Die weibliche Angst (eBook)
256 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86803-9 (ISBN)
Barbara Voigt ist Psychologische Psychotherapeutin, Gruppentherapeutin und Supervisorin. Sie arbeitet als Leitende Psychologin in der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Psychosomatik der Berliner Universitätsklinik Charité, u.a. mit den Themen Essstörungen, gynäkologische Erkrankungen und Notfallpsychologie.
Kapitel 1
Sind Frauen ängstliche Wesen?
Sie taucht in der Stille auf, wenn du allein bist oder mitten im Getümmel. Sie kommt, wenn du in der U-Bahn sitzt oder die Frage eines Kollegen beantworten sollst. Sie begleitet dich, wenn du Altes beschließt und Neues beginnst. Sie ist dir gewiss, wenn du sonst auf nichts und niemanden mehr zählen kannst. Sie ist das Einzige, was du überhaupt noch hast. Sie kontrolliert deinen Weg, selbst wenn du nicht mehr weißt, wohin dieser führt. Manchmal überrascht sie dich, obwohl du gerade eine gute Zeit hast.
Angst hat viele Gesichter. Sie gehört dem amerikanischen Psychologen Robert Plutchik zufolge zu den acht Grundemotionen des Menschen (Furcht, Ärger, Freude, Traurigkeit, Überraschung, Ekel, Erwartung, Akzeptanz)1 und äußert sich so variantenreich wie das Leben selbst. Angst kann sich toll anfühlen und der blanke Horror sein. Erinnerst du dich, wann du das letzte Mal Angst hattest? Vielleicht war das eine Situation, in der sie dich vor einer brenzligen Situation beschützt hat. Oder sie hat dich befeuert, einen schwierigen, aber wichtigen Schritt in deinem Leben zu gehen. Angst kann sich – so absurd das klingt – gut anfühlen, wenn sie angemessen auftritt. Sie kann uns beflügeln und manchmal sogar unser (Über-)Leben sichern. Oft sind unsere Erfahrungen mit Angst aber eher negativ. Dann ist die Sache schwieriger.
Unser Buch möchte einen umfassenden Blick auf Ängste werfen, seien es deine eigenen oder die deiner Mutter, Tochter oder Freundin. Es wird eine Perspektive vermitteln, die viele potenzielle Ursachen mit einschließt – und die Ängste als ein multifaktorielles Phänomen beschreibt. Angst hat nämlich viel weniger nur mit dir zu tun, als du vielleicht bisher gedacht hast. Dein persönliches Leben und Wohlbefinden hängt auch von deiner Familie, deiner beruflichen Situation und deiner körperlichen und mentalen Verfassung ab. Verantwortlich sind zudem gesellschaftliche, soziale, politische und globale Zustände, in denen wir leben. Vor allem für die weibliche Angst ist das ein Fakt, wie wir zeigen werden. Das Wissen um die konkreten Zusammenhänge, die auf Frauen mit Ängsten zutreffen, kann neuen Freiraum schaffen, um besser damit klarzukommen. Wir haben das Buch für alle Frauen geschrieben, die in ihrem Leben mit Ängsten zu tun haben – und die sich einen neuen Umgang mit diesem Gefühl wünschen.
Du fragst dich jetzt vielleicht trotzdem: Braucht es dazu wirklich ein ganzes Buch, in dem es nur um Angst von Frauen geht? Unterscheidet sich die Angst bei Männern und Frauen wirklich so stark? Unsere Antwort ist eindeutig ja – und wird für dich hoffentlich spätestens dann nachvollziehbar, wenn du einen Blick auf die Zahlen wirfst: Weltweit sind Angststörungen die häufigste psychische Erkrankung. Allein in Deutschland sind rund zehn Millionen Menschen betroffen, das sind 15 von hundert Menschen.2 Zum Vergleich: An Depression erkranken im Schnitt acht von hundert. Das ist für sich gesehen schon erstaunlich. Auf jeden betroffenen Mann mit Ängsten kommen allerdings zwei Frauen. Frauen ängstigen sich also doppelt so häufig – und das von der Pubertät an bis ins Alter.3 Bei Frauen sind Angststörungen zudem häufiger Vorboten von depressiven Episoden und sie treten oft zusammen mit Depressionen und Essstörungen auf. Frauen erleben auch heftigere Beschwerden bei Ängsten und leiden auch länger darunter als Männer.4 Bei Mädchen und jungen Frauen gehen Angststörungen häufiger mit vermehrtem Grübeln einher – und das mündet öfter im Suizidversuch.5 Kein Wunder, dass Frauen deutlich häufiger wegen psychischer Erkrankungen krankgeschrieben sind: Im Vergleich zu Männern haben sie 67 Prozent mehr Fehltage und sie nehmen auch deutlich häufiger Psychopharmaka.6
Wir, die Psychologin und Psychotherapeutin Barbara Voigt und die Ärztin, Wissenschaftsjournalistin und Autorin Beate Wagner, haben uns gefragt, wie all das sein kann. Als Expertinnen und Frauen wollten wir die Hintergründe besser verstehen und haben uns auf die Suche nach den Ursachen gemacht. Auf unserem Weg haben wir selbst viel gelernt und viele interessante Fakten gefunden. Die bisherige Forschung hat mittlerweile einige Gründe für die Geschlechterdifferenzen bei Ängsten aufgedeckt, aber längst noch nicht alle. In diesem Buch beschreiben wir die wichtigsten Erfahrungen betroffener Frauen und Mädchen mit Ängsten und erläutern die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Ursachen, Symptomen, Selbsthilfe und Therapien.
