Diakonisch handeln in Gemeinde und Gemeinwesen (eBook)

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2024 | 1. Auflage
139 Seiten
Vandenhoeck und Ruprecht (Verlag)
978-3-647-99296-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Diakonisch handeln in Gemeinde und Gemeinwesen -  Gerhard K. Schäfer
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Die Gestaltung inklusiver Gemeinden, integrativer Sozialräume und solidarischer Gemeinwesen bedarf einer Kultur des Zusammenwirkens zwischen diakonischen Einrichtungen und Kirchengemeinden. Übergänge zwischen verschiedenen Formen sozialer Unterstützung sind zu gestalten. Zwischenräume sind auszuformen, in denen Menschen eigene und gemeinsame Interessen artikulieren und aushandeln können. Das Zusammenwirken von Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen ist zu verstärken. Es gilt, unterschiedliche Akteure vor Ort miteinander zu vernetzen sowie Gaben, Kompetenzen und Hilfeformen zu verknüpfen, damit 'ganzheitliche' Unterstützung möglich wird und vermehrt Felder der Teilhabe in unserer Gesellschaft entstehen. In exemplarischer Weise werden Prinzipien diakonischen Handelns, diakonische Orte, Handlungsfelder und aktuelle Aufgabenstellungen dargestellt.

Dr. theol. habil. Gerhard K. Schäfer war Professor für Gemeindepädagogik und Diakoniewissenschaft sowie Rektor an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum.

Dr. theol. habil. Gerhard K. Schäfer war Professor für Gemeindepädagogik und Diakoniewissenschaft sowie Rektor an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum.

1Situation


1.1Diakonie und Kirche: Spannungen und Zuordnungen


In den folgenden Abschnitten sollen das Verständnis diakonischen Handelns, das hier leitend ist, dargelegt, das Verhältnis von Kirche und Diakonie umrissen und diakonische Prozesse der Ausdifferenzierung skizziert werden. Die unterschiedlichen Aspekte und Zugänge münden in die Forderung einer Kultur des Zusammenwirkens.

1.1.1Diakonisches Handeln

Das aus dem Griechischen stammende Wort »Diakonie« meint ursprünglich, eine Mission erfüllen, einen Auftrag ausführen, eine Botschaft übermitteln, oder auch, sich Menschen helfend zuwenden. Der Bedeutungsaspekt der helfenden Zuwendung hat sich in der christlichen Tradition durchgesetzt.

Helfen und Hilfe empfangen – das gehört zum Menschsein. Helfen ist etwas allgemein Menschliches. Wir wissen aber auch, dass Hilfe verweigert wird oder misslingen kann, und auch, dass Menschen sich schämen, Hilfe anzunehmen. Die Fähigkeit zu helfen, kann kulturell gefördert, aber auch eingeschränkt und ausgehöhlt werden. Diakonie rückt die Hilfe für andere in ein spezifisches Licht. Diakonie ist keine prinzipielle Alternative zu »weltlicher« sozial-pflegerischer Arbeit, sondern nimmt Aufgaben der Unterstützung und Befähigung zur eigenen Lebensführung in einer spezifischen Perspektive wahr, indem sie sie auf die Bestimmung des Menschen durch Gott bezieht.

Diakonisches Handeln hat seinen Grund in Gott selbst. Da, wo sein Ebenbild entehrt und wo die Würde des Menschen mit Füßen getreten wird, wird Gott, der Schöpfer, selbst entehrt. Von Gott heißt es in der Bibel: Er ist des »Armen Schutz« (Ps 9,10) und verschafft den Waisen und Witwen ihr Recht (5. Mos/Dtn 10,18). Diakonie heißt, Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit nachvollziehen – soweit wir das als Menschen können. Diakonie wurzelt in der Sendung Jesu Christi, in der Gottes Erbarmen greifbar wird. Jesus wendet sich vor allem denen zu, die mit leeren Händen dastehen, den Armen und an den Rand Gedrängten. So setzt er zeichenhaft das Reich Gottes in Kraft. Diakonie geschieht im Horizont des Reiches Gottes. Diakonisches Handeln vollzieht sich schließlich im Zeichen des Geistes Gottes, der Gaben weckt, Freude an schöpferischen Differenzen schenkt, Empathie stärkt und Lebensmut vermittelt. Das Wirken des Geistes sensibilisiert zugleich für ungerechte Differenzen und drängt auf eine vollkommenere Gerechtigkeit, durch die der Schutz Schwacher und Benachteiligter gestärkt wird.

