Gesammelte Prosa

(Autor)

Buch | Hardcover
736 Seiten
2006
DVA (Verlag)
978-3-421-04221-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gesammelte Prosa - Sarah Kirsch
20,00 inkl. MwSt
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Die Prosa von Sarah Kirsch in attraktiver Neuausstattung
Lachschleifen, Windgeschnatter, Allerlei-Rauh - Sarah Kirsch, die die deutsche Sprache gegen den Strich bürstet, zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Dichterinnen der Gegenwart. Auch in ihren Prosastücken bleibt sie nahe am Lyrischen. Traumgleich und trotzdem glasklar verbindet sie in ihren Miniaturen Alltägliches und Poetisches, Persönliches und Politisches. Sarah Kirschs "Gesammelte Prosa" liegt nun in einer hochwertigen und attraktiven Neuausstattung vor, zum Wiederlesen und Neuentdecken.

Sarah Kirsch, eine der beliebtesten Gegenwartslyrikerinnen deutscher Sprache, ist auch als Prosaautorin eine Meisterin ihres Fachs. Ihre unbeschwerten Stücke leben vom schnellen Wechsel der Themen, unaufgeregt verbindet sie Privates mit den großen Weltläufen. Und sie leben vom Spiel mit den Tonlagen: mal sind ihre Miniaturen, Tagebuchnotizen, essayistischen Arbeiten komisch, mal bitterböse, mal kontemplativ - doch stets von einer Genauigkeit der Wahrnehmung gekennzeichnet, die Leser und Kritiker an Sarah Kirsch so fasziniert.

In diesem Band sind die Prosatexte der Georg-Büchner-Preisträgerin bis 2005 versammelt: "Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See", "La Pagerie", "Irrstern", "Allerlei-Rauh", "Schwingrasen", "Spreu", "Das simple Leben", "Islandhoch", "Tartarenhochzeit", "Kommt der Schnee im Sturm geflogen".

Ein Lesebuch für alle, die sich in die sprachschwebende Welt der Sarah Kirsch entführen lassen wollen.

Sarah Kirsch (1935-2013) studierte Biologie und Literatur und lebte bis zu ihrer Ausbürgerung 1977 im Osten Berlins und siedelte dann in den Westen der Stadt über. Zuletzt lebte sie als freie Schriftstellerin und Malerin in Schleswig-Holstein. Für ihr dichterisches Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem »Georg- Büchner-Preis«, dem »Jean-Paul-Preis« sowie dem »Johann-Heinrich-Voß-Preis«.

»Eine Klassikerin zu Lebzeiten.« Westdeutscher Rundfunk

»Stimmt froh und erfrischt zwischendurch den Kopf.« St. Galler Tagblatt (12.12.2009)

»Zum Wiederlesen, Neuentdecken und Blättern. Jede noch so kurze Erzählung steht für sich, Miniaturen glasklar wahrgenommener Momente mit träumerischen Ausflügen. Einige Wortfindungen laden zum Sammeln und Merken ein. Die gesammelte Prosa ist ein sinnvolles Buch für den Urlaubskoffer.« SWR2 (19.10.2009)

»Nicht bloß inhaltlich lässt die bunte Hülle auf das Buchinnere schließen, auch schriftstellerischhandwerklich behält Sarah Kirsch den selbstbestimmten Tenor bei. Der Leser schließt sich ihrer Gedankenreise gern an und folgt der Dichterin durch Himmel, Nacht, Nebel, um „Styx“ gleich mehrfach zu überqueren.« berlinerliteraturkritik.de (01.11.2009)

»Sarah Kirschs Name kann als Gütesiegel für sympathische Dichtung gelten.« Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Ihr Artistentum nährt sich aus einer trotzigen und elementaren Lebensbejahung. Erotik und Naturverbundenheit finden hier zu einer selbstverständlichen Einheit zusammen.« Marcel Reich-Ranicki

