Sprachenräume der Schweiz (eBook)
498 Seiten
Narr Francke Attempto (Verlag)
978-3-381-10403-1 (ISBN)
Prof. Dr. Elvira Glaser, emeritiert, bis 2019 Lehrstuhl für Germanische Philologie an der Universität Zürich. Prof. Dr. Dr. h.c. Johannes Kabatek, Lehrstuhl für Iberoromanische und Vergleichende. Romanische Sprachwissenschaft, Universität Zürich. Prof. Dr. Barbara Sonnenhauser, Lehrstuhl für Slavische Sprachwissenschaft, LMU München.
Prof. Dr. Elvira Glaser, emeritiert, bis 2019 Lehrstuhl für Germanische Philologie an der Universität Zürich. Prof. Dr. Dr. h.c. Johannes Kabatek, Lehrstuhl für Iberoromanische und Vergleichende. Romanische Sprachwissenschaft, Universität Zürich. Prof. Dr. Barbara Sonnenhauser, Lehrstuhl für Slavische Sprachwissenschaft, LMU München.
Elvira Glaser, Johannes Kabatek, Barbara Sonnenhauser
Von der viersprachigen zur vielsprachigen Schweiz: Einleitung zu diesem Band
Karin Stüber
Sprachliche Vorgeschichte
Helen Christen, Regula Schmidlin
Deutsch
Andres Kristol
Les traditions dialectales de la Suisse romande:
francoprovencal et franc-comtois
Mathieu Avanzi
Francais
Stephan Schmid
Italienisch: Landessprache
Matthias Grünert
Rätoromanisch
Penny Boyes Braem
Gebärdensprachen
Mercedes Durham
English
Susanne Oberholzer
Deutsch in Samnaun
Karina Frick
Sprachen in Liechtenstein
Christoph Landolt
Jiddisch
Anja Hasse, Guido Seiler
Die Sprache(n) der Schweizer Täufer in Nordamerika
Stephan Schmid
Italienisch: Migrations- und Herkunftssprache
Johannes Kabatek, Mónica Castillo Lluch
Spanisch
Johannes Kabatek
Portugiesisch
Hellìk Mayer
Bosnisch-Kroatisch-Montenegrinisch-Serbisch (BKMS)
Shpresa Jashari
Albanisch
Raphael Berthele
Sprachbeziehungen und Sprachregelungen in der mehrsprachigen Schweiz
Philippe Humbert, Alexandre Duchêne, Renata Coray
Geschichte der Sprachenstatistik in der Schweiz:
Sprachräume, Sprachgemeinschaften, Zahlen und Macht
Glossar
Sprachliche Vorgeschichte
Karin Stüber, Universität Zürich
1Die Indogermanisierung Europas
Die meisten heute in Europa gesprochenen Sprachen – Ausnahmen sind etwa das Ungarische, Finnische und Baskische – gehören zur indogermanischen Sprachfamilie. Diese ist zur Zeit der jeweils frühesten Bezeugung über ein geographisches Gebiet von Indien im Südosten bis Island im Nordwesten verbreitet. In Europa beheimatet sind eine ganze Reihe von Sprachzweigen, in West- und Mitteleuropa die germanischen, keltischen und italischen Sprachen, weiter östlich dann die baltischen (Litauisch, Lettisch, nicht aber Estnisch), die slavischen (z.B. Russisch, Polnisch, Tschechisch, Kroatisch, Bulgarisch) sowie das Albanische und das Griechische, die je einen eigenständigen Zweig bilden.
All diese Sprachen gehen auf eine gemeinsame Grundsprache zurück, die man Urindogermanisch nennt. Wo die Sprecher dieser Grundsprache geographisch anzusiedeln sind, wo sich also die sogenannte Urheimat der Indogermanen befindet, war lange Zeit eine sehr umstrittene Frage ohne allgemein anerkannte Lösung. Prominent wurde die sogenannte Kurgan-Hypothese, die ursprünglich von Marija Gimbutas formuliert wurde. Die Kurgan-Kultur (auch Jamnaja-Kultur, engl. Yamnaya) ist eine spätsteinzeitlich-kupferzeitliche Kultur (ab ca. 3400 v. Chr.) in den Steppen nördlich und nordöstlich des Schwarzen Meeres, die durch charakteristische Grabhügel (russ. kurgan) gekennzeichnet ist. Ihre Träger wurden von Gimbutas und anderen mit den Sprechern der indogermanischen Grundsprache identifiziert.