Diakonisches Handeln ist eine Signatur der Christenheit. Diakonie gehört von Beginn an zum Selbstverständnis des Christentums und zur Praxis christlicher Gemeinden und Gruppen. Dabei gewinnt diakonisches Handeln konkrete Gestalt in Reaktion auf die Nöte der jeweiligen Zeit.

Es ist meines Erachtens sinnvoll, ein weiteres und engeres Verständnis von Diakonie zu unterscheiden: Der weite Begriff hat die diakonische Grundhaltung jedes Christenmenschen und das daraus entspringende Handeln im Blick. Martin Luther hat beschrieben, wie die Freiheit des Glaubens, die in der letztgültigen Anerkennung des Menschen durch Gott wurzelt, eine diakonische Grundhaltung begründet, die für die Not des anderen sensibilisiert und zu einem Handeln inspiriert, das sich unter den Nächsten stellt. Aufmerksamkeit, Achtung, Zuwendung und Sorge für Lebensbedingungen, die äußere Freiheit ermöglichen, sind kennzeichnende Elemente dieser Grundhaltung.

Davon wohl zu unterscheiden, aber keinesfalls zu trennen, ist ein engeres Verständnis im Sinne des organisierten diakonischen Handelns. Es steht hier im Fokus. Diakonie meint danach die christlich begründete kontinuierliche Hilfepraxis für Menschen in Not, die darauf zielt, ihnen ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben und volle gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Damit sind insbesondere folgende Aspekte verbunden:

(1) Diakonisches Handeln ist wesentlich Assistenz zu einem Leben in kommunikativer Freiheit. Das assistierende Handeln im Blick auf das Grundbedürfnis nach Selbstbestimmung verbindet sich mit der Teilhabe an der Gemeinschaft. (2) Diakonie geschieht in der Kraft der Liebe. In diakonischem Handeln geschieht Nächstenliebe in organisierter und verlässlicher Form. Es kann schwach organisiert sein, wie bei einem Besuchsdienst einer Gemeinde, oder auch hochgradig formal organisiert wie in diakonischen Unternehmen. (3) Diakonisches Handeln als gemeinschaftliches, kollektives Handeln kann ehrenamtlich und beruflich ausgeübt werden. (4) Theologisch gesehen ist das Subjekt diakonischen Handelns die »Kirche«. Empirisch wird es getragen von Initiativgruppen und Kommunitäten, Gemeinden und kreiskirchlichen Diakonischen Werken, überregional operierenden diakonischen Unternehmen und Verbänden, die in sehr unterschiedlicher Weise mit der verfassten Kirche verbunden sind und verschiedene Rechtsformen aufweisen. (5) Das Handeln der Diakonie ist mehrschichtig. Drei grundlegende Funktionen können unterschieden werden: Diakonisches Handeln richtet sich zuerst und zuletzt an den Einzelnen. Diakonie leistet unmittelbare Hilfe. Das ist das personale Merkmal. Diakonie wirkt zum zweiten mit, hilfreiche Arrangements zu schaffen. Sie versucht, Bedingungen zu ermöglichen, die Alltagssolidarität fördern, und die Menschen für sich nutzen können, um ihre Ideen von einem guten Leben zu realisieren. Sie kultiviert soziale Werte, Haltungen, Einstellungen, die allemal Grundlage einer humanen Gesellschaft sind. Das ist das strukturelle Moment. Schließlich ist es Aufgabe der Diakonie, schwach vertretene Interessen in die Gesellschaft und in die Politik hinein zu vermitteln. Das ist die anwaltschaftliche beziehunsgweise sozialpolitische Aufgabe der Diakonie. Sie schließt Kritik an systemischen Missständen ein. Die Kehrseite diakonischer Zuwendung ist der Protest gegen gesellschaftliches Unrecht. Das kann als prophetisches Moment bezeichnet werden. Die dritte Aufgabe der Diakonie richtet sich zugleich darauf, mit möglichst konkreten Beiträgen zu sozialen Fragen dazu beizutragen, das gesellschaftliche Niveau von Gerechtigkeit zu steigern. Aus der Barmherzigkeit von heute soll das Recht von morgen werden.

