Politische Ökonomie der Biotechnologie
Campus (Verlag)
978-3-593-38373-6 (ISBN)
Daniel Barben ist Forschungsprofessor am Consortium for Science, Policy and Outcomes an der Arizona State University.
Vorwort
1. Einleitung
Teil I: Theorierahmen
2. Politisch-ökonomische Regimeanalyse
2.1 Begriff des technologischen Regimes
2.2 "Vertikale" und "horizontale" Gesellschaftsdifferenzierung
2.3 Varianten des Liberalismus
3. Regimeanalyse der Biotechnologie
3.1 Historisch-politischer Kontext
3.2 Biotechnologie
3.3 Regimebereiche
3.4 Hypothesen und Überblick
Teil II: Empirische Analyse
4. Innovationsregime
4.1 Innovationsregime in den USA
4.2 Innovationsregime in Deutschland und in der EU
4.3 Internationale Koordination einer Schlüsseltechnologie
4.4 Internationales Regime biologischer Ressourcen
5. Patentierungsregime
5.1 Patentrecht im internationalen Vergleich
5.2 Internationale Regulierung geistiger Eigentumsrechte
5.3 Patentierung im akademisch-industriellen Komplex
6. Risikoregulierungsregime
6.1 Risikodiskurs und (supra-)nationale Risikoregulierung
6.2 Risikoregulierung im Welthandel
6.3 Internationales Biowaffenregime
7. Bioethikregime
7.1 Ethische Positionen im Widerstreit
7.2 Gesetzliche Regelungen von Bioethik
7.3 Internationales Bioethikregime
8. Akzeptanzpolitik und Akzeptabilitätsprofile
8.1 Akzeptanzpolitik im internationalen Vergleich
8.2 Akzeptabilitätsprofile biomedizinischer und agrarbiotechnologischer Produkte
Teil III: Schluß
9. Resümee: Konfiguration des Biotechnologieregimes
10. Ausblick
Die vorausschauend oder aufgrund manifester Probleme durchgeführten Akzeptanzstudien beziehen sich zunächst oft ganz pauschal auf Biotechnologie. Gefragt wird etwa, ob Ablehnung und Zustimmung entsprechend den Variablen Bildung, politische Orientierung oder Geschlecht variieren und ob unterschiedliche Bezeichnungen desselben Gegenstands (z.B. Biotechnologie oder Gentechnologie) dessen Bewertung beeinflussen. Weitere Untersuchungen unterscheiden zwischen Anwendungsbereichen oder Produkten und berücksichtigen neben verschiedenen Risiken (technische, ökologische, ökonomische, soziale) das Vertrauen in Regulierungsbehörden, Wissenschaftler, Industrie, Umweltverbände etc. Neben spezialisierten Umfrageinstituten untersuchen auch staatliche Einrichtungen die öffentliche Wahrnehmung der Biotechnologie, in den USA zunächst vor allem das OTA (OTA 1981: 261-265; 1984: 489-500; 1987). In Europa werden Daten über die Einstellung zur Biotechnologie seit 1992 im Rahmen der europaweiten Befragungen Eurobarometer gesammelt. Parallel dazu werden die Akzeptanzforschung und Risikokommunikation weiterentwickelt (Durant 1992; Durant u.a. 1998; Marris u.a. 2001). Auch wird der öffentlichkeitsgestaltenden Rolle der Medien zunehmende Aufmerksamkeit geschenkt (Kepplinger/Ehmig 1995; Bonfadelli 1999; Görke u.a. 2000). In Akzeptanzforschung und politik gängige nationale Stereotypisierungen zeichnen die amerikanische Bevölkerung (im Gegensatz zur deutschen) als risikotolerant und bereit, auch ungewisse Chancen zu verfolgen. Freilich gelten in allen Ländern verschiedene Bereiche bzw. einzelne Anwendungen als unterschiedlich akzeptabel. Üblicherweise genießen medizinische Entwicklungen die größte Akzeptanz, da von ihnen die Lösung von Gesundheitsproblemen erwartet wird. Während neue Pharmazeutika und