Da geht ein Mensch

Autobiographischer Roman
Buch | Softcover
384 Seiten
2007
btb (Verlag)
978-3-442-73603-4 (ISBN)
12,00 inkl. MwSt
Der grandiose Roman von einem der größten expressionistischen Schauspieler
Alexander Granach beschreibt mit atemberaubendem erzählerischem Talent seine Kindheit und Jugend in Galizien, seine Karriere als Schauspieler im Berlin der 20er Jahre und schließlich seine Zeit als österreichischer Soldat im Ersten Weltkrieg. Das Buch erschien 1945 in einem schwedischen Exilverlag in deutscher Sprache.
Vom Bäckergesellen zum gefeierten Theaterstar – der unglaubliche Lebensweg des Alexander Granach.

Alexander Granachs Lebensweg ist beispiellos. Das neunte Kind einer jüdischen Bauersfamilie kämpft sich mit atemberaubender Vitalität und großem Improvisationstalent aus der galizischen Provinz bis nach Berlin, wo es ihm gelingt, an Max Reinhardts Schauspielschule zugelassen zu werden. Der erste Weltkrieg, an dem er als Soldat teilnimmt, kann die glänzende Karriere Granachs zum gefeierten Theater- und Stummfilmstar nur aufschieben, nicht verhindern. In der Emigration in den USA schreibt er seine mitreißenden und anrührenden Erinnerungen.

Granach, Alexander Alexander Granach, geboren 1890 in Werbowitz (Galizien) starb 1945 in New York. Er lernte bei Max Reinhardt und wurde zu einem der großen expressionistischen Schauspieler. Unvergessen bleibt er als Murnaus "Nosferatu" oder an der Seite von Greta Garbo in "Ninotschka".

"Es ist wirklich wunderbar." Elke Heidenreich

„Es ist wirklich wunderbar.“

„Ein Buch, das mich seit Jahren begleitet.“

„Eine der großen deutschen Biografien.“

a war sie, die Kraft aus dem Osten, von der sich Franz Kafka f?r das bereits entleerte, traditionslose Westjudentum St?ung erhoffte. 1910 war er im Caf?avoy auf eine in Prag gastierende Lemberger jiddische Theatertruppe getroffen, deren Vitalit?und Urspr?nglichkeit, deren ?talmudische Melodie genauer Fragen, Beschw?rungen oder Erkl?ngen? den Autor vollends in den Bann zog. Als eine Schauspielerin ihre Ansprache mit ?j?dische Kinderlach? begann, ?ging mir ein Zittern ?ber die Wangen?, wie der Tagebucheintrag vom 5. Oktober 1911 vermerkt. Auch Alexander Granachs erste Begegnung mit dem jiddischen Theater 1905 in Lemberg, wohin er sich als 14-J?iger abgesetzt hatte, sollte ?ber seinen Lebensweg entscheiden. ?Hier. vor Deinen Augen, in drei kurzen Stunden, ver?ern sich Menschen und Welten und das ganze Leben! Welch ein zauberisches Wunder!!!. Das ist die Welt, wo ich hingeh?re!? Und in der Tat, der j?dische B?erjunge aus dem galizischen Schtetl Werbowitz, dann der j?dische Proletarier in Lemberg, hat sich mit grandioser Willensst?e und unersch?pflicher Neugierde hochgearbeitet bis zum genialen Schauspieler auf den gro?n B?hnen Berlins. In der Emigration, ohne Geld in den USA angekommen, schafft er es zu einem der gro?n Charakterdarsteller des Hollywoodfilms. Auf all seinen Stationen hat er jedoch nie vergessen, woher er kam: Aus der in sich geschlossenen Welt des Schtetls, wo die j?dischen Gesetzesvorschriften das Leben bestimmten, die Armut und der Kindersegen gro?waren, jeder Tag von neuem den Kampf ums ?erleben brachte. Das Elend konnte noch so bedr?ckend sein, der tiefe Glaube verlie?die Menschen nicht. Gottergeben standen sie in all der Not und inmitten einer feindlichen