ADHS und Sucht im Erwachsenenalter (eBook)
210 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-044140-8 (ISBN)
PD Dr. med. Monika Ridinger ist Psychiaterin, Psychotherapeutin und Suchtmedizinerin. In ihrer Praxis im Schweizer Baden bietet sie eine Spezialsprechstunde für Erwachsene mit ADHS an und beschäftigt sich seit über zwei Jahrzehnten intensiv mit ADHS und Sucht.
PD Dr. med. Monika Ridinger ist Psychiaterin, Psychotherapeutin und Suchtmedizinerin. In ihrer Praxis im Schweizer Baden bietet sie eine Spezialsprechstunde für Erwachsene mit ADHS an und beschäftigt sich seit über zwei Jahrzehnten intensiv mit ADHS und Sucht.
3 Allgemeine und klinische Epidemiologie der ADHS
Die ADHS ist eine der häufigsten neuropsychiatrischen Störungen mit Beginn in der Kindheit und einer sehr hohen erblichen Komponente.
3.1 Prävalenz der ADHS im Kindesalter
Die Prävalenz der ADHS im Kindesalter wird mit etwa 5,9 % angegeben (Polanczyk et al. 2014). Es besteht ein Geschlechterverhältnis von zwei bis drei Jungen zu einem Mädchen. Als Ursprung für die auffälligen Verhaltensweisen geht man bei ADHS von einer angeborenen Störung der Steuerungsfähigkeit mit Auswirkungen auf die Spannungs- und Emotionsregulation aus. Bereits im Säuglings- und Kleinkindalter fällt auf, dass Kinder mit ADHS häufiger mit Schreien reagieren als Kinder ohne ADHS, z. B., wenn sie durch innere oder äußere Reize irritiert werden oder wenn sie sich nicht wohlfühlen, etwa durch Hunger oder Kälte. Dies führt nicht selten zu Fütter- und Schlafstörungen sowie dazu, dass die unruhigen Kinder nur sehr schwer beruhigt werden können und weiter schreien. Da derartige Symptome nicht spezifisch für ADHS sind, sondern auch bei anderen körperlichen, psychischen oder neurologischen Störungen auftreten können, wird die Diagnose erst gestellt, wenn ein ausreichender Beobachtungszeitraum vorliegt und andere Störungsbilder ausgeschlossen werden konnten. Dies ist selten vor dem 5. Lebensjahr der Fall.
3.2 Prävalenz der ADHS im Erwachsenenalter
Die Symptome können in bis zu zwei Drittel der Fälle bis ins Erwachsenenalter bestehen (Faraone et al. 2006). Im Erwachsenenalter wird ein Geschlechterverhältnis von 1:1 bei Prävalenzzahlen zwischen 1 % und 7 % angegeben (Faraone et al. 2021).
Worauf die unterschiedliche Geschlechterverteilung im Kindes- und Erwachsenenalter zurückgeführt werden kann, ist im Detail nicht geklärt. Zum Teil werden die Unterschiede auf sozioökonomische Faktoren oder methodische Schwächen bei der Diagnosestellung zurückgeführt. Zum anderen zeigte eine Langzeitstudie an über 1.000 Menschen in Neuseeland, dass bei einem Großteil der Erwachsenen mit ADHS in der Kindheit noch keine Symptome nachweisbar waren (Moffitt et al. 2015). Somit wären nach dieser Untersuchung die unterschiedlichen Geschlechteranteile darauf zurückzuführen, dass es sich bei Kindern und Erwachsenen mit ADHS um unterschiedliche Betroffenengruppen handelt.