Diagnostika überwiegend positiv bewertet werden, gilt dies nicht für moralisch brisante, menschliche Identität gefährdende Eingriffe wie die Keimbahnmanipulation oder das Klonieren von Menschen. Umgekehrt treffen gv-Pflanzen und Lebensmittel auf verbreitete Skepsis oder Ablehnung, nicht zuletzt weil (und solange) ihre Vorteile nicht gleich als solche anerkannt werden (Senauer u.a. 1991; Hampel/Renn 1999; Gaskell, Allum u.a. 2001; Gaskell, Einsiedel u.a. 2001). Je weniger neue Produkte es gibt, um so mehr können lediglich Einstellungen abgefragt werden. Daß es grundlegende Unterschiede zwischen geäußerter Meinung und tatsächlichem Verhalten geben kann, ist der Akzeptanzforschung nicht unbekannt (allerdings für sie problematisch, da ihre Aussagekraft einschränkend). Deshalb arbeite ich im folgenden an ausgewählten Produkten aus Medizin und Landwirtschaft/Ernährung (Insulin, Chymosin, Rinderwachstumshormon, Anti-Matsch-Tomate, Bt-Mais sowie genetische Tests) heraus, wie deren öffentliche Wahrnehmung in den USA und in Deutschland unterschiedlich strukturiert wurde. Ich zeige, daß die drei von der Akzeptanzforschung entwickelten Dimensionen (Risiken, Nutzen und ethische bzw. kulturelle Implikationen, vgl. Hamstra 2000) produktspezifische Akzeptabilitätsunterschiede plausibel machen, zudem aber noch weitere gesellschaftliche Faktoren berücksichtigt werden müssen. Andernfalls, so das Hauptargument, kann die Konfiguration der Relevanz und Resonanz der Biotechnologie in verschiedenen Gesellschaften und Zeiten nicht verstanden werden. Humaninsulin ist das erste mittels gv-Mikroorganismen produzierte Medikament, das die FDA 1982 zuläßt. Anders als das bislang aus den Bauchspeicheldrüsen von Schweinen oder Rindern gewonnene Insulin ist es unbegrenzt verfügbar. Eine weitere qualitative Verbesserung liegt darin, daß die Aminosäurestruktur mit der von Menschen produzierten identisch ist. Die Nützlichkeit ist offenbar, Risiken und ethische Bedenken sind es hingegen nicht. Da die drei Hauptkriterien positiver Akzeptabilität erfüllt sind, sollten Akzeptanzprobleme nicht auftreten. Dies ist in den USA der Fall, doch nicht in Deutschland. Aus zwei Gründen: Erstens lehnen zu der Zeit noch viele die Gentechnologie grundsätzlich als problematisch, unverantwortlich und anmaßend ab. Zweitens drehen sich die Konflikte um die Errichtung der Hoechst-Produktionsanlage um die rechtliche Regulierung der Gentechnik. Deshalb wird der Streit um die Risiken des neuen Insulins (z.B. ausbleibende Unterzuckerungssymptome bei Diabetikern) aufgeladen. Inzwischen ist Humaninsulin aber generell als unproblematisches, sicheres und nützliches Produkt anerkannt. Chymosin ist das erste in der Lebensmittelproduktion eingesetzte gentechnisch hergestellte Enzym. In den USA wird es 1990 zugelassen, in der EU 1997. Das Enzym dient der Milchgerinnung bei der Käseproduktion. Zuvor wurde es aus Kälbermägen gewonnen, doch war die Verwertung von Schlachtabfällen aufwendig und das Produkt nur von ungleichmäßiger Qualität. Die Gentechnik löst also Probleme ungenügender quantitativer Verfügbarkeit und qualitativer Wirksamkeit. Auch sind gesundheitliche Risiken nicht bekannt. Während in den USA die bessere Qualität und Sicherheit von Produkt wie Produktionsverfahren auf Anhieb anerkannt werden, ist das in Deutschland nicht