Merkwürdiges Beispiel weiblicher Entschlossenheit Frau Schmalfuß war 28 und hatte immer noch kein Kind. Das hatte folgende Gründe: Eine landläufige Meinung besagt, jede Frau habe sechs kleine Schönheiten. Diese Aussage scheint statistisch nicht ungesichert, trifft aber, wie alle statistischen Aussagen, nicht auf jeden Einzelfall zu. Frau Schmalfuß verfügte über vier Schönheiten: 1. schräggeschnittene Augen, deren äußere Winkel sich bis unter den Haaransatz zogen, 2. Hände, die gemalt zu werden verdient hätten, 3. ein Hinterteil hübscher ausgewogener Rundung, 4. die Beine. Leider endeten die Beine rechtwinklig in langen, breiten, flachen (nicht platten) Füßen. – Obwohl die vier Schönheiten, jede einzeln, den Neid mancher Geschlechtsgenossin hervorzurufen geeignet waren und ab und an ihn auch hervorriefen, war doch ihre gegenseitige Zuordnung derart ungünstig und die Entfernung der einen Schönheit von der anderen so beträchtlich, daß die störenden Elemente zwischen ihnen sie verdunkelten und die Blicke abstießen, die, wenn sie länger verweilt hätten, der Schönheiten innegeworden wären. Deshalb hatte Frau Schmalfuß zeit ihres Lebens mit keinem Manne näheren Umgang anknüpfen können. Die Vorzüge eines Menschen müssen nicht ausschließlich physischer Natur sein. Frau Schmalfuß bekam die Achtung, die Kollegen und Mitarbeiter ihr für ihre Arbeitsleistung und ihr kollegiales Verhalten zollten, regelmäßig zu spüren. In der Kantine hieß es: Alle Achtung, wie die sich zusammennimmt! Oder: Der wäre etwas mehr Glück zu gönnen gewesen! Manchmal, in unbewachten Augenblicken, an Sommerabenden auf dem Heimweg oder unter der Dusche, gestand sie sich, weniger Achtung wäre ihr lieber; einmal, sie ging durch die Schrebergärten, beschimpfte hinter einer Fliederhecke ein offensichtlich angetrunkener Alter seine Frau: Mit der hätte sie, für den Bruchteil einer Sekunde, tauschen mögen. Aber sie hatte sich fest in der Hand und suchte das Glück in der Arbeit. In ihrem Korridor hingen Urkunden, die sie als Sieger in Wettbewerben, Aktivistin und Teilnehmerin mehrerer Lehrgänge auswiesen. Der Umstand, daß sie unbemannt und noch ohne Kinder war, ließ sie ihren Kollegen, ohne daß sie es sich lange überlegt hätten, besonders geeignet erscheinen, sie in haupt- und ehrenamtlichen Funktionen zu vertreten. Bei allen gesellschaftlichen Anlässen hörte man ihren Namen nennen, sie Auskunft geben, und auf den Betriebsweihnachtsfeiern beschenkte sie seit vielen Jahren als Knecht Ruprecht die Kinder der verschiedenen Abteilungen. Sie erfüllte alle ihr aufgetragenen Aufgaben gewissenhaft und ohne für sich einen Vorteil herauszuschlagen. Im März des vergangenen Jahres zog sie ihren weiten Kamelhaarmantel an, den sie trug, wenn sie im Namen des Frauenausschusses Wöchnerinnen besuchte, und fuhr mit der Linie 17 in die Vorstadt. Als sie sich des Päckchens entledigt hatte, selbstgestrickte winzige Handschuhe beigab und wieder auf dem schmalen Zementweg stand, der zwischen Häusern und Gärten sich durchfädelte, war sie eigenartig bewegt. Die Schneeglöckchen schaukelten, die Schwertlilien hoben die Erde an, den kahlen Bäumen rann das Wasser die Stämme entlang, schwarze Wolken rasten im Wind auf die Antennen zu, und mitten in dieser aufgewühlten fröhlichen Landschaft hätte sie gern einen kleinen weißen Kinderwagen gesehen und sich selbst als seine Fahrerin gefühlt: mit noch geschwächten Knien von der vorangegangenen Entbindung, mit einem wohlig schmerzenden Rücken, seis nun vom Stillen oder dem täglichen Wäschewaschen. Solche Bilder stellten sich von der Zeit an öfter vor ihre Augen. Sie schaute in jeden Kinderwagen und war einerseits befriedigt, wenn so ein ganz Kleines tief unten, in seiner Höhle geschützt, nur zu vermuten war, andererseits ärgerte es sie, daß sich der Gegenstand ihrer Neigung so vor ihr verbarg. Als sie sich ihres Zustandes, welcher ja nur ein psychischer und kein physischer war, so recht bewußt wurde, beschloß sie, etwas für sich zu unternehmen. Sie stellte die These auf, nach der sie geradezu verpflichtet war, der Gesellschaft persönlich noch nützlicher als bisher zu sein. Ich verdiene gut, rechnete sie sich vor, ich habe eine moderne, gut eingerichtete Zweizimmerwohnung, mehrere große Reisen, einmal ins befreundete Ausland, oftmals unternommen – es wäre verantwortungslos, weiterhin so eigennützig durchs Leben zu gehen. Ja, ein Kind wollte sie haben. An Heirat dachte Frau Schmalfuß nicht. Hatte sie bisher niemanden zu solch einem Schritt veranlassen können, wie sollte es ihr jetzt gelingen, wo die erste Jugend hinter ihr lag, sie ein selbständiger Mensch geworden war und durch das lange Alleinsein Eigenheiten angenommen hatte, die nicht mehr abzustreifen und einer Ehe sicherlich abträglich gewesen wären. Aber sie ließ eine ganze Anzahl Männer an ihren schönen schräggeschnittenen Augen vorbeidefilieren, alle, die sie kannte im zeugungsfähigen Alter und denen sie wegen ihres Fleißes und aufrechten Verhaltens viel Achtung entgegenbrachte. Die Siegespalme erhielt Friedrich Vogel, der Meister in der Gießereiabteilung. Er war unverheiratet und von sehr angenehmer Gestalt. Da brauchte sie also keinen Ehebruch zu betreiben, obwohl der gesellschaftliche Anlaß sie ihrer Meinung nach auch dazu berechtigt hätte, da konnte sie gewiß sein, ihrem künftigen Kinde nach bestem Wissen und Gewissen einen Vater mit überdurchschnittlichen charakterlichen und körperlichen Eigenschaften ausgesucht zu haben. Denn sie glaubte an Vererbung ebenso wie an den Einfluß einer sozialistischen Umwelt auf das Kind, das sie eben sozusagen auf das Reißbrett projizierte. Nicht ohne Bedeutung für ihre Wahl war die Tatsache, daß Friedrich Vogel ein Holzbein trug. Er hatte sich so in der Gewalt, daß er umherlief wie jeder andere Mensch seines Alters, auch wenn die Witterung umschlug und Schmerzen verursachte, und selbst wenn es zur Bildung von Glatteis kam. Die Prothese war kein Mangel in ihren Augen, eher das Gegenteil, aber sie versprach sich von ihr Erleichterungen bei der Durchführung ihres Planes. Sie beschloß, keine geldlichen und ideellen Ansprüche an den Vater ihres Kindes zu stellen. Der Sohn oder die Tochter würde von ihr erzogen werden, und sie erwog, dem Kind eine glaubhafte Geschichte zu erzählen, die Abwesenheit des Erzeugers zu begründen. Vielleicht war er einem Autounfall zum Opfer gefallen? Oder hatte ihn als Grenzsoldat eine feindliche Kugel getroffen? Aber es gab ja viele Familien, die nur aus Mutter und Kind bestanden. Und warum sollte Friedrich Vogel nicht eines Tages – die Jugendweihe wäre der gegebene Anlaß – auf der Bildfläche erscheinen und dem Kinde eine wertvolle Armbanduhr schenken? Ja, das war die Lösung. Denn Frau Schmalfuß klopfte das Herz, wenn sie daran dachte, den Kindesvater, wenn auch mit Worten, unter ein Auto zu stoßen oder ihn gar einem feindlichen Anschlag auszusetzen. Sie hatte sich mit Friedrich Vogel dermaßen eindringlich beschäftigt, daß ihr ganz warm und eng in der Brust wurde, wenn sie an ihn dachte. Und obwohl noch kein Stück ihrer prognostischen Überlegungen in die Tat umgesetzt war, begann eine Zeit mit fröhlichen Augen am Tage und wunderlichem Traumzeug bei Nacht. Sie, die bisher nach all der Arbeit und den gesellschaftlichen Aufgaben am Abend traumlos in die Kissen gesunken war und ohne viel Federlesens einfach schlief und wieder aufstand, träumte nun seltsame Landschaften und Zimmer mit Treppen. Morgens versuchte sie sich zu erinnern, den angenehmen Zustand des Traums zu erhalten – aber was war das eigentlich alles gewesen? Eine riesige Pappelallee, mächtige Ständer – doch zu dieser Deutung fehlten ihr alle Voraussetzungen, und eigentlich lag sie ihr fern. Sie wunderte sich also und vergaß den Anblick. Nun mußten Taten folgen. Frau Schmalfuß kaufte sich eine Kollektion bunter Tücher, wand sich jeden Tag ein anderes um den Kopf und ließ sich in der Gießerei sehen. Die Kranführer pfiffen, sie stieg durch Nebel und Hitze, allerlei Schreibkram bei sich führend, und stellte Friedrich Vogel in der Kernmacherei. Sie setzten sich vor den Formsand und besprachen Angelegenheiten der Gewerkschaft. Frau Schmalfuß ließ durchblicken, daß sie gern mit dem Vogel über eine andere gesellschaftlich hart anstehende Sache geredet hätte, aber nicht hier bei dem Krach. Wo? fragte Friedrich Vogel, vielleicht zu Hause bei mir? Wir sind ungestört und können einen Schlehen-Wodka trinken. Er hatte einen Scherz machen wollen. Ihr Kopftuch bauschte sich so abenteuerlich über den schrägen Augen, Mäander liefen den Hals hinab, und schwarze Rauten erinnerten ihn an irgendwas Heiteres. Aber: Abgemacht! sagte Frau Schmalfuß, ich bin auch mal froh, den Betrieb nicht zu sehen, und brachte die schönen Hände zur Geltung. Die Verabredung war getroffen, zu abendlicher Stunde, das könnte ihrem Plan vorteilhaft sein. Wie sollte sie aber vorgehen? Mit welchen Worten das Anliegen nennen? Sollte sie einfach dem Wodka, dem Vogel Schlehen beigab, vertrauen? Das wäre unkollegial, es half nichts, sie würde