Scham und Würde (eBook)
384 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-38753-0 (ISBN)
Psychotherapeut in freier Praxis in Wien. Schwerpunkte: Traumaheilung, Atemarbeit, pränatale Therapie. Ausbildung in personzentrierter Psychotherapie, Atemtherapie, systemischer Therapie und Peakstates-Therapie. Seminar- und Gruppenleiter, Ausbildungsleiter in Atemarbeit.
Psychotherapeut in freier Praxis in Wien. Schwerpunkte: Traumaheilung, Atemarbeit, pränatale Therapie. Ausbildung in personzentrierter Psychotherapie, Atemtherapie, systemischer Therapie und Peakstates-Therapie. Seminar- und Gruppenleiter, Ausbildungsleiter in Atemarbeit.
2.3 Scham, weil wir autark sein müssen
In meinem ersten Buch über die Scham habe ich die Abhängigkeitsscham erörtert.
In diesem Buch habe ich für diese Schamform den Begriff der Autarkiescham hinzugefügt. Autarkie bedeutet, auf keine Unterstützung durch andere angewiesen sein, also niemanden zu brauchen, um sein Leben zu leben und darin sicher zu sein. Autark ist jemand, der seine eigene Existenz selbst absichern kann, in wirtschaftlicher, aber auch in emotionaler Hinsicht. Die einfache Form der Autarkie ist ein Teil der Erwachsenenkompetenz: Das eigene Leben selbständig bewältigen zu können. Sie steht im Austausch und manchmal im Spannungsfeld mit den Erfordernissen der zwischenmenschlichen Beziehungswelt. Die Scham mischt sich ein, wenn sich das Autarkiebestreben aufgrund kindlicher Prägungen als Überlebensprogramm ausgebildet hat und über die Maßen das eigene Verhalten dominiert, sodass die Rücksichtnahme und die Einstimmung auf die Bedürfnisse und Bestrebungen der Mitmenschen schwerfallen.
Denn da wir als Menschen soziale Wesen sind, beinhaltet das Streben nach Autarkie immer auch die Abwendung von der zwischenmenschlichen Verbundenheit.
Mit sozialen Interaktionen sind immer Abhängigkeiten verbunden, die bei einer autarken Prägung mit Scham und Angst aufgeladen sind. Die Rolle der proaktiven Scham besteht darin, für diese Verbundenheit unter den Menschen zu sorgen, indem sie sich meldet, wenn das eigene Verhalten den Anforderungen für das Zusammenleben zuwiderläuft. Das Bestreben, sich aus Abhängigkeiten zu lösen, hat deshalb automatisch Schamreaktionen zur Folge. Sie sollen bewirken, dass die Übernahme der Eigenverantwortung immer genau auf die Bedürfnisse der sozialen Netzwerke, in denen wir uns befinden, abgestimmt bleibt.
Das Gleichgewicht zwischen diesen Polen zu finden, fällt uns leicht, wenn wir in unserer Kindheit von unseren Eltern erlebt haben, dass unsere Bindungsbedürfnisse und Freiheitsbedürfnisse gleicherweise von unseren Eltern wertgeschätzt und unterstützt wurden. War diese Balance in der Kindheit gestört, so hat das Kind nur zwei Möglichkeiten, sich zu orientieren. Die eine besteht darin, sich voll auf die Abhängigkeit zu verlassen und im weiteren Leben immer andere zu brauchen, um die Erfordernisse des Alltags zu schaffen. Die andere setzt auf die Autarkie, auf die Unabhängigkeit von den anderen. Statt sich Hilfe und Unterstützung zu holen, wird alles selber gemacht.
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Autarkie als Überlebensstrategie
Die Autarkiescham ist mit der Vorstellung verbunden, das eigene Leben aus eigenen Kräften schaffen zu müssen, heißt. Ihr Anforderungsmuster ist: „Ich muss mein Leben alleine bewältigen.“ Sie drückt sich in dem folgenden Glaubensprogramm aus: „Wenn ich es nicht alleine schaffe, bin ich nichts wert.“ Das ist der schamdurchtränkte Subtext, der aus der Leistungsnorm der Autarkiegesellschaft die Autarkiescham herausschält.
