sie denn keine Ausbildung, die Sie zu Ihrer Tätigkeit als Moralkolumnist berechtigt oder wenigstens befähigt?
Ja und nein. Ich wüsste keine Ausbildung, die einen dazu berechtigt, anderen zu sagen, was sie richtig und was falsch machen. Und befähigt: Ich bin weder Theologe noch Philosoph, falls Sie das meinen, sondern Mediziner und Jurist.
Und das befähigt zu moralischen Ratschlägen? Wie gesagt, die Antwort muss meines Erachtens aus sich selbst heraus bestehen können. Aber unabhängig davon sind sowohl der des Mediziners als auch des Juristen Berufe, die man nicht ohne einen ethischen Rahmen betreiben kann. Oder sagen wir mal: sollte. Und gerade der Schnittpunkt aus den beiden, das Medizinrecht mit seinen Fragestellungen um Lebensbeginn, Lebensende und so weiter, ist so sehr von der Ethik geprägt, dass er eine intensive Beschäftigung mit diesem Thema unumgänglich macht.
Aber wie sind Sie dann als Mediziner und Jurist zum Moralkolumnisten geworden?
Ich hatte schon längere Zeit für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung geschrieben, eben auch zu ethischen und philosophischen Themen. Als dann die beiden Chefredakteure des SZ-Magazins, Dominik Wichmann und Jan Weiler, Anfang 2002 eine neue Kolumne namens »Gewissensfrage« konzipierten, sind sie an mich herangetreten. So ist das entstanden.
Bei manchen Fragen denke ich mir: Die Sorgen dieser Leute möchte ich haben! Es geht oft um Banalitäten, dabei gäbe es doch genug wirkliche moralische Probleme hier bei uns und sonstwo auf der Welt. Aber nein, Sie schreiben darüber, ob man im Hotel Stullen für unterwegs schmieren darf oder ob es vertretbar ist, ein wenig zu schwindeln, um einen Spaziergang abzusagen.
Das liegt am Konzept der Kolumne. Sie finden, fast möchte ich sagen jeden Tag, in den großen Zeitungen und Magazinen hochintelligente Betrachtungen und Diskussionen über die von Ihnen angesprochenen moralischen Großprobleme. Es ist wichtig, dass es diese Debatten gibt und es soll sich keiner raushalten, nach dem Motto: »Das geht mich nichts an, dazu habe ich eh nichts zu sagen.« Aber daneben stehen wir eben im Alltag vor den kleinen moralischen Fragen – und es wäre ebenso falsch zu sagen, solange es Ungerechtigkeiten wie verhungernde Kinder auf der Welt gibt, braucht man sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob man bei Rot über eine Ampel gehen darf. Jeder ist verantwortlich für das, was er tut. Die wenigsten von uns werden je vor dem Problem stehen, einen Menschen klonen zu wollen. Wer von uns plant, eine Fabrik zu schließen, wer zögert, ob er morgen bei Sonnenaufgang den Befehl zum Angriff auf einen ölreichen Schurkenstaat geben soll? Das sind Fragen, die wir politisch über Wahlen oder sonstiges Engagement beeinflussen können. Aber es entbindet niemanden davon, darüber nachzudenken, ob er einen Arbeitskollegen anlügen darf.
Haben denn Ihre Leser nie ernsthafte Probleme? Doch natürlich, die kommen aber auch im Heft vor. Ich habe schon Fragen beantwortet wie die, ob man zur Organspende verpflichtet sein kann, ob ein adoptiertes Kind ein Recht darauf hat, das auch zu erfahren, oder wie man mit einem alzheimerkranken Großvater umgehen soll. Es ist natürlich nicht leicht, solch komplexen Lebenssituationen in wenigen Zeilen gerecht zu werden. Aber soweit es geht, versuche ich das.
Halten Sie sich eigentlich selbst an Ihre Maßstäbe? Anders gefragt: Lebt man als Moralkolumnist besonders moralisch?
Natürlich probiere ich es. Und die intensive Beschäftigung mit diesem Thema, also gerade mit der Alltagsmoral, hat mich schon verändert, glaube ich.
Sind Sie moralischer geworden? Das vielleicht nicht, aber wenn man über eine Frage einen Tag lang nachgedacht hat, entwickelt man eine höhere Sensibilität für das Thema. Falls ich dann einmal selbst in die Situation komme, muss ich nicht mehr lange überlegen.
Dann handeln Sie also immer richtig?
Bestimmt nicht, ich bin ja kein Heiliger.
Sehen Sie dann kein Problem: Wasser predigen und Wein trinken?
Natürlich ist das ein Problem. Das, was ich dazu sagen möchte, ist aber auch gefährlich, weil es dann heißt, jetzt dreht er durch, der Erlinger. Aber vom Inhalt her stimmt es: Sogar der Papst hat einen Beichtvater. Ich will mich wirklich nicht mit dem Papst vergleichen, und mir ist auch nicht die Schlagzeile »Wir sind Papst« zu Kopf gestiegen. Ich will nur sagen, wenn sogar jemand wie der Papst zu beichten hat, also sündigt, wäre es umgekehrt vermessen zu behaupten, ich mache alles richtig.
Ganz konkret: Sie kommen spätnachts zu Fuß an eine rote Ampel. Was tun Sie?
Ich hoffe, dass mich niemand sieht.
Ah ja! Das Problem ist schwieriger als Sie jetzt vielleicht denken. Wenn ich losgehe, sagt einer, der mich beobachtet: »Siehst du, er schreibt, man soll es nicht tun und tut es dann selber.« Und wenn ich stehen bleibe und warte, sagt er: »Der spinnt, er stellt sich doch nur aus Prinzipientreue hin.«
Ja, was soll man denn nun in so einem Fall tun?
Schauen Sie einfach auf Seite 201 nach.
Finde ich in diesem Buch eigentlich sämtliche bisher erschienenen »Gewissensfragen«?
Nein, leider nicht. Es gibt schon zu viele, wir konnten leider nicht alle unterbringen und mussten eine Auswahl treffen. Aber das bedeutet nicht, dass die anderen Texte niemals mehr zu lesen sein werden. Die Kolumne im SZ-Magazin geht weiter und vielleicht dann auch dieses Buch. Über beides entscheiden wie immer Sie.
Vielen Dank für dieses Gespräch. Gern geschehen. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennen zulernen.
Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Rindermarkt 5, 80331 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.