eine Erklärung abgeben müssen. In den Tagen vor der Verabredung ging Frau Schmalfuß doch sorgenvoll ihrer Arbeit nach, unterzog den Kleiderschrank einer eingehenden Prüfung, brachte einen Rock in die Schnellreinigung, kaufte einen roten Pullover. Und jeden Abend vor dem Einschlafen legte sie sich die Worte für Friedrich Vogel zurecht, die sie morgens wieder verwarf. Sie wollte die Entstehung ihres Kindes keinem Zufall überlassen, andererseits fühlte sie sich nicht beredt genug, Friedrich Vogel an einem Abend zu überzeugen. Und wenn er wiederkäme? Daran verbot sie sich zu denken, für drei Leute war die Wohnung zu klein. Aber im Betrieb sähe sie ihn jeden Tag – ach Unsinn, sagte sie sich, und daß es nur darauf ankäme, alles richtig darzustellen, das würde jede Peinlichkeit vermeiden. Der Abend, es war der eines Mittwochs, kam heran. Sie zog doch nicht den vorgenommenen Rock, den neuen Pullover, sondern ein leichtes frauliches Wollkleid an. Sie nahm den Mantel und die Tasche über den Arm und erreichte die Vogelsche Wohnung zu Fuß. Ein kleiner Flur, rechts die Küche, gradaus die Tür in das Zimmer. Die Möbel gehörten einem Typensatz an, der Sessel, zu dem Vogel sie geleitete, trug einen schwarzgelben Bezug. Friedrich war in die Küche gegangen. Sie sah die Wände entlang: eine Menge Bücher, Amundsen, das Eisbuch, Humboldts Reisen – das Kind würde wahrscheinlich ein Junge werden –, und dazwischen aus Stroh geklebte Bilder, Schiffe und Palmen auf schwarzem Untergrund. Ihr Gastgeber kam mit einem Tablett und dampfenden Teegläsen zurück. Ja, die Bilder stelle er selbst her. Strohhalme würden eingeweicht, gespalten, geplättet und zu den gewünschten Motiven verklebt. Er ging zu einem Schrank mit vielen Schubladen. Er öffnete die oberste, entnahm ihr ein Bild und gab es Frau Schmalfuß. Unter dem Glas türmte sich diesmal sehr helles Stroh zu massiven Gletschern, das Meer war gefroren, der Untergrund zog schwarze Risse durchs Eis. Mühsam schien sich ein Eisbrecher (eine schwere Maschine aus dunklem Stroh) doch vorwärts zu wälzen, und über den Gletschern klebte eine rote tintige Sonne. Hier habe ich Trinkhalme aus Kunststoff genau wie das Stroh behandelt, erklärte Friedrich Vogel, beim Plätten muß man sehr vorsichtig sein. Das Bild vom Eisbrecher wurde ihr zum Geschenk, und sie nahm es als gutes Omen. Später würde sie dem Jungen erzählen: Auf solch einem Schiff am Nordpol verrichtet dein Vater schwere, verantwortungsvolle Arbeit, von Eisbären umgeben. Aber jetzt war der Vater noch nicht der Vater – Frau Schmalfuß riß sich aus ihren Träumen und verlangte einen Schlehen-Wodka. Denn sie brauchte doch eine geringfügige Unterstützung, ihr Anliegen an den Mann zu bringen. Friedrich Vogel öffnete diesmal die unterste Schublade und stellte eine Flasche auf den Tisch. Dem Tee hatten beide nur mäßig zugesprochen. Frau Schmalfuß, weil sie fürchtete, sich zu sehr aufzuregen, Friedrich Vogel, weil er ihn sowieso nur als ein Zugeständnis an den Damenbesuch betrachtet hatte. Sie ist wirklich eine schöne Person, dachte er und sah sie von oben bis unten an. Na, wo drückt denn der Schuh? fragte er, und sie sah auf ihre Füße und fühlte, daß ihr das Blut aus der Körpermitte ins Gesicht stieg. Sie seufzte und hob zu sprechen an. In schnellem Tempo, um erst alles zu Ende zu bringen, bevor er was sagen kann. Ach Friedrich, wir kenn uns doch lange. Haben beide klein angefangn in dem Betrieb, als wir noch gar nicht für Export gearbeitet ham. Nun gehn unsre Pumpen bis nach Guinea, aber das wollte ich gar nicht sagen, ich dachte nur so, daß ich auch weit rumgekomm bin in der Welt, fast auf som großen Schiff wie dein Eisbrecher. Na ja, bis Murmansk war ich mal, und ich verdiene ja gut… Sie redete und redete und schleppte sich langsam über die Reisen, den Wohlstand, die Wohnung, die gesellschaftliche Verantwortung bis an die Stelle: … also ein Kind müßte ich haben, und ich hab gedacht, du siehst das ein und machst das, ganz ohne Verpflichtungen, das geb ich dir schriftlich! Friedrich Vogel war gerührt, aber doch mehr wie vom Donner. Und obwohl er Frau Schmalfuß auch nach diesem Antrag seine Achtung nicht versagte, im Gegenteil, er fand ihn moralisch, auch schmeichelten ihm die Gründe, weshalb ihre Wahl auf ihn gefallen war, so konnte er sich doch nicht verhehlen: er fühlte sich etwas überfordert. Dieser Fall hier war zu einmalig, er fand keine Beispiele, wo ähnliches geschehen war und auf die er sich hätte stützen können. Er vermißte einfach die Tradition. Er trank keinen Wodka mehr an diesem Abend, stellte bald das Fernsehgerät ein und sah mit Frau Schmalfuß einen Film über Pinguine. Weißt du, sagte er, als er die Arbeitskollegin aus der Wohnung begleitete, weißt du, ich muß mir alles gründlich überlegen. Vielleicht geht es so, wie du meinst, aber vielleicht auch anders. Gib mir ne Woche Bedenkzeit. Nächsten Mittwoch sag ich Bescheid. Tage vergingen. Frau Schmalfuß las in Taschenbüchern über die schmerzarme Geburt nach und sah dem Mittwoch mit Spannung entgegen. Vogels freundliche, verständnisvolle Worte hatten sie fröhlich gemacht und ließen sie an die Ausführbarkeit ihres Planes glauben. Aber am Mittwoch sah sie Vogel nicht, am Donnerstag auch nicht, am Freitag ging sie in die Kernmacherei. Den Friedrich fand sie nicht, der stand auf dem Schrottplatz, der ging über den Gleiskörper, lud Stahlbarren aus, der saß in der Betriebszeitungs-Redaktion. Sie suchte ihn an den folgenden Tagen, benutzte das Werktelefon, wartete im Meisterbüro, spähte auf verschiedenen Sitzungen. Der Vogel war ausgeflogen. Sie konnte sich denken, was das heißen sollte. Trotzdem wunderte sie sich, daß er ihr die abschlägige Antwort am Mittwoch nicht sagte. Sie hörte in der Kantine Gerede, Friedrich Vogel lege nach Feierabend Spannteppich bei Elvira. Elvira arbeitete in der Dreherei. Ja, sie war immer lustig. Frau Schmalfuß ging verwundert nach Hause, trat vor die Couch und blickte lange auf den Eisbrecher hin. Das Bild fortzuwerfen konnte sie sich jedoch nicht entschließen, zu selten hatte sie ein persönliches Geschenk entgegengenommen. Alle wollen ein Beispiel, sagte Frau Schmalfuß sich, aber keiner will es geben. Und: Das war doch ein Fehler, dem Friedrich Vogel ehrlich entgegenzutreten, sie hätte sich besser dem Schlehen-Wodka und nicht der Vernunft anvertraut. Sie kompensierte Traurigkeit durch gewissenhafte Arbeit und Überstunden und hatte in dem Vierteljahr eine so geringe Stromrechnung, daß der Kassierer den Zähler überprüfen ließ. Dann setzte der Sommer ein. Die Hitze sprang sie im Werk, auf den Verkehrsmitteln, aus den Häusern scharf an, und sie konnte mehrmals am Tag kalt duschen, ohne das Gefühl loszuwerden, sie ginge in Pelzwerk einher. Eines Sonntags, die Fenster waren geöffnet, es herrschten 35 Grad, da lag Frau Schmalfuß auf der Couch unter dem Eisbrecher-Bild. Vor dem Haus arbeitete ein Rasensprenger und sollte die frischgepflanzten Büsche dem Vertrocknen entreißen. Er schleuderte den Strahl in die Luft, die Tropfen zerplatzten und prasselten, der Wasserwerfer drehte sich, quietschte und schmiß wieder die unzähligen Tropfen empor. Frau Schmalfuß sah im Halbschlaf die Pappelallee, sprang auf, schloß schnell das Fenster und lief aus dem Haus. Sie nahm die U-Bahn, um in die Stadt zu gelangen, saß da im Café, wieder fallendes Wasser, nun ein Springbrunnen, im Ohr, eilte zum Tierpark, hörte die Pfauen dort schrein, die warn wie verrückt. Sie hätte sich beinahe mit einem Kinderwagen von der Terrasse entfernt. Das Baby hatte sie angelacht, ihr die Fäustchen entgegengehalten und die Zehen gezeigt, zehn rosa Erbsen. Am Montag entschuldigte sie sich fernmündlich im Werk und suchte einen Arzt auf. Das war ein Frauenarzt. Ein alter Professor, der Zuversicht auf die Konsultanten übertrug und besessen war, viel Kindervolk auf die Welt loszulassen. Sie glaubte, wenn sie nach einer gründlichen Untersuchung erfahren haben würde, daß alles in Ordnung und sie gut in der Lage sei, ein Kind auszutragen und zu gebären, das Problem bald gelöst sei. Dann wären ja gut und gerne 85 Prozent aller Voraussetzungen, zu einem Kind zu kommen, erfüllt, das Übergewicht der einen Waagschale müßte zwangsläufig die andere mit den wenigen 15 Prozent zu ihren Gunsten hochschnellen lassen, und das mit solcher Wucht (Frau Schmalfuß sah förmlich die Schalen hüpfen, die leichtere sich überschlagen), daß die 15 Prozent aus ihrem Behältnis rausspringen und in die angefülltere Schale geschleudert würden. Im Wartezimmer sah sie die hübschen Frauen mit den geblähten Kleidern. Ach, mir wird schlecht! sagte eine, das fehlt mir noch! eine andere. Sie kam in das Sprechzimmer, barfuß, die Unterwäsche nach der Vorschrift in der Kabine reduziert, und sagte beim Händedruck: Guten Tag, ich möchte ein Kind. Der alte Herr freute sich, sah sie an und dachte sich eine Antwort. Er führte sie zu dem Sessel, in dem man auf dem Rücken sitzt, und untersuchte sie gewissenhaft. Dem steht nichts im Wege, sagte er, bemerkte die Topographie ihrer vier Schönheiten.

