Die Selbstzersetzung des Christentums und Die Religion der Zukunft (eBook)

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2024 | 1. Auflage
130 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-8187-0256-4 (ISBN)

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Die Selbstzersetzung des Christentums und Die Religion der Zukunft -  Eduard Von Hartmann
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So sehr deshalb jene Männer unserer persönlichen Achtung gewiss sein dürfen, welche ihre Lebenskraft diesen hochwichtigen Bestrebungen widmen, so ist es dennoch die Frage, ob die Behauptung der historischen Kontinuität im strengen Sinne in unserer Lage denn überhaupt möglich sei, oder ob wir nicht am Ende an einem jener Punkte in der Geschichte stehen, wo eine großartige Idee alle Phasen ihrer Entwickelung durchlaufen hat und unwiderruflich dazu verurteilt ist, zugunsten neu eintretender leitender Ideen vom Schauplatz abzutreten, wenngleich nicht ohne einige ihrer wichtigsten Bestandteile in die neue Entwickelungsphase zu übertragen und mit den übrigen als Dünger für das neu aufsprossende Leben zu dienen. Die historische Kontinuität im weiteren Sinne würde auch in letzterem Falle gewahrt bleiben, wenn schon der Bruch mit den maßgebenden Prinzipien des Alten und die Aufnahme bisher draußen stehender, vielleicht fernher geholter befruchtender Keime immer etwas Sprungweises, Revolutionäres hat. Inhaltsverzeichnis Vorwort zur dritten Auflage Umbildung oder Neubildung? Die geschichtliche Aufgabe des Protestantismus Christentum und moderne Kultur Das paulinische und johanneische Christentum Das Christentum Christi Die Unchristlichkeit des liberalen Protestantismus Die Irreligiosität des liberalen Protestantismus Die Notwendigkeit und Möglichkeit einer neuen Weltreligion Die historischen Bausteine der Religion der Zukunft

Karl Robert Eduard Hartmann, seit 1862 von Hartmann (* 23. Februar 1842 in Berlin; + 5. Juni 1906 in Groß-Lichterfelde) war ein deutscher Philosoph.

Karl Robert Eduard Hartmann, seit 1862 von Hartmann (* 23. Februar 1842 in Berlin; + 5. Juni 1906 in Groß-Lichterfelde) war ein deutscher Philosoph.

Die geschichtliche Aufgabe des Protestantismus


 

 

Will man den modernen liberalen Protestantismus in seinem innersten Wesen verstehen, so muss man sich vor allem darüber klar werden, dass diese Richtung keineswegs bloß ein Einfall von einzelnen Personen ist, der zufällig bei mehreren Beifall gefunden hat, sondern dass dieselbe die ebenso notwendige Konsequenz des in der Reformation zum Durchbruch gelangten protestantischen Prinzips bildet, wie die päpstliche Unfehlbarkeit die folgerichtige Spitze des katholischen Prinzips darstellt.

Der Katholizismus verlangt Einheit des Glaubens in allen wesentlichen Stücken; was aber wesentlich und was unwesentlich sei, bestimmt er selbst als Kirche, und überlässt diese Bestimmung keineswegs dem Urteil des Einzelnen, weil dadurch sofort der Divergenz der Glaubensmeinungen Tür und Tor geöffnet wäre. Die Grundlage des Glaubens bilden ihm wie der evangelischen Kirche die unfehlbaren kanonischen Bücher; da aber die Auslegung derselben streitig werden kann, so muss zur Wahrung der Einheit des Glaubens notwendig eine inappellable Auslegungsinstanz vorhanden sein. Wäre diese mit bloß menschlicher Einsicht begabt, so wäre das Opfer des Intellekts denn doch eine zu starke Anforderung; aber die katholische Kirche nimmt nicht mit Unrecht an, dass es ganz ebenso im Interesse des Heiligen Geistes liegen müsse, die inappellablen Ausleger der kanonischen Schriften wie die Verfasser derselben zu inspirieren, und dass eine geistverlassene Kirche, die nur vor Jahrtausenden einmal inspirierte Bekenner besass, ein recht klägliches Ding wäre. Muss aber an die Inspiration der inappellablen Auslegungsinstanz geglaubt werden, so ist es nicht nur überflüssig, den Heiligen Geist mit Inspiration eines ganzen Konzils statt einer einzelnen Person zu inkommodieren, sondern es ist auch störend, dass die Minorität des Konzils der Gnade der Inspiration entbehrt; daher ist es ganz folgerichtig, das jeweilige Oberhaupt der Kirche als inappellable Auslegungsinstanz anzusehen, da die Einheit des Glaubens nicht besser als durch Einköpfigkeit aller Glaubensentscheidungen gewahrt werden kann. Gilt der Papst einmal als Nachfolger Petri, so ist nicht einzusehen, warum er nicht ebenso gut soll unfehlbar inspirierte Bullen schreiben können, wie Petrus unfehlbar inspirierte Episteln schrieb, — obgleich er nur ein ungebildeter Fischer war. Deshalb ist die päpstliche Unfehlbarkeit die längst geforderte Krönung für die Glaubenseinheit des Katholizismus, und alles Gerede gegen dieselbe ist sinnlos im Munde derer, die den Papst als Nachfolger Petri und Petrus als Verfasser unfehlbar inspirierter Episteln ansehen.