1.1.2Zum Verhältnis von Kirche und Diakonie

Diakonie und Kirche gehören theologisch untrennbar zusammen. Verfasste Kirche und institutionalisierte Diakonie sind hierzulande personell, rechtlich und institutionell miteinander verklammert. Auch von außen werden Kirche und Diakonie als zusammengehörend wahrgenommen. Gleichwohl ist ihr Verhältnis durch Spannungen und Friktionen geprägt. Die Beziehungsstörungen äußern sich immer wieder in wechselseitiger Kritik: Die Kirche und die Kirchengemeinden seien nicht diakonisch genug, die Diakonie nicht kirchlich genug. Kirche sei unflexibel, weil zu bürokratisch und staatsanalog strukturiert. Und umgekehrt: Die Diakonie sei weithin säkularisiert und marktförmig geworden und als christliches beziehungsweise kirchliches Handeln kaum noch zu identifizieren. Die Mitarbeiterschaft der Diakonie sei zwar fachlich qualifiziert, aber kaum noch religiös motiviert und kirchlich eingebunden. Umgekehrt kann Vertretern der verfassten Kirche, die die kirchliche Identität der Diakonie einklagen und eine stärkere organisatorische Anbindung der Diakonie an kirchliche Strukturen fordern, ein verkappter Herrschaftsanspruch unterstellt werden. Ihnen begegnet zudem der Vorwurf, sie beanspruchten ein Monopol auf die Definition legitimer Kirchlichkeit und authentischer Diakonie.

Damit sind – abgesehen von Animositäten, wie sie manchmal oder auch und gerade bei Geschwistern vorkommen, – strukturelle Konflikte angedeutet.

Die Diskrepanz zwischen Kirche und Diakonie lässt sich historisch erklären. Sie wurzelt in der spannungsvollen Zuordnung von Innerer Mission und verfasster Kirche seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie kann zugleich soziologisch verständlich gemacht werden. Ich greife in grober Form auf die Analyse zurück, die Niklas Luhmanns (1977) systemtheoretischer Ansatz bietet. Danach ist die Spannung zwischen Kirche und Diakonie Ausdruck der Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft in relativ autonome Funktionsbereiche. Die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft hat eine Binnendifferenzierung des Religionssystems zur Folge: Der Teilbereich »Kirche« bezieht sich auf das Gesellschaftssystem als Ganzes. Kirche meint dabei religiöse Kommunikation in Gestalt von Verkündigung und Ritualen und hat die Funktion der Sinnvermittlung und der Kontingenzbewältigung. Der andere Teilbereich ist der der Diakonie. Diakonie bezieht sich auf andere gesellschaftliche Teilsysteme. Diakonie bearbeitet sozialstrukturelle Probleme, die in anderen Systemen – insbesondere im Staat und in der Wirtschaft – erzeugt oder als Probleme definiert werden. Sie ist darauf angewiesen, dass ihre Leistungen von anderen Teilsystemen nachgefragt und abgenommen werden. Sie muss ihre Leistungen daher passend zu den Normen und Standards anderer Teilsysteme erbringen. Sie hat sich also Fremdnormierungen zu unterwerfen, um ankommen zu können. Damit aber gerät die Diakonie notwendigerweise in Spannung zum Teilbereich Kirche. Kirche und Diakonie driften – so die Diagnose – in der modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft immer mehr...

Erscheint lt. Verlag 18.11.2024
Reihe/Serie Praktische Theologie konkret
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Hans-Martin Lübking, Bernd Schröder
Zusatzinfo mit 9 Abb. und 1 Tab.
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Schlagworte Diakonie • Gemeinde • Inklusion • Kirche • Teilhabe • Vielfalt
ISBN-10 3-647-99296-8 / 3647992968
ISBN-13 978-3-647-99296-9 / 9783647992969
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