Umgebung zusammen. Auch Alexander Granach, der Sohn des H?lers und B?ers Aaron Gronich, war fromm erzogen worden, ?mit gro?r Ehrfurcht vor Gottes Welt? und der ?Heiligkeit des Wortes?. Die Religiosit?half, von den dr?ckenden Verh?nissen Abstand zu gewinnen. Distanznahme bedeutete immer auch, die Verh?nisse zu transzendieren, sich zumindest eine spirituelle Gegenwelt aufzubauen. Um Weltflucht handelte es sich dabei nicht. Wirklichkeitsn? und Realit?sinn z?en in der j?dischen Existenz zu den ?erlebensprinzipien schlechthin. Fr?h einge?bt, zun?st als religi?se Praxis, hat sich die Transzendierung des Bestehenden zu einem Instrumentarium verselbstst?igt, das f?r die j?dische Kultur so typisch geworden ist. ?Wann singt ein Jude?? fragt man. ?Er singt, wenn er hungrig ist.? Und bei solchen Bedingungen gab es nat?rlich immer Gesang. Wusste kein Rebbe mehr Rat und kein Ausweg war in Sicht, gebar das Leid einen Witz oder wusste eine jener unz?igen Parabeln zu erz?en, die es zu ertragen halfen. Der Mangel befl?gelte die Phantasie, in den Schtetls hatten Wunderrabbis Hochkonjunktur, die Welt war voller Geschichten und begnadeter Erz?er. Mit Humor lie?sich ein Perspektivwechsel vollziehen. Derma?n ausgestattet war auch der Ostjude Alexander Granach, der mit sechs Jahren in der B?erei seines Vaters mitgearbeitet hatte, mit zw?lf Jahren auf die Wanderschaft ging, mit vierzehn Jahren zum ersten Mal Theater in Lemberg sah; mit sechzehn Jahren kam er nach Berlin, mit siebzehn Jahren zu Max Reinhardt, mit vierundzwanzig Jahren ging er in den Krieg, mit achtundzwanzig Jahren spielte er den Shylock in M?nchen. So lakonisch beginnt Granach anl?lich einer Lesung aus seiner Autobiographie in New York ?ber sich zu erz?en. Die gelehrsamen Zitate aus Talmud und Thora, die Fabelgestalten seiner Kindheit, die Spa?acher und Possenrei?r, die Purimspiele und die Wunderwelt des Schtetls, den Geruch von Galiziens Erde mit seinen ?vertr?ten W?ern? nahm er mit in die ??berwirkliche Wirklichkeit? auf die B?hnen der Metropolen. Das war der N?boden seiner unwiderstehlichen Kraft, die sich auf alle, die ihm begegneten, ?bertrug. Belehrt durch die Grunderfahrungen seiner Kindheit und Jugend blieb dieser Hintergrund f?r sein Leben und sein Spiel immer der Ma?tab. Sprach er bei Max Reinhardt vor, f?hlte er sich an Jom Kippur vor dem Gottesgericht erinnert, die jungen Schauspieler ?lauschten Reinhardt wie junge Chassidim ihrem Wunderrabbi lauschen?. Auf der B?hne zu stehen, ?war f?r mich dasselbe, was f?r meinen Vater der Gottesdienst war?. Als Granach 1919 endlich seine Traumrolle, den Shylock, am M?nchner Schauspielhaus spielen konnte und die Rolle kreierte, fragte er sich, ob Shylock auch unterzeichnen kann, ?dass er seinen Glauben ablegt und einen neuen annimmt? Kann man einen Glauben wechseln wie ein Hemd? W?rde das mein Vater getan haben? Oder Schimschale, der Milnitzer? Nein, nein, nein!? Granach hatte die ethische Schule des Schtetls absolviert, das Schicksal seiner Menschen im Mikrokosmos kennengelernt, sich seine urspr?ngliche Volksn? bewahrt. Er liebte die Menschen, viele Menschen, die ihn noch mehr als die Schauspieler anregten, ?sie heben mich, erheben mich bis zur Ekstase?. Er, der oft genug f?r einen Hungerlohn Tag und Nacht durchschuften musste, verhehlte auch nicht, dass sein Herz haupts?lich f?r die