Wer hingegen die Unfehlbarkeit der Kirche und die Möglichkeit unfehlbarer Inspiration in der Gegenwart leugnet, wer sich weigert, das Opfer des Intellekts zu bringen, d. h. seine reiflich erwogene zweifellose persönliche Überzeugung den Lehrentscheidungen der Kirche unterzuordnen, wer mit einem Wort gegen die absolute dogmatische Autorität der Kirche protestiert und sich das Recht der freien Forschung und der religiösen Gewissensfreiheit wahrt, der wird kaum umhin können, auch den Glauben an die unfehlbare Inspiration der Verfasser der kanonischen Schriften fallen zu lassen. Wer von der Unmöglichkeit des Wunders für die Gegenwart überzeugt ist, spielt jedenfalls eine wunderliche Rolle, wenn er dessen Möglichkeit für die Zeit vor 1800 Jahren aufrechterhält.

Die Reformatoren merkten es gar nicht, dass ihr Glaube an die Unfehlbarkeit der kanonischen Schriften, den sie mit der Muttermilch eingesogen hatten, ganz ausschließlich auf dem Glauben an die ihn bezeugende Unfehlbarkeit der Kirche und der kirchlichen Tradition beruhte; weil der Glaube an die Unfehlbarkeit der Schrift ihnen persönlich in Fleisch und Blut übergegangen war, darum ahnten sie gar nicht, dass sie mit dem Protest gegen die Unfehlbarkeit der Kirche und Tradition den Boden des ersteren unterhöhlten, dass sie mit ihm den ersten Stein aus dem fest gefügten Gebäude der Hierarchie herausrissen, dem notwendig unter dem Einfluss der Zeit Stein vor Stein abbröckelnd nachstürzen musste. Sie erhoben auf der einen Seite das protestantische Prinzip der freien Forschung und Gewissensfreiheit auf ihren Schild, und glaubten auf der andern Seite den Fluss der so eingeleiteten Desorganisation des Dogmas durch willkürlich gezogene Schranken, durch Menschensatzungen ihres Gutdünkens und Pochen auf ihren dogmatischen Rest eindämmen zu können, wähnend, dass die Menschen sich solchen Willkürsatzungen als unüberschreitbaren Schranken fügen würden, nachdem einmal die unfehlbare, auf gegenwärtiger Inspiration beruhende Autorität der Kirche zerstört war.1

Wie bedenklich Luther selbst über die von ihm eingeleitete Reform beim Rückblick auf sein Leben wurde, beweist ein aus seinen letzten Tagen uns aufbewahrter Ausspruch: „Es ist ein Wunder und sehr ärgerlich Ding, dass, nachdem die reine Lehre des Evangeliums wieder an den Tag gekommen ist, die Welt nur immer ärger geworden ist. Jedermann zieht die christliche Freiheit auf fleischlichen Mutwillen. Wenn ich es vor meinem Gewissen könnte verantworten, so würde ich lieber dazu raten und helfen, dass der Papst mit allen seinen Gräueln wieder über uns kommen möchte, denn so will die Welt regiert sein: mit strengen Gesetzen und mit Rechten und mit Aberglauben.“