Um ihren Eltern nicht zur Last zu fallen, versuchen die Kinder, so früh wie möglich ihre Selbständigkeit zu erwerben. Sie stellen ihre Bedürfnisse zurück, sobald sie merken, dass sie nur widerwillig befriedigt werden oder eine Belastung für die Eltern darstellen. Sie werden früh sauber und fügen sich klaglos in eine Kinder-krippe ein. Sie lernen, sich still zu halten und keinen Lärm zu machen. Sie stützen sich auf ihre wachsende Autarkie, aus der langsam dämmernden Erkenntnis, dass Unterstützung und Hilfe immer an Bedingungen geknüpft ist und mit Schuld abbe-zahlt werden muss.
Im späteren Leben mündet diese eingeprägte Überlebensstrategie häufig in Überlastung. Denn das Grundgefühl, es allein schaffen zu müssen, erzeugt eine innere Isolation und einen verbissenen Aktionismus nach außen. Ständig geht es darum, durch Erfolge zu beweisen, dass der Eigenwert berechtigt ist. Jeder Erfolg muss mit übermäßigem Stolz quittiert werden, weil das innere Wertgefühl auf wackeli-gen Beinen ruht.
Bleiben die Erfolge aus, kann es schnell zum seelischen Zusammenbruch kommen.
Die Bestätigung für die eigene Werthaftigkeit bricht weg, und es bleibt ein Trümmerhaufen übrig. Die Scham meldet sich massiv und tritt an die Stelle des Stolzes, der sich aus den Errungenschaften der Autarkiebemühungen genährt hat.
Im Inneren tobt der quälende Kampf zwischen dem verbliebenen Stolz, der noch immer glaubt, alles allein zu bewältigen, und der Scham, die sich aus der Erfahrung nährt, es doch nicht zu schaffen. Ein Teufelskreis entsteht, bei dem der Stolz daran erinnert, was früher alles möglich war, während die Scham resigniert zur Kenntnis nimmt, dass selbst kleine Schritte unendlich schwerfallen oder dass die immer wieder gefassten Vorsätze wieder und wieder im Sand verlaufen. Der Stolz hindert daran, sich Hilfe zu holen und um Unterstützung zu bitten und verstärkt damit die Scham, die das Weiterkommen hemmt.
Menschen mit diesem Muster ziehen sich logischerweise zunehmend zurück und vermeiden den Kontakt mit anderen Menschen. Sie glauben, dass ihnen jeder ihr Versagen ansieht. Schließlich wollen sie mit niemandem mehr reden, weil sie meinen, dass sie nichts vorweisen können, was andere beeindruckt oder interessiert. Sie verdrücken sich aus der Öffentlichkeit und verschwinden allmählich in sich selbst. Oft beginnen sie sich zu vernachlässigen, was wiederum die Scham anstachelt.
Autarkiescham und Bedürfnisscham
Die Abhängigkeitsscham ist ein Abkömmling der Bedürfnisscham und kann sich an sie anhängen. Sie hat aber einen anderen Schwerpunkt. Wenn wir uns für unsere Bedürftigkeit schämen, halten wir wichtige Bedürfnisse für unerwünscht und wer-Seite 36
ten uns deshalb ab. Wenn wir uns wegen der Abhängigkeit schämen, dann leiden wir daran, dass andere mächtiger sind als wir und dass unser Überleben von ihrer Gunst abhängt. Wir schämen uns, dass wir nicht stärker und unabhängiger sind und für uns sorgen können, und wir wollen aus dieser Position möglichst rasch herauskommen. Wir fühlen uns minderwertig, weil wir nicht schon autarker sind als wir es gerne hätten.