der Fall. Wiederum werden ungeklärte Sicherheitsrisiken angeführt, die aber keine institutionelle Resonanz bezüglich Marktzulassung oder Kennzeichnung finden. Gleichwohl wird Chymosin in den meisten europäischen Ländern aus Angst vor Absatzeinbußen sehr zurückhaltend bzw. verschwiegen eingeführt. Das rekombinante Rinderwachstumshormon Somatotropin (rBST) dient der Steigerung der Milchproduktion (pro Kuh durchschnittlich 10 bis 15 Prozent). Monsanto entwickelte rBST Mitte der 1980er Jahre, die FDA läßt es 1993 als neues Tiermedikament zu. Vor allem die Gesundheitsrisiken für Mensch und Tier werden Gegenstand langwieriger Kontroversen. Ende der 1980er Jahre bildet sich in den USA eine Koalition von Gegnern, die von der FET über Milchproduzenten und Produzenten von Milchprodukten (wie Ben & Jerry's Ice Cream) bis zu Supermarktketten reicht. Die Bundesstaaten Wisconsin und Minnesota verbieten vorübergehend, obwohl kommerziell noch gar nicht zugelassen, den Verkauf von rBST. Bis 1992 wird rBST bei 21.000 Kühen getestet und in mehr als 900 Forschungspapieren beschrieben, ohne eindeutige Hinweise auf eine Gefährdung der menschlichen Gesundheit zu erbringen. Trotzdem bleiben zwei hypothetische Risikoeinwände: Erstens bekommen Kühe, denen rBST verabreicht wurde, öfters Euterinfektionen, die mit Antibiotika behandelt werden müssen. Diese könnten in Milch und Fleisch angereichert werden und durch Konsum zur Antibiotikaresistenz von Menschen beitragen. Dieses Argument setzt voraus, daß Antibiotika bei Lebensmittelherstellung, Zubereitung und Verzehr intakt und lange genug im Verdauungstrakt bleiben - was zwar theoretisch denkbar, aber äußerst unwahrscheinlich ist. Zweitens könnte der Anteil von IGF-1 in der Milch erhöht werden (ein dem Insulin ähnlicher Wachstumsfaktor) und, da bei Rindern und Menschen identisch, zu verfrühtem Wachstum bei Kindern oder Krebsentwicklung bei Erwachsenen führen. Bei der EG trifft rBST auf eine ablehnende Haltung. Bereits 1987 beantragt Monsanto die Zulassung, was jedoch keine Aussicht auf Erfolg hat, da 1988 jeder nichttherapeutische Gebrauch von Hormonen in der heimischen Tierzucht verboten und dieses Verbot später auf alle in die Gemeinschaft importierten Produkte ausgedehnt wird. Deshalb wird rBST mitsamt allen hormonbehandelten Fleischprodukten zum Gegenstand von Handelsstreitigkeiten mit den USA. Der EG-Veterinärausschuß entscheidet zwar 1991, daß rBST alle Anforderungen an Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit erfüllt und keine Risiken für die Konsumenten oder die Tiere selbst mit sich bringt, doch die Kommission überstimmt diese Entscheidung. 1993 wird sogar ein Moratorium verabschiedet, das Import und Verkauf von rBST bis Ende 1999 verbietet. In der Folge wird der Streit auch in WTO und Codex Alimentarius ausgetragen, was zu neuen Kompromissen, aber keiner Zulassung führt. Neben der Unbedenklichkeit wird auch die Nützlichkeit von rBST beständig in Frage gestellt. Während es für die einen das erste agrarbiotechnologische Produkt mit einem Jahresumsatz von über einer Milliarde USD ist, halten viele die Steigerung der Milchproduktion angesichts schon bestehender (subventionierter) Überschüsse für wenig sinnvoll. Dagegen wiegen allenfalls leicht fallende Milchpreise wenig, zumal damit die Marktposition der Großproduzenten