im Leben zu kurz Gekommenen schlug. ?Es gen?gt ein Mensch zu sein? lautet das eigentliche Thema in Lessings ?Nathan der Weise?; im Judentum ist die Aussage, einer sei ein Mensch, h?chstes Pr?kat. Mensch sein hei? f?r Granach ?der Welt das Unrecht ins Gesicht schleudern?, ?eine g?tige Seele und einen geraden Charakter? auszubilden. F?r ihn galt, was er Shylock als Maxime seines Handelns mitgeben wollte: ?. ihn so lange zu spielen, bis einmal alle k?nstlichen Unterschiede von uns abfallen und der Mensch in seinem Mitmenschen den Bruder erkennt und seinen N?sten liebt wie sich selbst und ihm nichts antut, was er selber nicht erleiden m?chte.? Alexander Granachs Erinnerungen enden in M?nchen bei der Figur des Shylock, dem er unbedingt humane Z?ge verleihen wollte. Der Titel des Buches, ?Da geht ein Mensch?, weist auf den Anspruch Granachs hin, darauf, was er von sich zu sein beanspruchte: ein Mensch. Die gro?n Erfolge, die ihm danach noch beschieden waren, kommen in den Memoiren ebenso wenig vor wie die bittere Zeit, als er aus Deutschland weggehen musste. Was hatte er nicht alles unternommen, um ein deutscher Schauspieler zu werden: Er ?erte seinen Namen, aus Jessaja Szaijko Gronich wurde Alexander Granach. Er riskierte seine Gesundheit und lie?sich, als er f?rchtete, sie w?n seiner Karriere abtr?ich, seine X-Beine geradebrechen. Er lernte Deutsch, makellos. Als er erreicht hatte, was er sich ertr?te, war er, der vom Publikum Bejubelte und von der Kritik Gefeierte, pl?tzlich nicht mehr erw?nscht. Im Februar 1933 ?bernahm Gustav Gr?ndgens seine Rolle als Mephisto am Deutschen Schauspielhaus. Im Mai 1933 floh Granach aus Deutschland. Er musste erleben, dass seine Kollegen ?Kraus und George zu den M?rdern ?bergingen?, wie er an Thomas Mann schrieb. Schon als er von zu Hause abgehauen war, hatte er erfahren, dass ?die Fremde kalt ist?. Trotzdem biss er sich auch in der Emigration durch, lernte erneut eine Fremdsprache: Englisch. Mit seiner Energie, seinem Temperament und dem bezwingenden Charme eines Mannes aus dem Volke gelang ihm in den USA trotz der gro?n Konkurrenz unter den Fl?chtlingen wieder der Durchbruch. Heimat war ihm schon vorher die B?hne geworden, und die war an keinen Ort gebunden. ?Der Ruhm, der Erfolg, war ein Mittel gesellschaftlich heimatloser Menschen, sich eine Heimat, sich eine Umgebung zu schaffen? (Hannah Arendt). In ?Ninotschka? mit Greta Garbo in der Hauptrolle und in der Regie von Ernst Lubitsch wurde er ?ber Nacht ber?hmt. Die Kritik erging sich in Superlativen. Dort, in der Neuen Welt, begann er die R?ckerinnerung an seinen Ursprung aufzuschreiben, quasi notgedrungen, denn er hatte viel Zeit, weil er nach Kriegsrecht in Hollywood jeden Abend um acht Uhr zu Hause sein musste. Im Juli 1942 schrieb er seiner Freundin Lotte Lieven zum ersten Mal ?ber das Buchprojekt, im August wieder: ?. das Schreiben macht mich sehr gl?cklich ? regt mich genauso auf wie sch?nes Theater spielen.? Bald k?ndigen die Filmkritiker in ihren Besprechungen das Erscheinen des Buches an. Granach selbst liest immer wieder privat und ?ffentlich aus dem unver?ffentlichten Manuskript vor. Thomas Mann und Lion Feuchtwanger sch?en es sehr hoch ein. Dann ist es so weit. Er teilt seiner Freundin Lotte Lieven mit, dass das Buch in New York bei Doubleday erscheinen soll und in Stockholm