Kapitel I
Familie & Kinder

OMA MACHT DIE FLATTER

»Meine Mutter hat mich und meine Schwestern allein großgezogen. Letzten Sommer ist sie nach Portugal ausgewandert. Dort hat sie sich ein kleines Anwesen mit großem Garten gekauft und genießt die frischen Orangen und ihren Ruhestand. Ich gönne ihr dieses Leben, andererseits wachsen die immer zahlreicheren Enkel quasi ohne Großmutter auf. Gibt es die moralische Verpflichtung einer vitalen Rentnerin, eine gute Oma zu sein?« FRIEDERIKE M., AACHEN
Natürlich gibt es die moralische Verpflichtung, eine gute Oma zu sein. Genauso wie es die Verpflichtung gibt, eine gute Tochter, ein guter Enkel, ja sogar ganz allgemein ein guter Mensch zu sein. Die Frage ist nur: Was ist »gut« in diesem Zusammenhang, und wie weit geht die Verpflichtung?
Die klassischen ethischen Texte greifen da meist zu kurz. Sie beschäftigen sich vor allem mit den Pflichten der Kinder den alten Eltern gegenüber, so etwa die altägyptische Lehre des Ani: »Gib deiner Mutter doppelt so viel Nahrung, wie sie dir gegeben hat, / trage sie, wie sie dich getragen hat.« Ebenso das vierte Gebot: »Du sollst Vater und Mutter ehren«, das allgemein als Aufforderung verstanden wird, sie im Alter zu versorgen. Von den umgekehrten Pflichten liest man kaum. Liegt das jetzt daran, dass zu der Zeit, als diese Texte verfasst wurden, die Eltern erwachsener Kinder meist schon hilfsbedürftig waren, oder sieht man die Pflichten der Eltern Kindern und Enkeln gegenüber zu diesem Zeitpunkt als erfüllt an? Ich denke: beides.
Bestimmt würde sich Ihre Mutter nicht verweigern, falls Not am Mann wäre. Und in Zukunft wird die demografische Entwicklung allgemein neue Aufgaben an immer vitalere Ältere stellen. Aber – um in juristischen Termini zu sprechen – indem sie mehrere Kinder allein großzog, hat Ihre Mutter sämtliche Pflichten aus jedem Generationenvertrag schon lange übererfüllt. Jetzt hat sie durchaus das Recht, an sich selbst zu denken, und liebt ihre Enkel deshalb bestimmt nicht weniger.
Eine Großmutter gehört zu den größten Schätzen, die man überhaupt nur haben kann; aber das bedeutet nicht, dass sie sich aufopfern muss. Und eine glückliche Oma, die man sogar in den Ferien in Portugal besuchen kann, ist auch nicht zu verachten.
Die Lehre des Ani, aus der 18. Dynastie (1554-1305 v. Chr.), ist zu finden in: Die Weisheitsbücher der Ägypter, herausgegeben von Hellmut Brunner, Artemis & Winkler Verlag, 1997. Die Basishandschrift ist seit 1871 bekannt, weitere Varianten kamen erst später ans Licht. Es liegen vor: vier Papyri, eine Schreibtafel (nur mit dem Titel der Lehre) und neun Ostraka.