Merkwürdiges Beispiel weiblicher Entschlossenheit Frau Schmalfuß war 28 und hatte immer noch kein Kind. Das hatte folgende Gründe: Eine landläufige Meinung besagt, jede Frau habe sechs kleine Schönheiten. Diese Aussage scheint statistisch nicht ungesichert, trifft aber, wie alle statistischen Aussagen, nicht auf jeden Einzelfall zu. Frau Schmalfuß verfügte über vier Schönheiten: 1. schräggeschnittene Augen, deren äußere Winkel sich bis unter den Haaransatz zogen, 2. Hände, die gemalt zu werden verdient hätten, 3. ein Hinterteil hübscher ausgewogener Rundung, 4. die Beine. Leider endeten die Beine rechtwinklig in langen, breiten, flachen (nicht platten) Füßen. - Obwohl die vier Schönheiten, jede einzeln, den Neid mancher Geschlechtsgenossin hervorzurufen geeignet waren und ab und an ihn auch hervorriefen, war doch ihre gegenseitige Zuordnung derart ungünstig und die Entfernung der einen Schönheit von der anderen so beträchtlich, daß die störenden Elemente zwischen ihnen sie verdunkelten und die Blicke abstießen, die, wenn sie länger verweilt hätten, der Schönheiten innegeworden wären. Deshalb hatte Frau Schmalfuß zeit ihres Lebens mit keinem Manne näheren Umgang anknüpfen können. Die Vorzüge eines Menschen müssen nicht ausschließlich physischer Natur sein. Frau Schmalfuß bekam die Achtung, die Kollegen und Mitarbeiter ihr für ihre Arbeitsleistung und ihr kollegiales Verhalten zollten, regelmäßig zu spüren. In der Kantine hieß es: Alle Achtung, wie die sich zusammennimmt! Oder: Der wäre etwas mehr Glück zu gönnen gewesen! Manchmal, in unbewachten Augenblicken, an Sommerabenden auf dem Heimweg oder unter der Dusche, gestand sie sich, weniger Achtung wäre ihr lieber; einmal, sie ging durch die Schrebergärten, beschimpfte hinter einer Fliederhecke ein offensichtlich angetrunkener Alter seine Frau: Mit der hätte sie, für den Bruchteil einer Sekunde, tauschen mögen. Aber sie hatte sich fest in der Hand und suchte das Glück in der Arbeit. In ihrem Korridor hingen Urkunden, die sie als Sieger in Wettbewerben, Aktivistin und Teilnehmerin mehrerer Lehrgänge auswiesen. Der Umstand, daß sie unbemannt und noch ohne Kinder war, ließ sie ihren Kollegen, ohne daß sie es sich lange überlegt hätten, besonders geeignet erscheinen, sie in haupt- und ehrenamtlichen Funktionen zu vertreten. Bei allen gesellschaftlichen Anlässen hörte man ihren Namen nennen, sie Auskunft geben, und auf den Betriebsweihnachtsfeiern beschenkte sie seit vielen Jahren als Knecht Ruprecht die Kinder der verschiedenen Abteilungen. Sie erfüllte alle ihr aufgetragenen Aufgaben gewissenhaft und ohne für sich einen Vorteil herauszuschlagen. Im März des vergangenen Jahres zog sie ihren weiten Kamelhaarmantel an, den sie trug, wenn sie im Namen des Frauenausschusses Wöchnerinnen besuchte, und fuhr mit der Linie 17 in die Vorstadt. Als sie sich des Päckchens entledigt hatte, selbstgestrickte winzige Handschuhe beigab und wieder auf dem schmalen Zementweg stand, der zwischen Häusern und Gärten sich durchfädelte, war sie eigenartig bewegt. Die Schneeglöckchen schaukelten, die Schwertlilien hoben die Erde an, den kahlen Bäumen rann das Wasser die Stämme entlang, schwarze Wolken rasten im Wind auf die Antennen zu, und mitten in dieser aufgewühlten fröhlichen Landschaft hätte sie gern einen kleinen weißen Kinderwagen gesehen und sich selbst als seine Fahrerin gefühlt: mit noch geschwächten Knien von der vorangegangenen Entbindung, mit einem wohlig schmerzenden Rücken, seis nun vom Stillen oder dem täglichen Wäschewaschen. Solche Bilder stellten sich von der Zeit an öfter vor ihre Augen. Sie schaute in jeden Kinderwagen und war einerseits befriedigt, wenn so ein ganz Kleines tief unten, in seiner Höhle geschützt, nur zu vermuten war, andererseits ärgerte es sie, daß sich der Gegenstand ihrer Neigung so vor ihr verbarg. Als sie sich ihres Zustandes, welcher ja nur ein psychischer und kein physischer war, so recht bewußt wurde, beschloß sie, etwas für sich zu unternehmen. Sie stellte die These auf, nach der sie geradezu verpflichtet war, der Gesellschaft persönlich noch nützlicher als bisher zu sein. Ich verdiene gut, rechnete sie sich vor, ich habe eine moderne, gut eingerichtete Zweizimmerwohnung, mehrere große Reisen, einmal ins befreundete Ausland, oftmals unternommen - es wäre verantwortungslos, weiterhin so eigennützig durchs Leben zu gehen. Ja, ein Kind wollte sie haben. An Heirat dachte Frau Schmalfuß nicht. Hatte sie bisher niemanden zu solch einem Schritt veranlassen können, wie sollte es ihr jetzt gelingen, wo die erste Jugend hinter ihr lag, sie ein selbständiger Mensch geworden war und durch das lange Alleinsein Eigenheiten angenommen hatte, die nicht mehr abzustreifen und einer Ehe sicherlich abträglich gewesen wären. Aber sie ließ eine ganze Anzahl Männer an ihren schönen schräggeschnittenen Augen vorbeidefilieren, alle, die sie kannte im zeugungsfähigen Alter und denen sie wegen ihres Fleißes und aufrechten Verhaltens viel Achtung entgegenbrachte. Die Siegespalme erhielt Friedrich Vogel, der Meister in der Gießereiabteilung. Er war unverheiratet und von sehr angenehmer Gestalt. Da brauchte sie also keinen Ehebruch zu betreiben, obwohl der gesellschaftliche Anlaß sie ihrer Meinung nach auch dazu berechtigt hätte, da konnte sie gewiß sein, ihrem künftigen Kinde nach bestem Wissen und Gewissen einen Vater mit überdurchschnittlichen charakterlichen und körperlichen Eigenschaften ausgesucht zu haben. Denn sie glaubte an Vererbung ebenso wie an den Einfluß einer sozialistischen Umwelt auf das Kind, das sie eben sozusagen auf das Reißbrett projizierte. Nicht ohne Bedeutung für ihre Wahl war die Tatsache, daß Friedrich Vogel ein Holzbein trug. Er hatte sich so in der Gewalt, daß er umherlief wie jeder andere Mensch seines Alters, auch wenn die Witterung umschlug und Schmerzen verursachte, und selbst wenn es zur Bildung von Glatteis kam. Die Prothese war kein Mangel in ihren Augen, eher das Gegenteil, aber sie versprach sich von ihr Erleichterungen bei der Durchführung ihres Planes. Sie beschloß, keine geldlichen und ideellen Ansprüche an den Vater ihres Kindes zu stellen. Der Sohn oder die Tochter würde von ihr erzogen werden, und sie erwog, dem Kind eine glaubhafte Geschichte zu erzählen, die Abwesenheit des Erzeugers zu begründen. Vielleicht war er einem Autounfall zum Opfer gefallen? Oder hatte ihn als Grenzsoldat eine feindliche Kugel getroffen? Aber es gab ja viele Familien, die nur aus Mutter und Kind bestanden. Und warum sollte Friedrich Vogel nicht eines Tages - die Jugendweihe wäre der gegebene Anlaß - auf der Bildfläche erscheinen und dem Kinde eine wertvolle Armbanduhr schenken? Ja, das war die Lösung. Denn Frau Schmalfuß klopfte das Herz, wenn sie daran dachte, den Kindesvater, wenn auch mit Worten, unter ein Auto zu stoßen oder ihn gar einem feindlichen Anschlag auszusetzen. Sie hatte sich mit Friedrich Vogel dermaßen eindringlich beschäftigt, daß ihr ganz warm und eng in der Brust wurde, wenn sie an ihn dachte. Und obwohl noch kein Stück ihrer prognostischen Überlegungen in die Tat umgesetzt war, begann eine Zeit mit fröhlichen Augen am Tage und wunderlichem Traumzeug bei Nacht. Sie, die bisher nach all der Arbeit und den gesellschaftlichen Aufgaben am Abend traumlos in die Kissen gesunken war und ohne viel Federlesens einfach schlief und wieder aufstand, träumte nun seltsame Landschaften und Zimmer mit Treppen. Morgens versuchte sie sich zu erinnern, den angenehmen Zustand des Traums zu erhalten - aber was war das eigentlich alles gewesen? Eine riesige Pappelallee, mächtige Ständer - doch zu dieser Deutung fehlten ihr alle Voraussetzungen, und eigentlich lag sie ihr fern. Sie wunderte sich also und vergaß den Anblick. Nun mußten Taten folgen. Frau Schmalfuß kaufte sich eine Kollektion bunter Tücher, wand sich jeden Tag ein anderes um den Kopf und ließ sich in der Gießerei sehen. Die Kranführer pfiffen, sie stieg durch Nebel und Hitze, allerlei Schreibkram bei sich führend, und stellte Friedrich Vogel in der Kernmacherei. Sie setzten sich vor den Formsand und besprachen Angelegenheiten der Gewerkschaft. Frau Schmalfuß ließ durchblicken, daß sie gern mit dem Vogel über eine andere gesellschaftlich hart anstehende Sache geredet hätte, aber nicht hier bei dem Krach. Wo? fragte Friedrich Vogel, vielleicht zu Hause bei mir? Wir sind ungestört und können einen Schlehen-Wodka trinken. Er hatte einen Scherz machen wollen. Ihr Kopftuch bauschte sich so abenteuerlich über den schrägen Augen, Mäander liefen den Hals hinab, und schwarze Rauten erinnerten ihn an irgendwas Heiteres. Aber: Abgemacht! sagte Frau Schmalfuß, ich bin auch mal froh, den Betrieb nicht zu sehen, und brachte die schönen Hände zur Geltung. Die Verabredung war getroffen, zu abendlicher Stunde, das könnte ihrem Plan vorteilhaft sein. Wie sollte sie aber vorgehen? Mit welchen Worten das Anliegen nennen? Sollte sie einfach dem Wodka, dem Vogel Schlehen beigab, vertrauen? Das wäre unkollegial, es half nichts, sie würde eine