gestärkt wird. Ethisch und kulturell schneidet rBST schlecht ab, da weite Teile der Bevölkerung tierisches Leiden für problematisch und die weitere Intensivierung der industrialisierten Landwirtschaft für wenig sinnvoll halten. Das erste, als ganze Pflanze vermarktete agrarbiotechnologische Lebensmittel ist die unter dem Projektnamen Flavr Savr bekannte Tomate von Calgene. Längere Reifezeit soll den Geschmack verbessern, dank ihrer Festigkeit sollen sich die Tomaten gut pflücken, verpacken, transportieren und lagern sowie nach dem Kauf über mehrere Wochen aufbewahren lassen. Um den den Verfallsprozeß steuernden genetischen Mechanismus zu verändern, wird keine artfremde genetische Eigenschaft in die Pflanze eingeführt, sondern eine vorhandene Eigenschaft ausgeschaltet. Lange vor der Marktreife (1989) bittet Calgene die FDA um freiwillige regulatorische Anleitung, wobei es unter anderem Nährstoffzusammensetzung und Sicherheitsrisiken im Vergleich mit herkömmlichen Tomaten zu bewerten gilt. 1994 erklärt die FDA alle Sicherheitsfragen für geklärt. In den USA mobilisieren Verbraucherverbände und gentechnikkritische Organisationen gegen die absehbare Vermarktung, da es möglicherweise noch ungeklärte Risiken gebe, eine Kennzeichnung fehle und solche Produkte lediglich freiwillig reguliert werden. Anders als die FDA befürwortet Calgene eine Kennzeichung, da das Unternehmen vom besonderen Nutzen seines Produkts überzeugt ist. Als Calgene die Tomate 1995 auf einzelnen Testmärkten einführt, wird deren Preis auf fast das Doppelte handelsüblicher Tomaten festgesetzt, bald aber (auf ein nicht konkurrenzfähiges Niveau) gesenkt. Umstritten bleibt, ob sie tatsächlich besser als gewöhnliche Industrietomaten schmeckt. Die längere Haltbarkeit gilt vor allem als Vorteil für den Lebensmittelhandel. Auch in Deutschland trifft die neue Tomate auf keine positive Resonanz. Allerdings kommt die Vermarktung der Flavr Savr bereits in den USA zum Erliegen - aus von niemandem vorhergesehenen Gründen. Bei der Ernte und Verpackung erweisen sich die Tomaten nicht als besonders fest, sondern platzen unerwartet. Deshalb werden zunächst aufwendige Pflück- und Verpackungsvorrichtungen gebaut, aufgrund fortbestehender technischer Schwierigkeiten (und vielleicht auch der absehbar geringen Nachfrage) stellt Calgene die Vermarktung aber ein. Daraufhin bringen in den USA verschiedene andere Anbieter (DNA Plant Technology, Monsanto, Zeneca bzw. Syngenta) Tomaten auf den Markt, deren verzögerte Reifung auf andere Weise bewerkstelligt wird. Neben herbizidresistenten Kulturpflanzen wie Soja (dem ersten gentechnisch veränderten Lebensmittel) wird auch Bt-Mais heftig umstritten (vgl. 6.1.2, für eine vergleichende Analyse der ersten Generation biotechnologischer Agrarpflanzen Krimsky/Wrubel 1996). Bt-Mais wird zuerst von Ciba-Geigy bzw. Novartis entwickelt und in den USA 1995, in der EU 1997 zugelassen. Er ist gegen den Maiszünsler resistent, das wichtigste Schadinsekt beim Maisanbau. Kritiker betonen erstens das Risiko einer unvorhersehbaren Ausbreitung von Antibiotikaresistenzen, da die ins Saatgut eingefügte Gensequenz mit einem Antibiotikaresistenz-Markergen verbunden wurde. Zwar kann dafür kein wissenschaftlicher Nachweis erbracht werden, doch dieser in der Öffentlichkeit mehrerer europäischer Länder einflußreiche