beim Neuen Verlag. Alexander Granach erlebt die Herausgabe seiner Memoiren nicht mehr. Er stirbt am 13. M? 1945 in New York nach einer ?berstandenen Blinddarmoperation an einer Embolie. Aber er hinterlie?ein wunderbares Dokument seines Lebens. Vor uns ersteht eine vernichtete Welt wieder auf, mit den Menschen aus Alexander Granachs Kindheit und Jugend, mit ihren Begriffen von Treue und W?rde. Wortstark und mit gr??em psychologischen Einf?hlungsverm?gen, voller Einf?e und mit viel Witz ist es Granach gelungen, f?r uns dieses andere Leben zu bewahren. Ich habe das Buch vor vielen Jahren gelesen, ich bin seinem Zauber erlegen. Seitdem begleitet es mich. Jeder Leser kann sich nun auf die vollst?ige Ausgabe freuen, denn jede Zeile mehr verl?ert den Genuss dieses Schatzes an Geschichte aus Geschichten. Lion Feuchtwanger: ?Granachs Buch ist von der ersten bis zur letzten Zeile erf?llt von jener ungeheuren Lebendigkeit, welche von dem Menschen und Schauspieler Granach ausging. Es ist heiter, traurig, ergreifend, das Zwerchfell ersch?tternd, belehrend, bereichernd, begl?ckend. Es ist im besten Sinne das Buch eines gro?n Schauspielers, eines Mannes, der Menschliches in sich aufnehmen und wiedergeben kann.? Rachel Salamander, 4. September 2003 Alexander Granach, 1920 ICH TRAGE DEN NAMEN EINES FREUNDLICHEN MANNES Die Erde in Ostgalizien ist schwarz und saftig und sieht immer etwas schl?ig aus, wie eine riesige, fette Kuh, die dasteht und sich gutm?tig melken l?t. So schenkt die ostgalizische Erde dankbar und vertausendfacht alles zur?ck, was man in sie hineintut, ohne dass man ihr mit D?nger und Chemikalien besonders schmeicheln muss. Ostgalizische Erde ist verschwenderisch und reich. Sie hat fettes ?, gelben Tabak, bleischweres Getreide, alte vertr?te W?er und Fl?sse und Seen und vor allem sch?ne, gesunde Menschen: Ukrainer, Polen, Juden. Alle drei sehen sich ?lich, trotz verschiedener Sitten und Gebr?he. Der ostgalizische Mensch ist schwerf?ig, gutm?tig, ein bisschen faul und fruchtbar wie seine Erde. Wo man hinguckt, Kinder. Kinder in den H?fen, Kinder bei den Tieren, Kinder in den Feldern, Kinder in den Scheunen, Kinder in den Stallungen, Kinder, als ob sie jeden Fr?hling an den B?en w?chsen wie die Kirschen. Wenn der Fr?hling ins galizische Dorf einzieht, kommen die K?er, die Ferkel, die Fohlen, die K?ken und das kleine quietschende Zeug, die kleinen Menschlein: Kinder. Mein Heimatdorf hei? Wierzbowce auf polnisch, Werbowitz auf jiddisch und Werbiwizi auf ukrainisch. Es liegt neben Seroka. Seroka liegt neben Czerniatyn. Czerniatyn liegt neben Horodenka. Horodenka liegt neben Gwozdziez. Gwozdziez neben Kolomea. Kolomea neben Stanislau. Stanislau neben Lemberg. Lemberg ist ber?hmt geworden in der Welt durch den Hollywoodfilm ?Hotel Stadt Lemberg?. Meine Eltern wohnten im Dorfe Werbiwizi und hatten bereits acht Kinder. Das Leben war schwer, besonders f?r meine Mutter. Sie war dem Vater alles: Weib, Geliebte, gebar jedes Jahr ein Kind, war Hausfrau, kochte und buk allein, wusch die W?he, bediente im Kramladen, wenn ein Kunde kam, grub den Garten um ? nicht f?r Blumen, sondern f?r Kartoffeln und Kraut und Zwiebeln und K?rbisse ?; und jeden Augenblick kam ein Balg gelaufen, zerrte am Rock und mahnte: Essen! Es ist wahr, die ?eren Kinder halfen mit, die Kleinen zu besorgen, zu