Auch die Prävalenzraten im Erwachsenenalter schwanken erheblich. Weltweit wurden im Erwachsenenalter Prävalenzraten um 2,5 % gefunden (Simon et al. 2009). In den USA ergaben zwei große Repräsentativerhebungen Prävalenzraten der ADHS im Erwachsenenalter im Mittel von 4 % (Kessler et al. 2006; Fayyad et al. 2007), was mit einer Durchmischung von Bevölkerungsanteilen mit erhöhten Prävalenzraten zusammenhängen könnte. So wurde in einer 19 Studien umfassenden Metaanalyse eine Prävalenzrate von 14 % bei unter 18-jährigen Schwarzen Menschen ermittelt (Cénat et al. 2020). Die Prävalenzraten sinken mit zunehmendem Alter der Betroffenen. Epidemiologische Studien an älteren Erwachsenen jenseits des 55. Lebensjahres ergaben Prävalenzraten zwischen 1 % und 2,8 % (Torgersen et al. 2016). Insgesamt ist die ADHS eine der häufigsten neuropsychiatrischen Störungen mit Beginn im Kindesalter.
Die Symptome der ADHS treten früh in der Kindheit auf, sind tiefgreifend und beeinflussen die Betroffenen und ihr Umfeld. Dabei finden sich bei ADHS die Auffälligkeiten in zahlreichen Lebensbereichen, da sie die Emotions- und Spannungsregulation betreffen und diese nicht in einem Lebensbereich funktionieren können und in einem anderen nicht. Da die Symptome der ADHS bereits in der Kindheit auftreten, ist das Risiko für Folgestörungen hoch. So hatte 2006 eine Repräsentativerhebung an über 3.000 erwachsenen US-Amerikanern ergeben, dass bei Vorliegen einer ADHS in mehr als zwei Drittel der Fälle mindestens eine weitere psychische Störung auftritt (Kessler et al. 2006). Am häufigsten werden Angststörungen, Depressionen, bipolare Störungen und Abhängigkeitserkrankungen gefunden (Hartmann et al. 2023). Das Risiko für derartige Störungen steigt, je schwerer die ADHS verläuft und bei Persistenz der ADHS-Symptome in die Adoleszenz und ins Erwachsenenalter.
3.3 Prävalenz von ADHS und Sucht
Sowohl in längs- als auch in querschnittlichen Untersuchungen wurden erhöhte Prävalenzraten für die Komorbidität (= zeitgleiches Auftreten) von ADHS und Sucht gefunden.
Die Arbeitsgruppe von Groenman beobachtete 1.017 Jugendliche zwischen 5 und 17 Jahren über vier Jahre mit einem Durchschnittsalter von 16.4 Jahren bei der Abschlussuntersuchung (Groenman et al. 2013). Nach dieser Langzeitstudie erkrankten Jugendliche mit ADHS im Vergleich zu Jugendlichen ohne ADHS etwa doppelt so häufig an irgendeiner Substanzabhängigkeit (Faktor 1,77). Nach der Repräsentativerhebung aus dem Jahr 2006 würde man für Erwachsene etwas höhere Faktoren erwarten. Hier zeigten 15,2 % der Erwachsenen mit ADHS die Diagnose einer Substanzabhängigkeit verglichen mit 5,6 % bei Erwachsenen ohne ADHS (Kessler et al. 2006). 2023 berechneten Hartmann und Kollegen in einer Übersichtsarbeit nach Metaanalyse von gepoolten Daten aus über 30 Studien (n = 550.748 ADHS-Betroffene versus n = 14.546.814 non ADHS) eine Wahrscheinlichkeit von 4.6 bei ADHS, an einer Substanzabhängigkeit zu erkranken (Hartmann et al. 2023).
Betrachtet man umgekehrt, wie hoch der Anteil ADHS-Betroffener bei Substanzabhängigkeit ist, so ergaben sich auch dort große Schwankungen der Prävalenzraten von 5,2 % (Arias et al. 2008) bis zu 62 % (Kumar et al. 2018), was zunächst darauf zurückgeführt wurde, dass die Fallzahlen in den Einzelstudien zu gering gewesen sein könnten. Aber auch die Repräsentativerhebung aus 2006 wich mit einer Prävalenzrate von 10,8 % sehr deutlich ab von einer 2012 publizierten Metaanalyse von 29 Studien, die eine gemittelte Prävalenzrate von 23,1 % ADHS bei Substanzabhängigkeit ergeben hatte (van Emmerik-van Oortmerssen et al. 2012).