Das Wesen des Christentums hat sich in der urchristlichen Zeit und im Mittelalter erschöpft: die absolute Entgegensetzung des Diesseits und Jenseits, die Verlegung des Schwerpunktes des Interesses in das Jenseits und die Ächtung des Diesseits als einer teuflischen Schlinge, um durch Lockungen für eine kurze Spanne Zeit die Seele um ihr ewiges Heil zu betrügen. Von da an, wo das Christentum Staatskirche und damit weltliche Macht geworden war, hatte die Verfälschung des Christentums begonnen; ganz ebenso wie beim Buddhismus entstand von diesem Zeitpunkte an neben dem esoterischen Christentum ein exoterisches Weltchristentum von einem anerkanntermaßen untergeordneten Grade der Heiligkeit. Mit dem zunehmenden extensiven Übergewicht dieses exoterischen Christentums flüchtete sich das esoterische in die Freistatt der Orden und Klöster, um sich rein von weltlicher Befleckung zu erhalten. Aber mit der Dekadenz des Mittelalters verfielen auch die Orden und Klöster, die mannigfachen Versuche der Restitution des esoterischen Urchristentums (Huss, Savonarola, usw.) scheiterten an der zunehmenden Entfremdung der Zeit von der christlichen Idee, die Reformation endlich zerstörte durch Aufhebung der religiösen Orden das leere Gehäuse, in dem das esoterische Christentum am längsten gewohnt hatte, und behielt nur das exoterische Weltchristentum übrig, das sie energisch fortfuhr, immer mehr zu verweltlichen.

Obwohl also das protestantische Prinzip durch seine Bundesgenossenschaft mit der Renaissance des antiken Heidentums die weitere Verweltlichung des aus den Fugen gegangenen christlichen Mittelalters wesentlich gefördert, so kann man doch nicht sagen, dass es der Mörder, sondern nur dass es der Totengräber des Christentums gewesen ist. Das Christentum war schon dem Tode verfallen, ehe die Reformation es in Stücken riss; das Wiederaufraffen des Katholizismus gegenüber seinem neu erwachsenen Gegner war nur die künstliche Galvanisation eines innerlich bereits erstorbenen Leichnams. In der Tat ist das Leben des Katholizismus seit der Reformation nur ein Scheinleben; die katholischen Völker sind geistig Tod, soweit nicht antikatholische und antichristliche Strömungen in ihnen aufgetaucht sind. Der Kulturfortschritt seit der Reformation ruht in geistiger Hinsicht ausschließlich auf den Schultern des Protestantismus und auf jenen Strömungen in katholischen Völkern, die sich mit mehr oder weniger Bewusstsein auf die Errungenschaften des Protestantismus stützen. Die katholischen Völker würden ein caput mortuum der Geschichte sein, etwa wie die Anhänger des Dalai Lama in Tibet, wenn sie nicht geografisch mit den protestantischen so durcheinander gewürfelt wären, dass sie für diese und ihre Kulturentwickelung eine beständige Bedrohung bilden, und sie deshalb zur energischeren Ausnutzung ihrer Kräfte anspornen.

Das protestantische Prinzip fand also, als es nach Jahrhunderte langer Unterdrückung durch Folter und Scheiterhaufen zum Durchbruch kam, die christliche Idee im eigentlichen Sinne bereits als Leiche vor; während aber der Katholizismus die Leiche als Mumie mit dem Schein des Lebens zu konservieren suchte, wurde dem Protestantismus die geschichtliche Aufgabe zu Teil, die Leiche Glied für Glied zu sezieren, öffentlich zu konstatieren, dass sie wirklich todt sei, und sie dann feierlich zu bestatten, um so den Entwickelungszyklus der christlichen Idee zu seinem endgültigen Abschluss zu bringen. Seine Aufgabe der Dogmatik des Christentums gegenüber ist eine durchaus negative, zerstörende, niederreißende; wenn er einzelne Punkte der Dogmatik schärfer hervorgehoben und weiter ausgebaut hat, so war es doch nur, um für das Ausgeschiedene einen Ersatz zu gewinnen, der aber freilich der fortschreitenden Auflösungsarbeit der Kritik gegenüber auch nicht lange anhielt (denn 2 – 3 Jahrhunderte kann man doch bei solchen geschichtlichen Prozessen nicht „lange“ nennen).

Wenn nun in theoretischer Hinsicht das protestantische Prinzip der freien kritischen Forschung an der Hand der Vernunft rein destruktiv sich erweist, so stellt es sich dafür in praktischer Hinsicht zugleich als positiv wirksam heraus, nur dass diese positive Wirksamkeit wiederum keine christliche ist. Das absolute Moralprinzip des Christentums ist nämlich das des Gehorsams gegen den in der heiligen Schrift ausgesprochenen göttlichen Willen; es ist...

Erscheint lt. Verlag 24.10.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
Schlagworte Christentum • Protestantismus • Religion • Weltreligion
ISBN-10 3-8187-0256-X / 381870256X
ISBN-13 978-3-8187-0256-4 / 9783818702564
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