bes?tigen, herumzutragen, zu f?ttern, zu waschen, anzuziehen, auszuziehen, schlafen zu legen und manchmal auch zu verpr?geln. Aber auf ihr, der kleinen Mama, lastete doch alles: Sie tummelte sich herum, den ganzen Tag, sie stand mit den H?hnern auf und fiel als Letzte ins Bett, eine M?de. Der ganze Haushalt von zehn Personen ging durch ihre H?e und die Hauptsorge war immer: Es gab nie genug Futter im Haus. Wir buken Brot vom billigsten, schw?esten Schrotmehl, aber es schmeckte uns ohne Butter. Ja, Zwiebeln und Knoblauch wurden versteckt, denn mit Zwiebeln und Knoblauch wurde noch mehr Brot verschlungen. Auch das frisch gebackene Brot wurde versteckt, nicht aus Angst, unsere kleinen M?n zu verderben, sondern weil frisches Brot schneller herunterrutschte, und wir bekamen es erst einige Tage sp?r zu sehen. Wir kochten Riesent?pfe Kartoffeln und sie verschwanden wie Manna, wir buken Malaj aus Kukuruz. Kochten Polenta mit Bohnensuppe ? die Polenta wurde mit einem Zwirn geschnitten ?, wir kochten Kraut und Mohrr?ben, Reis mit Erbsen und manchmal auch Riesennudeln aus Teig und Piroggen mit Kartoffeln gef?llt, und wir fra?n alles ratzekahl wie die Heuschrecken. Dabei war unsere Kindheit von einem Reichtum an Abenteuern und Spielen, dass wir nicht mit dem buntesten, pr?tigsten Kinderzimmer getauscht h?en. Wir gruben im Garten, bauten H?er aus Stroh und Lehm, zimmerten Wagen aus alten St?hlen, machten Schlitten aus Ger?mpel, und auch die jungen Tiere der Nachbarn, K?er und Fohlen, mussten herhalten f?r unsere Spiele, ja sogar Enten und H?hner wurden eingespannt vor unsere Wagen; Laternen wurden aus K?rbissen geschnitten, die Hunde taten bei allem mit, nur die Katzen und G?e nicht ? die Katzen verschwanden und die G?e bissen, die dummen G?e! Ob es den Tieren so viel Spa?machte wie uns, wei?ich nicht, wir jedenfalls waren gl?cklich. Die erwachsenen Geschwister taten erhaben, aber wenn niemand dabei war, machten auch sie mit. Und besonders liebte es Vater, sich richtig an den Spielen zu beteiligen. Aber die Mutter, die Arme, war meistens m?de und schlechter Laune. Wenn man ihr zu nahe kam und sie bel?igte, schlug sie um sich, verteilte Ohrfeigen, Rippenst??, zwickte und gab auch Fu?ritte, wenn man ihr zu sehr zusetzte. Die arme kleine Mama. Sie hatte es wirklich nicht leicht. Denn die erwachsenen Kinder haben Vater viel mehr geliebt. Ich wei?nicht, wie es kam. Vater arbeitete auch den ganzen Tag schwer, aber f?r die Kinder hatte er immer Zeit. Besonders Schabbatmorgen, da kamen die meisten in sein Bett gekrochen und durften auf ihm herumreiten und lustige Z?pfe aus seinem Barte flechten. Und mit den Kleinen pflegte er wie mit Erwachsenen zu sprechen und hatte auf alles eine gescheite Antwort, immer andere Worte; ja, Vater behandelte uns wie Freunde, nahm uns wichtig. So bildete sich nach und nach eine einheitlich gute Meinung ?ber den Vater, und, da er gelehrt war ? Bibelzitate auswendig wusste, Talmud konnte, lesen und schreiben, sogar polnisch ?, so verehrten ihn auch die Nachbarn und die Bauern des Dorfes. Aber bei uns Kindern hatte sich eine richtige blinde Liebe und Verehrung f?r ihn entwickelt und beinahe das Gegenteil f?r die Mama. Die arme kleine Mama, sie war sehr ungl?cklich! Sie war die Mutter und das Weib, die Geliebte und die Magd, die Geb?rin und die Amme, die arme, arme