Einwand veranlaßt eine strengere regulatorische Praxis. Die novellierte Freisetzungsrichtlinie bestimmt, daß Antibiotikaresistenz-Markergene nur bis 2005 zugelassen und bis 2008 experimentell freigesetzt werden dürfen (vgl. 2001/18/EG). Allerdings verzichtet die Industrie von sich aus auf solche Marker, als es technische Alternativen gibt. Zweitens wird kritisiert, daß das Bt-Toxin ein im ökologischen Landbau verwandtes Pflanzenschutzmittel ist. Da die Auskreuzung angezüchteter genetischer Eigenschaften in Monitoring-Versuchen beobachtet werden konnte, wird befürchtet, daß der ökologische Landbau eines seiner wenigen Mittel wirksamen Pflanzenschutzes verlieren könnte. Ein ökonomischer und ökologischer Nutzen von Bt-Mais liegt hingegen im reduzierten Bedarf chemischer Pflanzenschutzmittel. Das Bt-Protein selbst ist für Warmblüter nicht gefährlich, da es nicht an Rezeptoren binden kann und im Magen sehr schnell abgebaut wird (Bradley 1998; Töller 2002). Genetische Tests betreffen eine sehr komplexe Sachlage (Deutscher Bundestag 1987: 147-176). Die meisten Risiken sind sozialer Natur. Einzelne Tests sind auch technisch riskant, etwa wenn sie einen Eingriff erfordern, der den untersuchten Organismus schädigen kann. Dies ist beim Routineverfahren Amniozentese der Fall (Test am Embryo in der 20. Woche), das auf die Entdeckung schwerer Erbkrankheiten zielt und im Normalfall eine Abtreibung nach sich zieht. Bei der Chorionzottenbiopsie in der zehnten bis zwölften Woche drohen Embryoverletzungen und Spontanabort. Bei der pränatalen Diagnostik und humangenetischen Beratung sind die Tests und Abtreibungen weitgehend akzeptiert, die schwere Gesundheitsgefährdungen der schwangeren Frau oder ihres möglichen Kindes betreffen. Anders verhält es sich mit voraussehbaren minderen Erkrankungen (wie Taubheit) und nicht gesundheitsbezogenen Eigenschaften des Embryos (wie Geschlecht oder Haarfarbe). Die eugenischen Implikationen werden also zweckbezogen bewertet, wobei es erhebliche gesellschaftliche und kulturelle Divergenzen geben kann, welche Indikationen als schwerwiegend oder auch nur relevant gelten, und ob technische Eingriffe ethisch problematisiert oder gutgeheißen werden (Hennen u.a. 1996: 74-150; Hennen u.a. 2001: 37-85). Den auf körperliche oder geistige Beeinträchtigungen zielenden Tests ist gemeinsam, daß sie behindertes Leben als minderwertig erscheinen lassen. Für liberale, nicht von autoritären Staatsapparaten beherrschte Gesellschaften deutet sich so eine neue, privatförmige Eugenik an. Entsprechend drohen verstärkte Diskriminierungen von Behinderten bis hin zur Delegitimierung ihres Lebensrechts sowie weitergehende Normalitätszwänge. In Deutschland treffen antieugenische Vorbehalte insbesondere die Präimplantationsdiagnostik (die an durch IVF gezeugten Embryonen angewandt wird, die je nach Testergebnis eingepflanzt oder verworfen werden) und Ansätze einer prädiktiven Medizin, die verboten oder streng reguliert sind. In den USA werden solche Vorhaben zwar auch problematisiert, doch dürfen sie genutzt und weiterentwickelt werden (Hennen u.a. 2001: 85-102, 137-140). Immer leistungsfähigere genetische Tests ermöglichen, für eine wachsende Anzahl genetischer Dispositionen und Faktoren zunehmend präzise die Eintrittswahrscheinlichkeit bestimmter Krankheitsereignisse, nicht