JUNIORS RENNSTRECKE

»Mein zweijähriger Sohn fährt leidenschaftlich gern Bobby-Car, die Plastikräder machen einen Höllenlärm. Seine Lieblingsstrecke grenzt direkt an die Terrasse unserer sehr netten Nachbarn. Letzte Woche erwähnte ich ihnen gegenüber, dass es so genannte ›Flüsterräder‹ gäbe, die viel leiser seien. Ich sagte, dass mir die zwanzig Euro dafür aber zu teuer seien, worauf mir der Nachbar das Geld in die Hand drückte – der ruhigere Aufenthalt auf der Terrasse sei ihm das wert. Hätte ich das Geld ablehnen sollen? Wäre ich verpflichtet gewesen, zur Schonung der Nachbarn selbst die ›Flüsterräder‹ zu kaufen?« MARTINA K., OLDENBURG
Die Situation ist doch folgende: Sie wissen, dass Ihr Sohn einen »Höllenlärm« macht, welcher Ihre freundlichen Nachbarn nachhaltig stören muss. Ebenso wissen Sie, dass dieser Lärm sich – ohne Einschränkung Ihres Sohnes – mit einem vertretbaren Betrag deutlich mindern ließe. Und das sagen Sie Ihren Nachbarn beiläufig, fügen noch hinzu, dass Sie aber nicht gewillt seien, diesen Betrag aufzuwenden. Wenn ich nun versuche, vor meinem geistigen Auge ein Bild dazu zu entwerfen, dann entsteht leider immer folgendes: Sie verschränken nach dem letzten Satz die Arme und schieben die Unterlippe vor. Und es ist genau dieses Bild, das mir nicht gefällt.
Natürlich machen Kinder Lärm; sie dürfen das und sollen das auch dürfen. Natürlich muss man, so man nicht in einer Einöde wohnt, Lärm der Nachbarn hinnehmen – unvermeidbaren. Natürlich gibt es für Kinder immer etwas, was sie brauchen und wofür die Eltern jeden Euro benötigen. Und ebenso natürlich liegt es im Interesse der Nachbarn, dass das Gefährt leiser wird, weshalb wenig dagegen spricht, dass sie dafür auch aufkommen. Aber im Endeffekt haben Sie Ihrem netten Nachbarn ein Ultimatum gestellt: Will er Ruhe haben, muss er sie selbst bezahlen. Das ist natürlich nicht richtig.
Trotzdem scheinen mit dem jetzigen Zustand alle Beteiligten ziemlich zufrieden zu sein: Ihr Sohn kann so viel fahren wie bisher, und trotzdem müssen Ihre Nachbarn weniger Lärm erdulden; das war ihnen etwas wert, und Sie hatten keine Ausgaben. Wäre nur der Weg dorthin ein anderer gewesen!
Und eines ist mir unverständlich: Warum werden die Höllendinger nicht nur mit »Flüsterrädern« ausgeliefert? So viele Einöden gibt es doch gar nicht.