Erklärung abgeben müssen. In den Tagen vor der Verabredung ging Frau Schmalfuß doch sorgenvoll ihrer Arbeit nach, unterzog den Kleiderschrank einer eingehenden Prüfung, brachte einen Rock in die Schnellreinigung, kaufte einen roten Pullover. Und jeden Abend vor dem Einschlafen legte sie sich die Worte für Friedrich Vogel zurecht, die sie morgens wieder verwarf. Sie wollte die Entstehung ihres Kindes keinem Zufall überlassen, andererseits fühlte sie sich nicht beredt genug, Friedrich Vogel an einem Abend zu überzeugen. Und wenn er wiederkäme? Daran verbot sie sich zu denken, für drei Leute war die Wohnung zu klein. Aber im Betrieb sähe sie ihn jeden Tag - ach Unsinn, sagte sie sich, und daß es nur darauf ankäme, alles richtig darzustellen, das würde jede Peinlichkeit vermeiden. Der Abend, es war der eines Mittwochs, kam heran. Sie zog doch nicht den vorgenommenen Rock, den neuen Pullover, sondern ein leichtes frauliches Wollkleid an. Sie nahm den Mantel und die Tasche über den Arm und erreichte die Vogelsche Wohnung zu Fuß. Ein kleiner Flur, rechts die Küche, gradaus die Tür in das Zimmer. Die Möbel gehörten einem Typensatz an, der Sessel, zu dem Vogel sie geleitete, trug einen schwarzgelben Bezug. Friedrich war in die Küche gegangen. Sie sah die Wände entlang: eine Menge Bücher, Amundsen, das Eisbuch, Humboldts Reisen - das Kind würde wahrscheinlich ein Junge werden -, und dazwischen aus Stroh geklebte Bilder, Schiffe und Palmen auf schwarzem Untergrund. Ihr Gastgeber kam mit einem Tablett und dampfenden Teegläsen zurück. Ja, die Bilder stelle er selbst her. Strohhalme würden eingeweicht, gespalten, geplättet und zu den gewünschten Motiven verklebt. Er ging zu einem Schrank mit vielen Schubladen. Er öffnete die oberste, entnahm ihr ein Bild und gab es Frau Schmalfuß. Unter dem Glas türmte sich diesmal sehr helles Stroh zu massiven Gletschern, das Meer war gefroren, der Untergrund zog schwarze Risse durchs Eis. Mühsam schien sich ein Eisbrecher (eine schwere Maschine aus dunklem Stroh) doch vorwärts zu wälzen, und über den Gletschern klebte eine rote tintige Sonne. Hier habe ich Trinkhalme aus Kunststoff genau wie das Stroh behandelt, erklärte Friedrich Vogel, beim Plätten muß man sehr vorsichtig sein. Das Bild vom Eisbrecher wurde ihr zum Geschenk, und sie nahm es als gutes Omen. Später würde sie dem Jungen erzählen: Auf solch einem Schiff am Nordpol verrichtet dein Vater schwere, verantwortungsvolle Arbeit, von Eisbären umgeben. Aber jetzt war der Vater noch nicht der Vater - Frau Schmalfuß riß sich aus ihren Träumen und verlangte einen Schlehen-Wodka. Denn sie brauchte doch eine geringfügige Unterstützung, ihr Anliegen an den Mann zu bringen. Friedrich Vogel öffnete diesmal die unterste Schublade und stellte eine Flasche auf den Tisch. Dem Tee hatten beide nur mäßig zugesprochen. Frau Schmalfuß, weil sie fürchtete, sich zu sehr aufzuregen, Friedrich Vogel, weil er ihn sowieso nur als ein Zugeständnis an den Damenbesuch betrachtet hatte. Sie ist wirklich eine schöne Person, dachte er und sah sie von oben bis unten an. Na, wo drückt denn der Schuh? fragte er, und sie sah auf ihre Füße und fühlte, daß ihr das Blut aus der Körpermitte ins Gesicht stieg. Sie seufzte und hob zu sprechen an. In schnellem Tempo, um erst alles zu Ende zu bringen, bevor er was sagen kann. Ach Friedrich, wir kenn uns doch lange. Haben beide klein angefangn in dem Betrieb, als wir noch gar nicht für Export gearbeitet ham. Nun gehn unsre Pumpen bis nach Guinea, aber das wollte ich gar nicht sagen, ich dachte nur so, daß ich auch weit rumgekomm bin in der Welt, fast auf som großen Schiff wie dein Eisbrecher. Na ja, bis Murmansk war ich mal, und ich verdiene ja gut... Sie redete und redete und schleppte sich langsam über die Reisen, den Wohlstand, die Wohnung, die gesellschaftliche Verantwortung bis an die Stelle: ... also ein Kind müßte ich haben, und ich hab gedacht, du siehst das ein und machst das, ganz ohne Verpflichtungen, das geb ich dir schriftlich! Friedrich Vogel war gerührt, aber doch mehr wie vom Donner. Und obwohl er Frau Schmalfuß auch nach diesem Antrag seine Achtung nicht versagte, im Gegenteil, er fand ihn moralisch, auch schmeichelten ihm die Gründe, weshalb ihre Wahl auf ihn gefallen war, so konnte er sich doch nicht verhehlen: er fühlte sich etwas überfordert. Dieser Fall hier war zu einmalig, er fand keine Beispiele, wo ähnliches geschehen war und auf die er sich hätte stützen können. Er vermißte einfach die Tradition. Er trank keinen Wodka mehr an diesem Abend, stellte bald das Fernsehgerät ein und sah mit Frau Schmalfuß einen Film über Pinguine. Weißt du, sagte er, als er die Arbeitskollegin aus der Wohnung begleitete, weißt du, ich muß mir alles gründlich überlegen. Vielleicht geht es so, wie du meinst, aber vielleicht auch anders. Gib mir ne Woche Bedenkzeit. Nächsten Mittwoch sag ich Bescheid. Tage vergingen. Frau Schmalfuß las in Taschenbüchern über die schmerzarme Geburt nach und sah dem Mittwoch mit Spannung entgegen. Vogels freundliche, verständnisvolle Worte hatten sie fröhlich gemacht und ließen sie an die Ausführbarkeit ihres Planes glauben. Aber am Mittwoch sah sie Vogel nicht, am Donnerstag auch nicht, am Freitag ging sie in die Kernmacherei. Den Friedrich fand sie nicht, der stand auf dem Schrottplatz, der ging über den Gleiskörper, lud Stahlbarren aus, der saß in der Betriebszeitungs-Redaktion. Sie suchte ihn an den folgenden Tagen, benutzte das Werktelefon, wartete im Meisterbüro, spähte auf verschiedenen Sitzungen. Der Vogel war ausgeflogen. Sie konnte sich denken, was das heißen sollte. Trotzdem wunderte sie sich, daß er ihr die abschlägige Antwort am Mittwoch nicht sagte. Sie hörte in der Kantine Gerede, Friedrich Vogel lege nach Feierabend Spannteppich bei Elvira. Elvira arbeitete in der Dreherei. Ja, sie war immer lustig. Frau Schmalfuß ging verwundert nach Hause, trat vor die Couch und blickte lange auf den Eisbrecher hin. Das Bild fortzuwerfen konnte sie sich jedoch nicht entschließen, zu selten hatte sie ein persönliches Geschenk entgegengenommen. Alle wollen ein Beispiel, sagte Frau Schmalfuß sich, aber keiner will es geben. Und: Das war doch ein Fehler, dem Friedrich Vogel ehrlich entgegenzutreten, sie hätte sich besser dem Schlehen-Wodka und nicht der Vernunft anvertraut. Sie kompensierte Traurigkeit durch gewissenhafte Arbeit und Überstunden und hatte in dem Vierteljahr eine so geringe Stromrechnung, daß der Kassierer den Zähler überprüfen ließ. Dann setzte der Sommer ein. Die Hitze sprang sie im Werk, auf den Verkehrsmitteln, aus den Häusern scharf an, und sie konnte mehrmals am Tag kalt duschen, ohne das Gefühl loszuwerden, sie ginge in Pelzwerk einher. Eines Sonntags, die Fenster waren geöffnet, es herrschten 35 Grad, da lag Frau Schmalfuß auf der Couch unter dem Eisbrecher-Bild. Vor dem Haus arbeitete ein Rasensprenger und sollte die frischgepflanzten Büsche dem Vertrocknen entreißen. Er schleuderte den Strahl in die Luft, die Tropfen zerplatzten und prasselten, der Wasserwerfer drehte sich, quietschte und schmiß wieder die unzähligen Tropfen empor. Frau Schmalfuß sah im Halbschlaf die Pappelallee, sprang auf, schloß schnell das Fenster und lief aus dem Haus. Sie nahm die U-Bahn, um in die Stadt zu gelangen, saß da im Café, wieder fallendes Wasser, nun ein Springbrunnen, im Ohr, eilte zum Tierpark, hörte die Pfauen dort schrein, die warn wie verrückt. Sie hätte sich beinahe mit einem Kinderwagen von der Terrasse entfernt. Das Baby hatte sie angelacht, ihr die Fäustchen entgegengehalten und die Zehen gezeigt, zehn rosa Erbsen. Am Montag entschuldigte sie sich fernmündlich im Werk und suchte einen Arzt auf. Das war ein Frauenarzt. Ein alter Professor, der Zuversicht auf die Konsultanten übertrug und besessen war, viel Kindervolk auf die Welt loszulassen. Sie glaubte, wenn sie nach einer gründlichen Untersuchung erfahren haben würde, daß alles in Ordnung und sie gut in der Lage sei, ein Kind auszutragen und zu gebären, das Problem bald gelöst sei. Dann wären ja gut und gerne 85 Prozent aller Voraussetzungen, zu einem Kind zu kommen, erfüllt, das Übergewicht der einen Waagschale müßte zwangsläufig die andere mit den wenigen 15 Prozent zu ihren Gunsten hochschnellen lassen, und das mit solcher Wucht (Frau Schmalfuß sah förmlich die Schalen hüpfen, die leichtere sich überschlagen), daß die 15 Prozent aus ihrem Behältnis rausspringen und in die angefülltere Schale geschleudert würden. Im Wartezimmer sah sie die hübschen Frauen mit den geblähten Kleidern. Ach, mir wird schlecht! sagte eine, das fehlt mir noch! eine andere. Sie kam in das Sprechzimmer, barfuß, die Unterwäsche nach der Vorschrift in der Kabine reduziert, und sagte beim Händedruck: Guten Tag, ich möchte ein Kind. Der alte Herr freute sich, sah sie an und dachte sich eine Antwort. Er führte sie zu dem Sessel, in dem man auf dem Rücken sitzt, und untersuchte sie gewissenhaft. Dem steht nichts im Wege, sagte er, bemerkte die Topographie ihrer vier Schönheiten.