aber deren Zeitpunkt und Ausprägung vorherzusagen. Da Diagnosen naturgemäß einfacher sind als Therapien, verschärfen genetische Tests die Diskrepanz zwischen den diagnostischen und therapeutischen Potentialen der Biomedizin. Dieser Trend wird durch die Fortschritte in der Humangenomforschung und Genchipentwicklung verstärkt. Einzelne Individuen oder Familien werden so mit einem neuartigen Wissen über Lebenserwartungen und mehr oder minder gewisse Krankheitsereignisse konfrontiert, ohne über angemessene therapeutische Optionen zu verfügen (Nelkin/Tancredi 1989). Solches Wissen ermöglicht einerseits sinnvolle Veränderungen der Lebensweise und eine bewußtere Lebensplanung, andererseits bringt es schwer zu verarbeitende Informationen über schicksalhafte oder wahrscheinliche Krankheitsereignisse. Den Nutzen solcher Tests schränkt ein, daß man statt hilfreichem vielleicht nur problematisches, nicht in Handlungsoptionen umsetzbares Wissen erhält. Dem gilt die kulturell und ethisch begründete Forderung auf ein persönliches Recht des Nichtwissens. Anwendungen genetischer Tests sind zudem vor allem im Versicherungs- und Arbeitsplatzkontext brisant (OTA 1992; Hennen u.a. 1996: 185-205; Hennen u.a. 2001: 117-135). Private Versicherungen interessieren sich für genetische Tests umso mehr, je zuverlässiger und weitreichender sie sind. Deren Akzeptabilität hängt davon ab, inwieweit Versicherungen Zugang zu anderen Orts vorliegenden Testdaten erhalten und wie die Pflichten zur Durchführung oder Offenlegung von Tests sowie das Recht auf Nichtwissen seitens der Versicherungsnehmer geregelt sind. Bei Krankenversicherungen ist entscheidend, ob anhand genetischer Tests individuelle Krankheitsrisiken privatisiert und damit gesellschaftliche Solidareinrichtungen eingeschränkt werden. In dem Fall wird die Spaltung des Gesundheitssystems in privat und staatlich (oder gar nicht) abgesicherte Bereiche vertieft. Bei Lebensversicherungen ist besonders wichtig, wie Datenzugang und offenlegung sowie die Einteilung der Risikogruppen (aufgrund diagnostischer oder prädiktiver Tests) geregelt werden. Während Versicherungsnehmer sowohl ein Interesse am Schutz sensibler persönlicher Daten haben als auch daran, daß andere sich nicht durch Vorenthaltung problematischer genetischer Daten Versicherungsleistungen erschleichen, so ist letzteres ein Hauptinteresse der Versicherungsgesellschaften. Arbeitgeber möchten genetische Tests anwenden, um Personen nicht einzustellen, die für bestimmte Arbeiten besondere Risikodispositionen tragen, oder um eingetretende Gesundheitsschäden auf individuelle genetische Disposition zurückzuführen (Daele 1985: 111-141, 151-154; Hennen u.a. 1996: 151-184; Hennen u.a. 2001: 103-116). Wie und mit welchen Folgen genetische Tests genutzt werden, hängt wesentlich davon ab, wie Arbeitsmarkt und betriebliche Arbeitsbeziehungen im Kräftefeld von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Staat reguliert werden. Die Akzeptabilität der Anwendung genetischer Tests durch private Versicherungen und Arbeitgeber ist in den USA und in Deutschland aufgrund der divergenten liberalen und sozialstaatlichen Traditionen unterschiedlich ausgeprägt. Die Anwendung genetischer Tests in Straf- und Zivilprozessen wird zunächst in bezug auf Sicherheitsprobleme bei der fehlerfreien Identifikation