Einleitung
Heinrich Dittmar und Dr. Herbert Jäkel legten mit ihrem Buch „Geschichte der Juden in Alsfeld“ aus dem Jahr 1988 die Grundlage für alle weiteren Forschungen auf diesem Gebiet. Vor allem Heinrich Dittmar ist es zu verdanken, dass er die Liste der Juden, die Opfer des Holocausts wurden, ständig weiterschrieb und ergänzte, was vor allem seinen Kontakten zu Überlebenden, die er bis zu seinem Tod im Jahr 2014 pflegte, zu verdanken ist. Und so sind auch einige Berichte von Überlebenden des Holocausts, die von ihnen selbst geschrieben oder von Heinrich Dittmar aufgezeichnet worden sind, in dieses Buch eingeflossen. Sie berühren mehr, als es Geschichtsbücher vermögen. Zeigen sie doch hautnah, wie aus einem gesellschaftlichen Miteinander in einer ländlichen Kleinstadt wie Alsfeld auch hier nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 Ausgrenzung, Diskriminierung, Demütigung und Gewalt die Oberhand gewannen.
Immer wieder stellt sich dabei die Frage: Wie konnte es innerhalb so kurzer Zeit zu solch einem dramatischen Wandel kommen? Hatten die Christen ihre Menschlichkeit vollkommen vergessen? Natürlich berichten Zeitzeugen auch von Mitmenschen, die ihnen heimlich halfen, ihnen beistanden in diesen schweren Zeiten, vor allem auch, wenn es um die Auswanderung ging. Doch bleibt festzustellen, dass die Mehrheit der nationalsozialistischen, antisemitischen Propaganda und Politik erlag und ihr gehorsam folgte – selbst in der kleinen Stadt Alsfeld, wo jeder jeden kannte, teilweise schon seit Jahrzehnten, die Gluck und Leid der Nachbarn, Freunde und Kollegen teilten. Alsfeld ist diesbezüglich keine Ausnahme.
Das gesellschaftliche und vertrauensvolle Miteinander über Religionsgrenzen hinweg zeigt sich sehr gut an zwei Beispielen aus Alsfeld. So ist 1888 eine Hochzeit zwischen dem Juden Jacob Bamberger und der Christin Minna Bellinger in den Heiratsurkunden verzeichnet, und der Christ Karl Dechert zeigt den Tod des Juden Moses Flörsheim im Jahr 1927 an. Helmuth Riffer wies darüber hinaus darauf hin, dass viele Juden ab Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Kindern christliche Vornamen gaben.1 Juden waren in der Kommunalpolitik tätig, waren Förderer und Mäzene von Vereinen, wie beispielsweise dem Gesangverein Liederkranz, waren Vereinsmitglieder, Freunde, Nachbarn, Schulkameraden, Kriegskameraden im deutschfranzösischen Krieg 1870/71 und dem Ersten Weltkrieg, Geschäftspartner und -kunden sowie Arbeitgeber, beispielsweise in der Wallachschen Brauerei oder der Kleiderfabrik Steinberger & Co. All dies ging ab Anfang 1933 Stück für Stück verloren durch den Antisemitismus der Nationalsozialisten, der in einem beispiellosen Genozid endete.
Ab 1933 verschwanden nach und nach die vielen kleinen jüdischen Einzelhandelsgeschäfte in der Alsfelder Innenstadt, deren Besitzer auch Arbeitgeber waren, neben den größeren Unternehmen. Ihre Inhaber emigrierten oder gingen in größere Städte wie Frankfurt, Fulda oder Essen, weil sie glaubten, dort in der Anonymität besser geschützt zu sein, wieder ein halbwegs normales Leben führen zu können. Einige Alsfelder Juden hatten versucht, sich durch die Emigration nach Belgien oder Frankreich den Schergen des Nazi-Regimes zu entziehen. Doch am Ende half auch diese Flucht nichts: Die nationalsozialistische Bürokratie und Polizei spürte sie überall auf, unterstützt nicht selten durch Spitzel und Denunzianten. Und so wurden über 100 Alsfelder Jüdinnen und Juden, jung und alt, Opfer des Holocausts. Sie starben in den Konzentrationslagern Auschwitz, Majdanek, Sobibor und Treblinka, den Ghettos Theresienstadt, Riga und Lodz, wurden misshandelt, entrechtet und gedemütigt in Internierungs-, Durchgangsund Sammellagern in Frankreich, Belgien, den Niederlanden. Auf einigen Grabsteinen auf dem jüdischen Friedhof in Alsfeld erinnern Gedenkinschriften an dieses Martyrium.