Eine neue These geht dagegen davon aus, dass die Sprache der Träger der Jamnaja-Kultur nicht der gemeinsame Vorfahre aller indogermanischen Sprachzweige war, sondern nur eine Zwischenstufe. Das eigentliche Urindogermanische wäre demnach früher (um 6000 v. Chr.) südlich des Kaukasus anzusiedeln, und Sprecher der Vorläufersprachen des Griechischen und Albanischen wären nicht über die Steppe, sondern über Anatolien nach Europa eingewandert. Für das Baltische, Slavische, Germanische, Keltische und Italische wurde die Kurgan-Hypothese hingegen durch Erkenntnisse aus der Genetik bestätigt. So konnten deutliche Übereinstimmungen (ca. 75 %) im genetischen Material der Träger der Jamnaja-Kultur einerseits und der mitteleuropäischen schnurkeramischen Kultur (ab ca. 2800 v. Chr.) andererseits nachgewiesen werden. Deren Verbreitungsgebiet streift die Schweiz allerdings nur im äussersten Nordosten. Die Träger der schnurkeramischen Kultur sprachen wohl eine Sprache, die als Vorläufer der germanischen Sprachen gelten kann.
Westlich und südlich dieses Raums findet sich etwa gleichzeitig, d.h. ab ca. 2800/2700 v. Chr., die Glockenbecherkultur, deren Fundgebiet sich bis nach Grossbritannien erstreckt und auch die Schweiz umfasst. Auch für die Träger dieser Kultur ist inzwischen eine Übereinstimmung von ca. 90 % mit genetischem Material aus der Jamnaja-Kultur erwiesen. Auch sie ist demnach stark von Einwanderern aus der Steppe geprägt. Es ist zu vermuten, dass die Sprache ihrer Träger ein Vorläufer der keltischen und italischen Sprachen war.
Die Steppenvölker der Jamnaja-Kultur brachten nicht nur ihr genetisches Erbe und kulturelle Errungenschaften wie Pferd und Wagen mit nach Europa, sondern auch ihre Sprache, die sich gegenüber jenen Idiomen, die davor hier gesprochen wurden, schliesslich fast ganz durchsetzte. Einzig das Baskische hat als vorindogermanische Sprache bis heute überlebt. In der Antike sind allerdings noch andere vorindogermanische Sprachen inschriftlich bezeugt, so zum Beispiel das Etruskische in Oberitalien und das Rätische im östlichen Alpenraum.
Ein Überblick über die Theorien zur Urheimat der Indogermanen bei Mallory 1989: 143–185. Zur Kurgan-Hypothese z.B. Gimbutas 1992; Mallory 1989; Anthony 2007. Neuere genetische Forschung in Haak et al. 2015, Olalde et al. 2018 und Heggarty et al. 2023, zusammengefasst bei Vath 2022: 473 f.
2Reste vorindogermanischer Sprachen: Rätisch
2.1Die rätischen Inschriften und ihre geographische Verbreitung
Die Räter sind als Alpenvolk bei verschiedenen antiken Schriftstellern erwähnt und waren später für die römische Provinz Raetia namengebend. Ob es sich dabei um eines oder mehrere Völker handelte und wo die Räter geographisch genau anzusiedeln sind, wird bis heute kontrovers diskutiert und wird sich wohl mangels entsprechender Quellen nie endgültig entscheiden lassen. Nach ihnen benannt ist eine Gruppe vorrömischer Inschriften, deren geographische Verbreitung das Trentino, Südtirol, Nordtirol, das nördliche Veneto sowie das Unterengadin umfasst und die im Alphabet von Sanzeno (auch Alphabet von Bozen genannt) verfasst sind. Dieser geographische Raum deckt sich recht genau mit jenem der archäologisch definierten Fritzens-Sanzeno-Kultur, die in die zweite Hälfte des ersten Jahrtausends vor Christus zu datieren ist und bis zur römischen Eroberung (16/15 v. Chr.) Bestand hatte.
Abb. 1: Fundorte der Inschriften im Alphabet von Sanzeno, © Schumacher et al. 2016 (Zeichnerin Corinna Salomon)
Auf dem Gebiet der heutigen Schweiz ist bisher eine Inschrift bekannt, die sich anhand des Alphabets als rätisch definieren lässt. Es handelt sich um eine Tonscherbe, die in Ardez im Unterengadin gefunden wurde. Sie besteht lediglich aus zwei Buchstaben, was eine sprachliche Einordnung natürlich unmöglich macht. Archäologische und epigraphische Merkmale sprechen aber für eine Zugehörigkeit zur rätischen Gruppe, so dass davon auszugehen ist, dass auch die Sprache der Inschrift mit jener der übrigen Vertreter der Gruppe identisch war.