Die Bedürfnisscham ist gewissermaßen rückwärts gerichtet und begünstigt regressive Tendenzen. Die Autarkiescham zielt in die andere Richtung, bemängelt den Ist-Zustand und fordert mehr Reife und seelisches Wachstum. Sie hat ihre Wurzeln in Erfahrungen des Ausgeliefertseins und der Unterlegenheit, die mit Abwertungen verbunden waren. Eine Mutter sagt z.B.: „Weil du nicht durchschlafen kannst, bin ich den ganzen Tag müde.“ Die Scham drängt nun darauf, besser durchschlafen zu können. Ein Vater sagt z.B.: „Weil du so ungeschickt bist, muss ich so viel Zeit mit dir verbringen, bis du endlich was begreifst.“ Die Scham motiviert zum schnelleren Lernen von Fertigkeiten. Eine Oma sagt z.B.: „Weil du so heikel bist, ist das Essen immer eine Qual mit dir.“ Die Scham führt dazu, sich nicht mehr über Omas Essen zu beschweren.
Solche Sätze müssen oft gar nicht ausgesprochen werden. Es genügt, wenn sie durch Gesten, Blicke, Seufzen oder andere nonverbale Signale übermittelt werden, die von Kindern genauso sensibel aufgenommen werden wie sprachliche Aussagen. Das Kind zieht den Schluss, dass es aus seiner beschämenden Unbehol-fenheit und Fehlerhaftigkeit nur herauskommen kann, wenn es sich anstrengt, gut für sich selber zu sorgen und ja nicht anderen Menschen zur Last zu fallen.
Der Drang zur Unabhängigkeit macht uns stark; die Scham, abhängig zu sein, schwächt uns, weil sie uns misstrauisch macht, uns selbst und den anderen gegenüber. Solange allerdings unser Bestreben nach Selbständigkeit von der Scham angetrieben wird, kommen wir nie zu einer reifen und erwachsenen Autonomie und zu einem klaren Eigenwillen. Vielmehr versuchen wir dauernd, unsere Selbständigkeit zu behaupten mit der Angst im Hintergrund, sie zu verlieren, statt dass wir einfach selbständig sind und aus unserem Zentrum heraus handeln. Wir wollen uns und den anderen fortlaufend beweisen, dass wir alles alleine meistern, fürchten aber dabei immer, bei diesen Aufgaben zu versagen und wieder in eine Abhängigkeit zu rutschen. Mit dieser Einstellung neigen wir dazu, gegen Anweisungen und Anordnungen zu kämpfen, weil wir vordergründig meinen, es besser zu wissen und es allein zu schaffen. Insgeheim wirkt die Furcht, unsere Selbstachtung und unsere Existenzberechtigung zu verlieren, wenn wir nur tun, was uns andere anschaffen. Leicht geraten wir in die Rolle des ewig trotzigen Rebellen.
Fallbeispiel:
Frau K. ärgert sich, dass ihr Vater abschätzig reagiert, wenn sie von einer Reise berichtet, die sie vorhat. Er sagt vorwurfsvoll, er versteht nicht, warum sie so oft verreist. Sie würde sich stattdessen verständlicherweise wünschen, dass er ihr eine gute Reise wünscht und sie vielleicht um ein paar Fotos bittet. Auf die Frage, wie es wäre, wenn sie ihm bei nächster Gelegenheit diesen Wunsch mitteilen würde, zögert sie und wird traurig.
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Sie will sich eine weitere Enttäuschung ersparen und verzichtet lieber auf die Mitteilung des Wunsches. Wohl aber kann sie sich vorstellen, eine Grenze zu ziehen, indem sie sagt, sie wolle seine Vorwürfe nicht hören. Sie hat ...
Erscheint lt. Verlag | 15.10.2024 |
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Verlagsort | Ahrensburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Archetypen • Bindungsstile und Scham • Enneagramm • Kollektive Scham • Letzte Fragen und Scham • Prosoziale und reaktive Scham • Scham • Schamgestalten |
ISBN-10 | 3-384-38753-8 / 3384387538 |
ISBN-13 | 978-3-384-38753-0 / 9783384387530 |
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