Auch in Alsfeld wurden die Machtübernahme der NSDAP und die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 mit einem Fackelzug gefeiert. Sie bedeuteten den Anfang des Endes der teilweise jahrhundertealten jüdischen Gemeinden in Europa.
Stolpersteine
Das Stolpersteinprojekt des heute im Alsfelder Stadtteil Elbenrod wohnenden Künstlers Gunter Demnig ist das weltweit größte dezentrale Kunstprojekt. Die Stolpersteine sollen an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern und werden vor deren letztem selbstgewählten Wohnort verlegt. Sie sollen die Erinnerung wachhalten an die Menschen, die verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben worden sind. Dazu gehören Juden, Sinti und Roma, Widerständler, kranke und behinderte Menschen, u.v.m.
Die ersten Stolpersteine verlegte Gunter Demnig ohne Genehmigung 1995 in Köln, die ersten mit Genehmigung 1997 in Salzburg und 2000 wiederum in Köln. Mittlerweile sind über 100.000 Stolpersteine in 21 europäischen Ländern verlegt.
Unumstritten war das Projekt Stolpersteine in der Anfangszeit nicht. Es gab immer wieder Proteste von Anwohnern, die einen solchen Stolperstein nicht vor ihrem Haus dulden wollten, um nicht daran erinnert zu werden, dass ihr Haus einmal Juden gehört hatte bzw. Juden dort gewohnt hatten. Vielleicht war auch Angst dabei, dass Nachfahren der ehemaligen Bewohner Regressansprüche stellen könnten, weil der Verkauf in der Nazizeit eventuell nicht ganz korrekt war. Einige waren auch der Meinung, dass beim Laufen über die auf Bürgersteigen oder in Füßgängerzonen eingelassenen Stolpersteine die Erinnerung an diese Menschen erneut im wahrsten Sinne des Wortes „mit Fußen getreten wird“. Dieses Argument ist nicht ganz von der Hand zu weisen, „stolpern“ doch am ehesten Besucher und Touristen in der Stadt über diese Steine. Dennoch ist dieses Kunstprojekt eine der wenigen Möglichkeiten, auf verfolgte und ermordete Menschen während des Nationalsozialismus hinzuweisen. Denn die Steine werden im öffentlichen Raum verlegt und können auch ohne eine Genehmigung von Anwohnern in den Bürgersteig eingelassen werden. Bei Hinweisschildern an den Häusern jedoch ist die Einwilligung der heutigen Besitzer nötig.
In Alsfeld sind in drei Aktionen 2009, 2010 und 2011 mittlerweile 42 Stolpersteine verlegt worden, die an die ehemaligen jüdischen Bewohner Alsfelds an ihrem wahrscheinlich letzten selbstgewählten Wohnort erinnern:
Adler, Friedericke | Hersfelder Str. |
Baer, Sally | Steinborngasse |
Bettmann, Jakob | Pfarrwiesenweg |
Bettmann, Adele | Pfarrwiesenweg |
Buxbaum, Levi | Mainzer Gasse |
Flörsheim, Sally | Grünberger Str. |
Doellefeld, Siegfried | Untergasse |
Justus, Julius Juda | Ludwigsplatz |
Justus, Rosa | Ludwigsplatz |
Loeser, Hedwig | Ludwigsplatz |
Lorsch, Gustav | Rittergasse |
Lorsch, Norbert | Rittergasse |
Lorsch, Selma | Rittergasse |
Lorsch, Frieda | Mainzer Gasse |
Lorsch, Johanna | Untere Fuldergasse |
Lorsch, Karl | Untere Fuldergasse |
Rothschild, Frieda | Obergasse |
Rothschild, Isaak | Untergasse |
Spier, Leopold | Mainzer Gasse |
Stein, Alice | Zeller Weg 3 |
Stein, Walter | Zeller Weg 3 |
Stern, Marim | Untergasse 15 |
Stern, Erna | Untergasse 15 |
Stern, Lore Marga | Untergasse 15 |
Stern, Lotte | Untergasse 15 |
Stern, Auguste | Mainzer Gasse 1 |
Stern, Julius | Mainzer Gasse 1 |
Stern, Walter | Mainzer Gasse 1 |
Strauss, Auguste | Mainzer Gasse 20 |
Strauss, Jeanette Hannelore | Steinborngasse 12 |
Strauss, Josef | Altenburger Str. 21 |
Strauss, Rebecka | Altenburger Str. 21 |
Strauss, Meta | Altenburger Str. 21 |
Strauss, Markus II | Grünberger Str.... |