2.2Die rätische Sprache
Es wird heute davon ausgegangen, dass die rätischen Inschriften Zeugnisse einer einzigen Sprache sind, die somit auch im Unterengadin einst gesprochen wurde. Inzwischen gilt als erwiesen, dass diese Sprache eng mit dem nicht-indogermanischen Etruskischen verwandt ist. Übereinstimmungen gibt es im Wortschatz, so entspricht rät. eluku dem etruskischen ilucu, als Bedeutung wurde ‘Opfer’ vermutet. Eine weitere Gleichung bilden rät. sφura* (belegt nur in der Form des Genitivs sφuras) und etrusk. spura ‘Stadt, Gemeinde’. Wichtiger für die Frage der sprachlichen Verwandtschaft ist, dass sich auch in der Morphologie Parallelen finden, so das Suffix -ku/-qu (etrusk. aliqu ‘Geschenk’ zu alice ‘schenkte’) und die Endungen ‑le und ‑si, die meist an Personennamen treten und entweder die handelnde Person oder den Adressaten kennzeichnen.
Es gibt jedoch auch deutliche Unterschiede zwischen Rätisch und Etruskisch, so dass davon auszugehen ist, dass es sich um zwei verwandte, aber doch verschiedene Sprachen handelt. Es waren wohl Schwestersprachen, die zu einer früh ausgestorbenen Sprachfamilie des Mittelmeerraums gehörten, zu der sich als drittes noch das Lemnische als Sprache einiger auf der Ägäisinsel Lemnos gefundenen Inschriften gesellt.
Die Inschrift von Ardez ist somit bis heute der einzige klare Hinweis darauf, dass auch auf dem geographischen Gebiet der Schweiz in vorhistorischer Zeit ein nicht-indogermanisches Idiom gesprochen wurde. Ob das Verbreitungsgebiet dieser Sprache sich auf das Unterengadin beschränkte oder allenfalls noch weitere Teile der Bündner Alpen umfasste, muss mangels entsprechender Zeugnisse offen bleiben.
Weitere Informationen zum Rätischen bieten Rix 1998; Schumacher 1998, 2004. Eine aktualisierte Sammlung der Inschriften findet sich bei Schumacher et al. 2016.
3Keltisch
Keltisch ist im Grundsatz ein sprachwissenschaftlicher Begriff. Die keltischen Sprachen gehören zur indogermanischen Sprachfamilie (siehe Abschnitt 1), ihre Sprecher werden als Kelten bezeichnet. Diese werden aber oft auch mit einer archäologischen Grösse in Zusammenhang gebracht, nämlich mit der La-Tène-Kultur, die nach einer Siedlung am Neuenburger See benannt ist und in den letzten fünf Jahrhunderten v. Chr. blühte. Die La-Tène-Kultur breitete sich in verschiedene Richtungen aus, einerseits nach Westen, nach dem heutigen Frankreich und Belgien, andererseits aber auch nach Südosten bis ans Schwarze Meer. Diese archäologisch nachweisbaren Expansionen stimmen in groben Zügen mit dem überein, was antike Autoren über die Wanderungen der Kelten berichten.
Über die Sprache der östlichen keltischen Stämme ist wenig bekannt; einzige Überreste sind einige Orts- und Personennamen. Weiter westlich steht es in dieser Hinsicht besser. In Oberitalien finden wir in früher Zeit das Volk der Lepontier, später dann die besser bekannten Gallier. Gallier sind auch diejenigen Stämme, die im Westen in Frankreich und Belgien siedelten. Von der Sprache der Lepontier und Gallier zeugen zumindest einzelne Inschriften. Früh gelangten Kelten auch auf die iberische Halbinsel, nachweisbar sind sie dort seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert. Auch diese Stämme, die Keltiberer, hinterliessen inschriftliche Zeugnisse. Diese festlandkeltischen Sprachen sind alle sehr lückenhaft überliefert, die uns erhaltenen Inschriften sind meist kurz oder aber schwer verständlich. Ein Gesamtbild der Grammatik oder des Lexikons lässt sich aus ihnen nicht gewinnen, man spricht von Trümmersprachen.
Auf den Britischen Inseln lassen sich Sprecher eines indogermanischen Idioms, das als Vorläufer des Keltischen gelten kann, archäologisch und genetisch bereits seit 2800/2700 v....
Erscheint lt. Verlag | 25.11.2024 |
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Verlagsort | Tübingen |
Sprache | englisch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Germanistik |
Schlagworte | Dialektologie • Mehrsprachigkeit • Sprachen der Schweiz • Sprachen in Liechtenstein • Sprache und Migration • Sprache und Raum • Sprachgeschichte der Schweiz • Sprachstatistik |
ISBN-10 | 3-381-10403-9 / 3381104039 |
ISBN-13 | 978-3-381-10403-1 / 9783381104031 |
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Größe: 17,6 MB
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