SICH SELBST SCHENKEN

»Alle Jahre wieder dieselbe (Gewissens-) Frage: Soll ich Weihnachten zu meinen Eltern fahren, oder darf ich bei mir zu Hause bleiben? Ich bin weit über dreißig, Single, und genieße die Feiertage bei mir daheim, ganz stressfrei, ohne mühsame An- und Abreise (überfüllte Züge, kilometerlange Staus usw.), ohne Diskussionen (zuerst Essen und dann Bescherung oder umgekehrt?), ohne Kleiderzwang (wann ziehst du dich um, du ziehst dich doch noch um?), ohne als einziger Single unter all den Paaren (Eltern, Geschwister) von ein paar Bierchen in meiner Lieblingskneipe zu träumen! Ich weiß, das ist purer Egoismus, aber spätestens wenn mir Freunde vom Stress und den ›ach so harmonischen‹ Tagen bei der Familie erzählen, legt sich mein schlechtes Gewissen wieder! Also: Darf ich zu Hause bleiben? Danke und schöne Weihnachten.«
TATJANA S., BERLIN
Zumindest was die Nöte auf dem Weg angeht, befinden Sie sich in bester Gesellschaft. Beschwerliche Heimfahrten liegen offenbar in der Tradition von Weihnachten. Meines Wissens hatten sich bereits die ersten in diesem Zusammenhang Reisenden eher unfreiwillig in ihre Geburtsstadt aufgemacht und dort mit allem möglichen Ungemach, insbesondere Überbelegung zu kämpfen. Auch die unglückliche Rolle von Singles neben den familiären Hauptakteuren scheint typisch zu sein. In der Ausgangsgeschichte treten sie entweder als intellektuell sprichwörtlich gering geschätzte Mitgeschöpfe auf (Ochs und Esel) oder werden von ihrem Arbeitsplatz weg nur kurzfristig und gesondert dazu geladen (Hirten).
Trotzdem gehört das Familiäre ebenso zur Tradition wie das Schenken als Zeichen von Zuneigung. Ihr Erscheinen ist ein sehr persönliches und schönes Präsent. Es fällt in die Kategorie der besonders geschätzten selbst gebastelten, die sich nicht per Kreditkarte besorgen lassen. Allerdings mit einer Besonderheit: Sie als Tochter und Geschenk sind nicht von Ihnen, der Schenkerin, sondern von Ihren Eltern, den Beschenkten, einst selbst (mit Liebe?) gemacht worden. Ihr Beitrag ist lediglich, das Geschenk für begrenzte Zeit zur Verfügung zu stellen. Ist das geboten? Wägen Sie ab: Was ist größer? Die Freude Ihrer Eltern, weil Sie zum Fest nach Hause kommen, oder Ihre, wenn Sie an diesem Tag wie an vielen anderen in Ihrer Kneipe sitzen? Überwiegt die Freude Ihrer Eltern, scheint ohnehin alles klar. Überwiegt die Ihrige, nehmen Sie die Reise trotzdem auf sich: Es ist ja schließlich Weihnachten.
Die Ursprungsgeschichte findet sich im Neuen Testament und dort im Evangelium des Lukas, Kapitel 2, Vers 1–20; nachzulesen zum Beispiel in der Einheitsübersetzung der Bibel, Herder Verlag, 2003. Eine andere Fassung hat Ludwig Thoma aufgeschrieben: Heilige Nacht, Piper Verlag, 1999.

Reihe/Serie Mosaik bei Goldmann
Sprache deutsch
Maße 125 x 183 mm
Gewicht 255 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeines / Lexika
Geisteswissenschaften Psychologie Angst / Depression / Zwang
Schlagworte Ethik
ISBN-10 3-442-16966-6 / 3442169666
ISBN-13 978-3-442-16966-5 / 9783442169665
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