von Personen sowie Mißbrauchsmöglichkeiten datenschutzrechtlich brisanter Daten durch ermittelnde oder sonstige Behörden kritisiert. Fortschritte in der Effizienz und Nachweisempfindlichkeit des "genetischen Fingerabdrucks" werden vor allem durch die PCR-Technik und die Kombination verschiedener Tests erzielt, letztgenanntes Problem kann mit der technologischen Beschränkung der DNA-Analyse auf die nichtkodierenden Bereiche und der Regulierung behördlicher Kompetenzen begegnet werden. In der Folge wird der Nutzen solcher Verfahren insbesondere bei Sexual- und Tötungsdelikten weitgehend anerkannt. Auch beim Nachweis von Vaterschaften werden genetische Tests oft als unverzichtbare, da zweifelsfreie Rechtsprechung ermöglichende Instrumente angewandt (OTA 1990b; Hennen u.a. 1996: 206-239). Die untersuchten Beispiele bestätigen Hypothese 14, daß sich pauschalisierende Behauptungen über vorhandenen oder fehlenden Nutzen auf Dauer nicht durchsetzen konnten. Im allgemeinen war die gesellschaftliche Akzeptanz der Biotechnologie gering, wenn ihre Produkte oder Anwendungen keinen besonderen Gebrauchsnutzen aufwiesen. Darin lag eine Grenze der akzeptanzpolitischen Strategien, die marktvermittelte Innovationen generell als positiv darstellten. Dagegen bezeichnete schwer leugbarer Nutzen eine Grenze der gegenakzeptanzpolitischen Strategien, die Vorteile der Biotechnologie verneinten, auf hypothetischen Risiken beharrten oder divergente kulturelle oder ethische Bewertungen nicht tolerierten. Statt der behaupteten eindeutigen und objektiven Qualität der Biotechnologie setzten sich also bei verschiedenen Akteuren produkt- und anwendungsbezogene differenzierte Wahrnehmungen der Nutzen, Risiken und kulturellen bzw. moralischen Bedeutungen durch. In bezug auf beide für dieses Kapitel formulierten Hypothesen wurde deutlicher, daß positive oder negative Pauschalisierungen umso mehr verfochten wurden, solange sich die Auseinandersetzungen um die Alternative von Durchsetzung oder Verhinderung der Gentechnik drehten. Die Untersuchung akzeptanzpolitischer Prozesse erfaßt solche Überspitzungen, Wechselbeziehungen zwischen wissenschaftlich-technischen und institutionellen Entwicklungen sowie akteurs- und gesellschaftsspezifische Differenzierungen. Auch wenn der akzeptanzpolitische Bezugsrahmen - analog zur Struktur der politischen Öffentlichkeit - zumeist national war, konnten vielfältige transnationale Rückwirkungen innerhalb Europas wie auch zwischen EU und USA festgestellt werden (Eichenwald u.a. 2001; Pollack 2001b).
Erscheint lt. Verlag | 8.10.2007 |
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Reihe/Serie | Theorie und Gesellschaft ; 60 |
Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 140 x 214 mm |
Gewicht | 415 g |
Themenwelt | Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Technikgeschichte |
Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien | |
Schlagworte | Bioethik • Biotechnologie • Deutschland • Deutschland; Politik/Zeitgeschichte • HC/Soziologie/Arbeitssoziologie, Wirtschaftssoziologie, Industriesoziologie • Techniksoziologie • USA • USA; Politik/Zeitgesch. • USA; Politik/Zeitgeschichte |
ISBN-10 | 3-593-38373-X / 359338373X |
ISBN-13 | 978-3-593-38373-6 / 9783593383736 |
Zustand | Neuware |
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