Merkwürdiges Beispiel weiblicher Entschlossenheit Frau Schmalfuß war 28 und hatte immer noch kein Kind. Das hatte folgende Gründe: Eine landläufige Meinung besagt, jede Frau habe sechs kleine Schönheiten. Diese Aussage scheint statistisch nicht ungesichert, trifft aber, wie alle statistischen Aussagen, nicht auf jeden Einzelfall zu. Frau Schmalfuß verfügte über vier Schönheiten: 1. schräggeschnittene Augen, deren äußere Winkel sich bis unter den Haaransatz zogen, 2. Hände, die gemalt zu werden verdient hätten, 3. ein Hinterteil hübscher ausgewogener Rundung, 4. die Beine. Leider endeten die Beine rechtwinklig in langen, breiten, flachen (nicht platten) Füßen. - Obwohl die vier Schönheiten, jede einzeln, den Neid mancher Geschlechtsgenossin hervorzurufen geeignet waren und ab und an ihn auch hervorriefen, war doch ihre gegenseitige Zuordnung derart ungünstig und die Entfernung der einen Schönheit von der anderen so beträchtlich, daß die störenden Elemente zwischen ihnen sie verdunkelten und die Blicke abstießen, die, wenn sie länger verweilt hätten, der Schönheiten innegeworden wären. Deshalb hatte Frau Schmalfuß zeit ihres Lebens mit keinem Manne näheren Umgang anknüpfen können. Die Vorzüge eines Menschen müssen nicht ausschließlich physischer Natur sein. Frau Schmalfuß bekam die Achtung, die Kollegen und Mitarbeiter ihr für ihre Arbeitsleistung und ihr kollegiales Verhalten zollten, regelmäßig zu spüren. In der Kantine hieß es: Alle Achtung, wie die sich zusammennimmt! Oder: Der wäre etwas mehr Glück zu gönnen gewesen! Manchmal, in unbewachten Augenblicken, an Sommerabenden auf dem Heimweg oder unter der Dusche, gestand sie sich, weniger Achtung wäre ihr lieber; einmal, sie ging durch die Schrebergärten, beschimpfte hinter einer Fliederhecke ein offensichtlich angetrunkener Alter seine Frau: Mit der hätte sie, für den Bruchteil einer Sekunde, tauschen mögen. Aber sie hatte sich fest in der Hand und suchte das Glück in der Arbeit. In ihrem Korridor hingen Urkunden, die sie als Sieger in Wettbewerben, Aktivistin und Teilnehmerin mehrerer Lehrgänge auswiesen. Der Umstand, daß sie unbemannt und noch ohne Kinder war, ließ sie ihren Kollegen, ohne daß sie es sich lange überlegt hätten, besonders geeignet erscheinen, sie in haupt- und ehrenamtlichen Funktionen zu vertreten. Bei allen gesellschaftlichen Anlässen hörte man ihren Namen nennen, sie Auskunft geben, und auf den Betriebsweihnachtsfeiern beschenkte sie seit vielen Jahren als Knecht Ruprecht die Kinder der verschiedenen Abteilungen. Sie erfüllte alle ihr aufgetragenen Aufgaben gewissenhaft und ohne für sich einen Vorteil herauszuschlagen. Im März des vergangenen Jahres zog sie ihren weiten Kamelhaarmantel an, den sie trug, wenn sie im Namen des Frauenausschusses Wöchnerinnen besuchte, und fuhr mit der Linie 17 in die Vorstadt. Als sie sich des Päckchens entledigt hatte, selbstgestrickte winzige Handschuhe beigab und wieder auf dem schmalen Zementweg stand, der zwischen Häusern und Gärten sich durchfädelte, war sie eigenartig bewegt. Die Schneeglöckchen schaukelten, die Schwertlilien hoben die Erde an, den kahlen Bäumen rann das Wasser die Stämme entlang, schwarze Wolken rasten im Wind auf die Antennen zu, und mitten in dieser aufgewühlten fröhlichen Landschaft hätte sie gern einen kleinen weißen Kinderwagen gesehen und sich selbst als seine Fahrerin gefühlt: mit noch geschwächten Knien von der vorangegangenen Entbindung, mit einem wohlig schmerzenden Rücken, seis nun vom Stillen oder dem täglichen Wäschewaschen. Solche Bilder stellten sich von der Zeit an öfter vor ihre Augen. Sie schaute in jeden Kinderwagen und war einerseits befriedigt, wenn so ein ganz Kleines tief unten, in seiner Höhle geschützt, nur zu vermuten war, andererseits ärgerte es sie, daß sich der Gegenstand ihrer Neigung so vor ihr verbarg. Als sie sich ihres Zustandes, welcher ja nur ein psychischer und kein physischer war, so recht bewußt wurde, beschloß sie, etwas für sich zu unternehmen. Sie stellte die These auf, nach der sie geradezu verpflichtet war, der Gesellschaft persönlich noch nützlicher als bisher zu sein. Ich verdiene gut, rechnete sie sich vor, ich habe eine moderne, gut eingerichtete Zweizimmerwohnung, mehrere große Reisen, einmal ins befreundete Ausland, oftmals unternommen - es wäre verantwortungslos, weiterhin so eigennützig durchs Leben zu gehen. Ja, ein Kind wollte sie haben. An Heirat dachte Frau Schmalfuß nicht. Hatte sie bisher niemanden zu solch einem Schritt veranlassen können, wie sollte es ihr jetzt gelingen, wo die erste Jugend hinter ihr lag, sie ein selbständiger Mensch geworden war und durch das lange Alleinsein Eigenheiten angenommen hatte, die nicht mehr abzustreifen und einer Ehe sicherlich abträglich gewesen wären. Aber sie ließ eine ganze Anzahl Männer an ihren schönen schräggeschnittenen Augen vorbeidefilieren, alle, die sie kannte im zeugungsfähigen Alter und denen sie wegen ihres Fleißes und aufrechten Verhaltens viel Achtung entgegenbrachte. Die Siegespalme erhielt Friedrich Vogel, der Meister in der Gießereiabteilung. Er war unverheiratet und von sehr angenehmer Gestalt. Da brauchte sie also keinen Ehebruch zu betreiben, obwohl der gesellschaftliche Anlaß sie ihrer Meinung nach auch dazu berechtigt hätte, da konnte sie gewiß sein, ihrem künftigen Kinde nach bestem Wissen und Gewissen einen Vater mit überdurchschnittlichen charakterlichen und körperlichen Eigenschaften ausgesucht zu haben. Denn sie glaubte an Vererbung ebenso wie an den Einfluß einer sozialistischen Umwelt auf das Kind, das sie eben sozusagen auf das Reißbrett projizierte. Nicht ohne Bedeutung für ihre Wahl war die Tatsache, daß Friedrich Vogel ein Holzbein trug. Er hatte sich so in der Gewalt, daß er umherlief wie jeder andere Mensch seines Alters, auch wenn die Witterung umschlug und Schmerzen verursachte, und selbst wenn es zur Bildung von Glatteis kam. Die Prothese war kein Mangel in ihren Augen, eher das Gegenteil, aber sie versprach sich von ihr Erleichterungen bei der Durchführung ihres Planes. Sie beschloß, keine geldlichen und ideellen Ansprüche an den Vater ihres Kindes zu stellen. Der