Kleine! Und war doch selber ein Kind, ein unwissendes, ahnungsloses Kind, ohne jegliche Freiheiten und Freuden, sie kannte nur Arbeit und Pflichten, Pflichten und Arbeit. Eines Tages brach sie zusammen unter diesem Trott, sie war m?de, ?berw?igt und konnte nicht mehr weiter. Sie legte sich am helllichten Tag ins Bett und weinte und schrie und wollte entweder sterben oder sich scheiden lassen. In solchen F?en kam immer ein armer Verwandter aus der Stadt, der alte Jessaja Berkowitz. Er war noch ?er als wir und kam oft ins Dorf und wohnte abwechselnd eine Woche oder zwei bei jeder der vier j?dischen Familien. Er schlichtete Missverst?nisse und Streitereien, sprach mit dem Lehrer, pr?fte die Kinder, zankte die M?er aus, redete den Weibern zu, und alle h?rten auf ihn, alle mochten ihn, besonders die ukrainischen Bauern. Wo immer er wohnte, war das Haus am Abend voll. Er wurde von den alten Bauern mit Fragen ?bersch?ttet und er hatte auf alles eine Antwort, mit einem Gleichnis, einer heiteren Erl?erung. Er war in den Siebzigern; klein und b?isch. Das von Wetter und Wind wie Leder gegerbte Gesicht war beinahe glatt, nur unter dem Kinn, auf der Oberlippe und zwischen den Backenknochen und Ohren waren kleine wei? draht?liche Haarb?schel. Er war halb ukrainisch gekleidet, mit einer Pelzm?tze, Sommer und Winter, gegen Hitze und K?e. Er hatte gro?, gutm?tige, weise Augen und die Bauern nannten ihn ?Szajko Rozum?, das hei? ?Jessaja, der Kluge?. Er pflegte manches Mal sogar auf ukrainisch zu beten und hebr?che Psalmen auf ukrainisch zu singen, denn er behauptete, der Liebe Gott verstehe alle Sprachen, wenn man es nur ehrlich meine. Und er, Szajko Rozum, meinte es ehrlich mit allen Leuten. Er sagte den Angesehensten und Reichsten offen heraus seine Meinung, aber immer gutm?tig, mit einem Scherzwort und einem Beispiel. Und noch etwas: Er hatte nie Geld und r?hrte auch keines an. Dabei liebte er zu essen und zu trinken, und am Freitagabend oder Schabbat, wenn er einige Gl?hen zu sich nahm, sang er jiddische und ukrainische Melodien und wusste zu erz?en, Kombinationen von jiddischen und slawischen Volkssagen und Legenden, mit Gleichnissen und Beispielen und weisen Ausspr?chen. Ja, das war der alte Szajko Rozum, der jetzt zu uns kam. Er setzte sich zur Mutter ans Bett, wie ein Doktor, und schickte alle hinaus und h?rte ihr zu und sprach sehr lange mit ihr. Vater stand drau?n, verlegen, und ging von einer Arbeit zur andern. Er pflegte ja immer zu helfen. Er melkte die Kuh, er reinigte Getreide, schnitt H?sel, bereitete das Essen f?r das Vieh, ja, an dem Tage hat er auch gekocht. Wir Kinder waren immer froh, wenn Vater kochte; und das tat er stets vor den gro?n Feiertagen und wenn die kleine Mama gebar; und sie gebar, die Gute, jedes Jahr.

Erscheint lt. Verlag 2.1.2007
Verlagsort München
Sprache deutsch
Maße 118 x 187 mm
Gewicht 328 g
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte 20.Jahrhundert • alexandergranach • Autobiografie • Biografie • Biografisch • Biographien • Buch • Bücher • Deutschland • Geschichte • Granach, Alexander • Judentum • Roman • Schauspieler • Schauspieler (Biografien/Erinnerungen); Granach, Alexander • Taschenbuch • Theater • USA
ISBN-10 3-442-73603-X / 344273603X
ISBN-13 978-3-442-73603-4 / 9783442736034
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