Die Inkonsistenzen der Einzelbefunde führten schließlich zu der Erkenntnis, dass eine differenzierte und länderübergreifende Betrachtungsweise notwendig ist. So wurde 2010 das internationale Netzwerk ICASA (International Collaboration on ADHD and Substance Abuse) gegründet. Mitglieder sind 28 Zentren aus 16 Ländern, die sich intensiv der Forschung von ADHS und Suchterkrankungen widmen (Van de Glind et al. 2020). Auch hier zeigte die erste große internationale Prävalenzstudie – IASP-1 (International ADHD in Substance Use Disorders Prevalence Study) – an 3.578 Abhängigen aus 10 Ländern (Norwegen, Schweden, die Niederlande, Belgien, Frankreich, Spanien, Schweiz, Ungarn, Australien und USA) erhebliche Schwankungen der Prävalenzraten für ADHS unter den Substanzabhängigen im Ländervergleich von 5,4 % in Ungarn bis zu 31,3 % in Norwegen (van Emmerik-van Oortmerssen et al. 2014). Zusätzlich konnte die niederländische Studiengruppe zeigen, dass die unterschiedlichen Prävalenzraten auch auf die Überarbeitung vom DSM-IV zum DSM-5 im Jahr 2013 zurückzuführen waren. So ergaben sich im Vergleich zum DSM-IV bei den nach DSM-5 beurteilten Personen insgesamt höhere ADHS-Prävalenzraten (▸ Tab. 3.1).
Neben dem Herkunftsland und den Änderungen in den Diagnosekriterien spielen für die Risikoeinschätzung der Komorbidität von ADHS und Sucht auch noch das Alter, das Geschlecht und sozioökonomische Faktoren eine große Rolle. Auch wurde rasch klar, dass komorbide psychische Störungen unbedingt berücksichtigt werden sollten. So hatte bereits 2014 eine prospektive internationale ADHS-Prävalenz-Studie bei 1.205 abhängigen Personen in 47 Zentren aus 10 Ländern ergeben, dass 75 % der Substanzabhängigen mit ADHS im Vergleich zu 37 % ohne ADHS noch mindestens eine weitere komorbide Störung aufwiesen. Häufig handelte es sich um Angststörungen, Depressionen, bipolare Störungen und Persönlichkeitsstörungen (van de Glind et al. 2014). Aber auch bei Substanzabhängigen mit komplexen Kindheitstraumatisierungen wurde doppelt so häufig eine ADHS gefunden im Vergleich zu Substanzabhängigen ohne derartige frühere Belastungen (19,5 % versus 8,5 %, Konstenius et al. 2017).
Welche Rolle die komorbiden Störungen einnehmen, ist im Detail nicht geklärt. Wahrscheinlich hängt die Beeinflussung davon ab, wie früh eine weitere Störung auftritt. Ist doch bereits die Komorbidität von ADHS und Substanzabhängigkeit mit einem früheren Beginn der Abhängigkeit, einem schwereren Verlauf und schlechteren therapeutischen Effekten (Outcome) assoziiert, so können früh auftretende weitere psychische Störungen, wie...
Erscheint lt. Verlag | 12.3.2025 |
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Mitarbeit |
Herausgeber (Serie): Oliver Bilke-Hentsch, Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Michael Klein |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie | |
Schlagworte | ADHS • Adultes ADHS • Diagnostik • Erwachsene • Neurobiologie • Sucht • Suchtbehandlung |
ISBN-10 | 3-17-044140-X / 317044140X |
ISBN-13 | 978-3-17-044140-8 / 9783170441408 |
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