Sohn oder die Tochter würde von ihr erzogen werden, und sie erwog, dem Kind eine glaubhafte Geschichte zu erzählen, die Abwesenheit des Erzeugers zu begründen. Vielleicht war er einem Autounfall zum Opfer gefallen? Oder hatte ihn als Grenzsoldat eine feindliche Kugel getroffen? Aber es gab ja viele Familien, die nur aus Mutter und Kind bestanden. Und warum sollte Friedrich Vogel nicht eines Tages - die Jugendweihe wäre der gegebene Anlaß - auf der Bildfläche erscheinen und dem Kinde eine wertvolle Armbanduhr schenken? Ja, das war die Lösung. Denn Frau Schmalfuß klopfte das Herz, wenn sie daran dachte, den Kindesvater, wenn auch mit Worten, unter ein Auto zu stoßen oder ihn gar einem feindlichen Anschlag auszusetzen. Sie hatte sich mit Friedrich Vogel dermaßen eindringlich beschäftigt, daß ihr ganz warm und eng in der Brust wurde, wenn sie an ihn dachte. Und obwohl noch kein Stück ihrer prognostischen Überlegungen in die Tat umgesetzt war, begann eine Zeit mit fröhlichen Augen am Tage und wunderlichem Traumzeug bei Nacht. Sie, die bisher nach all der Arbeit und den gesellschaftlichen Aufgaben am Abend traumlos in die Kissen gesunken war und ohne viel Federlesens einfach schlief und wieder aufstand, träumte nun seltsame Landschaften und Zimmer mit Treppen. Morgens versuchte sie sich zu erinnern, den angenehmen Zustand des Traums zu erhalten - aber was war das eigentlich alles gewesen? Eine riesige Pappelallee, mächtige Ständer - doch zu dieser Deutung fehlten ihr alle Voraussetzungen, und eigentlich lag sie ihr fern. Sie wunderte sich also und vergaß den Anblick. Nun mußten Taten folgen. Frau Schmalfuß kaufte sich eine Kollektion bunter Tücher, wand sich jeden Tag ein anderes um den Kopf und ließ sich in der Gießerei sehen. Die Kranführer pfiffen, sie stieg durch Nebel und Hitze, allerlei Schreibkram bei sich führend, und stellte Friedrich Vogel in der Kernmacherei. Sie setzten sich vor den Formsand und besprachen Angelegenheiten der Gewerkschaft. Frau Schmalfuß ließ durchblicken, daß sie gern mit dem Vogel über eine andere gesellschaftlich hart anstehende Sache geredet hätte, aber nicht hier bei dem Krach. Wo? fragte Friedrich Vogel, vielleicht zu Hause bei mir? Wir sind ungestört und können einen Schlehen-Wodka trinken. Er hatte einen Scherz machen wollen. Ihr Kopftuch bauschte sich so abenteuerlich über den schrägen Augen, Mäander liefen den Hals hinab, und schwarze Rauten erinnerten ihn an irgendwas Heiteres. Aber: Abgemacht! sagte Frau Schmalfuß, ich bin auch mal froh, den Betrieb nicht zu sehen, und brachte die schönen Hände zur Geltung. Die Verabredung war getroffen, zu abendlicher Stunde, das könnte ihrem Plan vorteilhaft sein. Wie sollte sie aber vorgehen? Mit welchen Worten das Anliegen nennen? Sollte sie einfach dem Wodka, dem Vogel Schlehen beigab, vertrauen? Das wäre unkollegial, es half nichts, sie würde eine Erklärung abgeben müssen. In den Tagen vor der Verabredung ging Frau Schmalfuß doch sorgenvoll ihrer Arbeit nach, unterzog den Kleiderschrank einer eingehenden Prüfung, brachte einen Rock in die Schnellreinigung, kaufte einen roten Pullover. Und jeden Abend vor dem Einschlafen legte sie sich die Worte für Friedrich Vogel zurecht, die sie morgens wieder verwarf. Sie wollte die Entstehung ihres Kindes keinem Zufall überlassen, andererseits fühlte sie sich nicht beredt genug, Friedrich Vogel an einem Abend zu überzeugen. Und wenn er wiederkäme? Daran verbot sie sich zu denken, für drei Leute war die Wohnung zu klein. Aber im Betrieb sähe sie ihn jeden Tag - ach Unsinn, sagte sie sich, und daß es nur darauf ankäme, alles richtig darzustellen, das würde jede Peinlichkeit vermeiden. Der Abend, es war der eines Mittwochs, kam heran. Sie zog doch nicht den vorgenommenen Rock, den neuen Pullover, sondern ein leichtes frauliches Wollkleid an. Sie nahm den Mantel und die Tasche über den Arm und erreichte die Vogelsche Wohnung zu Fuß. Ein kleiner Flur, rechts die Küche, gradaus die Tür in das Zimmer. Die Möbel gehörten einem Typensatz an, der Sessel, zu dem Vogel sie geleitete, trug einen schwarzgelben Bezug. Friedrich war in die Küche gegangen. Sie sah die Wände entlang: eine Menge Bücher, Amundsen, das Eisbuch, Humboldts Reisen - das Kind würde wahrscheinlich ein Junge werden -, und dazwischen aus Stroh geklebte Bilder, Schiffe und Palmen auf schwarzem Untergrund. Ihr Gastgeber kam mit einem Tablett und dampfenden Teegläsen zurück. Ja, die Bilder stelle er selbst her. Strohhalme würden eingeweicht, gespalten, geplättet und zu den gewünschten Motiven verklebt. Er ging zu einem Schrank mit vielen Schubladen. Er öffnete die oberste, entnahm ihr ein Bild und gab es Frau Schmalfuß. Unter dem Glas türmte sich diesmal sehr helles Stroh zu massiven Gletschern, das Meer war gefroren, der Untergrund zog schwarze Risse durchs Eis. Mühsam schien sich ein Eisbrecher (eine schwere Maschine aus dunklem Stroh) doch vorwärts zu wälzen, und über den Gletschern klebte eine rote tintige Sonne. Hier habe ich Trinkhalme aus Kunststoff genau wie das Stroh behandelt, erklärte Friedrich Vogel, beim Plätten muß man sehr vorsichtig sein. Das Bild vom Eisbrecher wurde ihr zum Geschenk, und sie nahm es als gutes Omen. Später würde sie dem Jungen erzählen: Auf solch einem Schiff am Nordpol verrichtet dein Vater schwere, verantwortungsvolle Arbeit, von Eisbären umgeben. Aber jetzt war der Vater noch nicht der Vater - Frau Schmalfuß riß sich aus ihren Träumen und verlangte einen Schlehen-Wodka. Denn sie brauchte doch eine geringfügige Unterstützung, ihr Anliegen an den Mann zu bringen. Friedrich Vogel öffnete diesmal die unterste Schublade und stellte eine Flasche auf den Tisch. Dem Tee hatten beide nur mäßig zugesprochen. Frau Schmalfuß, weil sie fürchtete, sich zu sehr aufzuregen, Friedrich Vogel, weil er ihn sowieso nur als ein Zugeständnis an den Damenbesuch betrachtet hatte. Sie ist wirklich eine schöne Person, dachte er und sah sie von oben bis unten an. Na, wo drückt denn der Schuh? fragte er, und sie sah auf ihre Füße und fühlte, daß ihr das Blut aus der Körpermitte ins Gesicht stieg. Sie seufzte und hob zu sprechen an. In schnellem