Im Folgenden erhältst du einen kurzen Überblick, alle konkreten Details erfährst du in den einzelnen Kapiteln.
Weibliche Angst – ein Mix aus vielen Faktoren
Wie kann es sein, dass Ängste so ungleich verteilt sind und doppelt so viele Frauen wie Männer damit leben? Die geschlechtsspezifischen Unterschiede sind komplex und überall im weiblichen Organismus zu finden. Bisher konnten zum Beispiel nur bei Frauen, nicht aber bei Männern, Risikogene für eine Panikstörung nachgewiesen werden.7 Forscher:innen kennen zudem hormonelle, immunologische und strukturelle Unterschiede in bestimmten Hirnregionen, die dazu beitragen, dass Frauen mehr zu Ängsten neigen als Männer. Bei Frauen wird beispielsweise durch verschiedene Reize stärker die rechte Gehirnhälfte aktiviert – die für die Verarbeitung von Gefahren und die Vermittlung von Angst zuständig ist. Auch die Emotionsregulation ist geschlechtsabhängig, das wissen Forscher:innen heute. Frauen verarbeiten Stress und emotionale Ereignisse anders – sie machen sich beispielsweise bei demselben Anlass mehr Sorgen als Männer.
Viele Wissenschaftler:innen gehen zudem davon aus, dass vor allem die Geschlechtshormone erheblich dazu beitragen, dass Frauen eher ängstlich sind. Geschlechtshormone sind ein wichtiger – wenn auch nicht der alleinige – Grund, dass etwa ab dem zwölften Lebensjahr doppelt so viele Mädchen und Frauen Ängste und Angststörungen entwickeln wie Männer. Auf hormoneller Ebene wird die weibliche Angst vor allem von den Geschlechtshormonen Östrogen, Progesteron und dem Neurobotenstoff Serotonin beeinflusst. Alle diese Substanzen liegen bei Frauen in anderen Konzentrationen vor als beim Mann. Das weibliche Geschlechtshormon Östrogen regelt nicht nur die Fortpflanzung, sondern die hochpotente biochemische Substanz mischt auch im Stoffwechsel mit, reguliert die Energieproduktion und ist bei Frauen stark neuroaktiv. Östrogen aktiviert im Gehirn Regionen, die für die Stimmungslage, die Emotionsregulation, das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit und Planungen zuständig sind. Das Verhältnis von Östrogen und Testosteron beeinflusst überdies Fürsorgeverhalten und expressives Verhalten – was erklärt, warum sich Frauen mehr um andere Menschen (und ihren Nachwuchs) sorgen als beispielsweise Männer. Testosteron wirkt zudem angstlösend.
Auch physiologische Differenzen zwischen Frauen und Männern begünstigen die Entstehung weiblicher Angst. Frauen sind vulnerabler, also verletzlicher für psychische Erkrankungen. Sie werden älter als Männer, treiben weniger Sport, kommunizieren zwar besser, sind aber dennoch häufiger sozial isoliert, und sie gebären Kinder – alles Risikofaktoren für psychische Erkrankungen.8 Begleitende körperliche Beschwerden wie Herzklopfen oder Schwindelgefühle nehmen sie oft als extrem intensiv wahr.9 Mädchen fühlen sich durch Stress emotional stärker belastet und neigen dazu, Ängste häufiger und intensiver als Jungen zu empfinden. Unklare Reize interpretieren sie eher als bedrohlich.10 Zudem beeinflussen sich Angst und Stress auch gegenseitig. Das heißt, wenn sich Frauen zum Beispiel in einer sozial stressigen Konkurrenzsituation befinden, werden sie schneller als Männer ängstlich und fühlen sich unsicherer.11
Und wie gehen Frauen damit um, wenn die Ängste erst einmal da sind? Viele Frauen wählen andere...
Erscheint lt. Verlag | 9.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
ISBN-10 | 3-407-86803-0 / 3407868030 |
ISBN-13 | 978-3-407-86803-9 / 9783407868039 |
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