Tempo, um erst alles zu Ende zu bringen, bevor er was sagen kann. Ach Friedrich, wir kenn uns doch lange. Haben beide klein angefangn in dem Betrieb, als wir noch gar nicht für Export gearbeitet ham. Nun gehn unsre Pumpen bis nach Guinea, aber das wollte ich gar nicht sagen, ich dachte nur so, daß ich auch weit rumgekomm bin in der Welt, fast auf som großen Schiff wie dein Eisbrecher. Na ja, bis Murmansk war ich mal, und ich verdiene ja gut... Sie redete und redete und schleppte sich langsam über die Reisen, den Wohlstand, die Wohnung, die gesellschaftliche Verantwortung bis an die Stelle: ... also ein Kind müßte ich haben, und ich hab gedacht, du siehst das ein und machst das, ganz ohne Verpflichtungen, das geb ich dir schriftlich! Friedrich Vogel war gerührt, aber doch mehr wie vom Donner. Und obwohl er Frau Schmalfuß auch nach diesem Antrag seine Achtung nicht versagte, im Gegenteil, er fand ihn moralisch, auch schmeichelten ihm die Gründe, weshalb ihre Wahl auf ihn gefallen war, so konnte er sich doch nicht verhehlen: er fühlte sich etwas überfordert. Dieser Fall hier war zu einmalig, er fand keine Beispiele, wo ähnliches geschehen war und auf die er sich hätte stützen können. Er vermißte einfach die Tradition. Er trank keinen Wodka mehr an diesem Abend, stellte bald das Fernsehgerät ein und sah mit Frau Schmalfuß einen Film über Pinguine. Weißt du, sagte er, als er die Arbeitskollegin aus der Wohnung begleitete, weißt du, ich muß mir alles gründlich überlegen. Vielleicht geht es so, wie du meinst, aber vielleicht auch anders. Gib mir ne Woche Bedenkzeit. Nächsten Mittwoch sag ich Bescheid. Tage vergingen. Frau Schmalfuß las in Taschenbüchern über die schmerzarme Geburt nach und sah dem Mittwoch mit Spannung entgegen. Vogels freundliche, verständnisvolle Worte hatten sie fröhlich gemacht und ließen sie an die Ausführbarkeit ihres Planes glauben. Aber am Mittwoch sah sie Vogel nicht, am Donnerstag auch nicht, am Freitag ging sie in die Kernmacherei. Den Friedrich fand sie nicht, der stand auf dem Schrottplatz, der ging über den Gleiskörper, lud Stahlbarren aus, der saß in der Betriebszeitungs-Redaktion. Sie suchte ihn an den folgenden Tagen, benutzte das Werktelefon, wartete im Meisterbüro, spähte auf verschiedenen Sitzungen. Der Vogel war ausgeflogen. Sie konnte sich denken, was das heißen sollte. Trotzdem wunderte sie sich, daß er ihr die abschlägige Antwort am Mittwoch nicht sagte. Sie hörte in der Kantine Gerede, Friedrich Vogel lege nach Feierabend Spannteppich bei Elvira. Elvira arbeitete in der Dreherei. Ja, sie war immer lustig. Frau Schmalfuß ging verwundert nach Hause, trat vor die Couch und blickte lange auf den Eisbrecher hin. Das Bild fortzuwerfen konnte sie sich jedoch nicht entschließen, zu selten hatte sie ein persönliches Geschenk entgegengenommen. Alle wollen ein Beispiel, sagte Frau Schmalfuß sich, aber keiner will es geben. Und: Das war doch ein Fehler, dem Friedrich Vogel ehrlich entgegenzutreten, sie hätte sich besser dem Schlehen-Wodka und nicht der Vernunft anvertraut. Sie kompensierte Traurigkeit durch gewissenhafte Arbeit und Überstunden und hatte in dem Vierteljahr eine so geringe Stromrechnung, daß der Kassierer den Zähler überprüfen ließ. Dann setzte der Sommer ein. Die Hitze sprang sie im Werk, auf den Verkehrsmitteln, aus den Häusern scharf an, und sie konnte mehrmals am Tag kalt duschen, ohne das Gefühl loszuwerden, sie ginge in Pelzwerk einher. Eines Sonntags, die Fenster waren geöffnet, es herrschten 35 Grad, da lag Frau Schmalfuß auf der Couch unter dem Eisbrecher-Bild. Vor dem Haus arbeitete ein Rasensprenger und sollte die frischgepflanzten Büsche dem Vertrocknen entreißen. Er schleuderte den Strahl in die Luft, die Tropfen zerplatzten und prasselten, der Wasserwerfer drehte sich, quietschte und schmiß wieder die unzähligen Tropfen empor. Frau Schmalfuß sah im Halbschlaf die Pappelallee, sprang auf, schloß schnell das Fenster und lief aus dem Haus. Sie nahm die U-Bahn, um in die Stadt zu gelangen, saß da im Café, wieder fallendes Wasser, nun ein Springbrunnen, im Ohr, eilte zum Tierpark, hörte die Pfauen dort schrein, die warn wie verrückt. Sie hätte sich beinahe mit einem Kinderwagen von der Terrasse entfernt. Das Baby hatte sie angelacht, ihr die Fäustchen entgegengehalten und die Zehen gezeigt, zehn rosa Erbsen. Am Montag entschuldigte sie sich fernmündlich im Werk und suchte einen Arzt auf. Das war ein Frauenarzt. Ein alter Professor, der Zuversicht auf die Konsultanten übertrug und besessen war, viel Kindervolk auf die Welt loszulassen. Sie glaubte, wenn sie nach einer gründlichen Untersuchung erfahren haben würde, daß alles in Ordnung und sie gut in der Lage sei, ein Kind auszutragen und zu gebären, das Problem bald gelöst sei. Dann wären ja gut und gerne 85 Prozent aller Voraussetzungen, zu einem Kind zu kommen, erfüllt, das Übergewicht der einen Waagschale müßte zwangsläufig die andere mit den wenigen 15 Prozent zu ihren Gunsten hochschnellen lassen, und das mit solcher Wucht (Frau Schmalfuß sah förmlich die Schalen hüpfen, die leichtere sich überschlagen), daß die 15 Prozent aus ihrem Behältnis rausspringen und in die angefülltere Schale geschleudert würden. Im Wartezimmer sah sie die hübschen Frauen mit den geblähten Kleidern. Ach, mir wird schlecht! sagte eine, das fehlt mir noch! eine andere. Sie kam in das Sprechzimmer, barfuß, die Unterwäsche nach der Vorschrift in der Kabine reduziert, und sagte beim Händedruck: Guten Tag, ich möchte ein Kind. Der alte Herr freute sich, sah sie an und dachte sich eine Antwort. Er führte sie zu dem Sessel, in dem man auf dem Rücken sitzt, und untersuchte sie gewissenhaft. Dem steht nichts im Wege, sagte er, bemerkte die Topographie ihrer vier Schönheiten.

Erscheint lt. Verlag 14.8.2006
Verlagsort München
Sprache deutsch
Maße 135 x 215 mm
Gewicht 900 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Lyrik / Dramatik Lyrik / Gedichte
Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
ISBN-10 3-421-04221-7 / 3421042217
ISBN-13 978-3-421-04221-7 / 9783421042217
Zustand Neuware
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